Was ist eine Verschwörungstheorie und wann ist ein Verschwörungsverdacht glaubwürdig?

Eine Diskussion mit Thomas Grüter über Verschwörungstheorien und reale Verschwörungen

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Der Mediziner und Sachbuchautor Thomas Grüter beschäftigt sich seit Jahren mit dem Phänomen Verschwörungstheorien. In zahlreichen Medienbeiträgen und in diversen Buchveröffentlichungen hat Grüter sich zu Wort gemeldet, um über das Wesen von Verschwörungstheorien aufzuklären. Gegenüber Telepolis sagte Grüter, seine Hauptmotivation, die dazu geführt habe, sich mit dem Thema Verschwörungstheorien zu beschäftigen, sei es gewesen, dass er selbst immer wieder in seinem Alltag, durch den Kontakt zu anderen Menschen, mit Verschwörungstheorien und dem Glauben an solche konfrontiert worden ist.

In einer Diskussion mit Telepolis stellt sich der Autor etwa den Fragen, wie er eine Verschwörungstheorie definiert und ob die von ihm veranschlagte Definiton ausreicht, um das Phänomen zu erfassen. Er bezieht auch Stellung zur Diskussion um die Terroranschläge des 11. Septembers und die Frage, ob Nine Eleven auch ein Akt von Staatsterror gewesen sein könnte.

Grüter, so wird deutlich, betrachtet Verschwörungstheorien mit Skepsis, warnt aber zugleich vor einer Psychiatrisierung derjenigen, die eine Verschwörungstheorie vertreten, wie es mitunter in den Medien durch Journalisten vorgenommen wird. Grüter sagt, dass es für ihn als Mediziner "etwas ärgerlich" sei, "wenn Leute, die selbst gar keine Mediziner sind und sich nie mit Geisteskrankheiten beschäftigt haben, bei anderen per Ferndiagnose Geisteskrankheiten diagnostizieren."

Sie setzen sich seit langem mit Verschwörungstheorien auseinander. Wie definieren Sie eine Verschwörungstheorie?

Thomas Grüter: Bei manchen Definitionen von Verschwörungstheorien wird praktisch jeder Verdacht, dass eine Gruppe sich heimlich und verbrecherisch oder auch nur unmoralisch betätigt, schon als eine Verschwörungstheorie gewertet. Ich fasse den Begriff Verschwörungstheorie etwas enger. Eine Theorie impliziert immer, dass es bereits ein gewisses Maß an "Ausarbeitung" gibt. Häufig ist die Grundlage für eine Verschwörungstheorie der Verdacht gegenüber einer als feindlich oder böse empfundenen Gruppe. Ich bezeichne dies als Verschwörungsglaube. Der Verdacht manifestiert sich dann in Ereignissen, die als Bestätigung des Glaubens gewertet werden. Daraus entsteht dann eine genauere Ausarbeitung des Verdachts, eben eine eine Verschwörungstheorie.

Haben Sie ein Beispiel?

Thomas Grüter: Da gibt es viele. Im Mittelalter wurden die Juden regelmäßig beschuldigt, Brunnen zu vergiften und damit Epidemien auszulösen. Die angeblichen Täter wurden so lange gefoltert, bis sie die Tat tatsächlich gestanden haben. Der Verdacht war somit "bestätigt". Und dann sind manche noch ein paar Schritte weitergegangen und haben aus diesem nun scheinbar bestätigten Verdacht eine umfassende Erzählung, eine Verschwörungstheorie, ausgearbeitet. Zum Beispiel wäre eine dieser Theorien, dass Juden generell Brunnen vergiften, um die Weltherrschaft zu übernehmen. Schließlich werden dann diverse "Hinweise", die auf diese Verschwörung deuten, zusammengewürfelt und irgendwann hat man eine ausgereifte Verschwörungstheorie, die mit der Realität allerdings nichts zu tun hat.

Vom Verschwörungsverdacht zur Verschwörungstheorie

Wird diese Definition dem Phänomen Verschwörungstheorien gerecht? Sie beschreibt Verschwörungstheorien als fern jeder Wirklichkeit und beschreibt sie sehr negativ.

Thomas Grüter: Nein, das sehe ich nicht so. Verschwörungstheorien sind nicht grundsätzlich negativ konnotiert, sondern sie beruhen auf dem Phänomen, dass die eigene Gruppe grundsätzlich positiver bewertet wird als eine andere Gruppe, der man "Feindliches" zutraut.

Mit Ihrer Definition erfassen Sie also einen gruppenpsychologischen Aspekt. Ihre Definition kann man im Bereich der Sozialpsychologie verorten. Verlagern wir doch mal die Perspektive.

Nehmen wir den Fall Uwe Barschel. Der ehemalige Chef-Ermittler in dem Fall hält nach jahrelanger Ermittlungsarbeit die Möglichkeit, dass Barschel Opfer eines Mordes wurde, für am wahrscheinlichsten. Wenn Barschel ermordet worden sein sollte, liegt es nahe, dass man aufgrund der Umstände, die den Fall umgeben, von einer Verschwörung ausgehen kann. Wenn der Chef-Ermittler nun sagt, dass er Mord für wahrscheinlich hält, also durchaus auch eine Verschwörung in Betracht zieht, dann geht es ihm ja nicht darum, irgendeine Gruppe in Verruf zu bringen, also z.B. die Gruppen, die in dem Fall immer mal wieder als Verdächtige angeführt werden: Mossad, CIA, STASI usw., sondern er will schlicht ein Verbrechen aufklären.

Thomas Grüter: Sicher, in dem Fall übt der Ermittler nur seinen Beruf aus und verhält sich professionell. Ihm geht es nicht darum, eine Gruppe in Verruf zu bringen, sondern er ermittelt, hoffentlich, vorurteilsfrei und zieht dann seine Schlüsse.

Wenn ein Mediennutzer von der Berurteilung des Chef-Ermittlers hört und sich vielleicht selbst mit dem Fall Barschel im Rahmen seiner Möglichkeiten beschäftigt, um dann für sich davon auszugehen, dass Barschel Opfer einer Verschwörung wurde, hängt er ja auch einer Verschwörungstheorie an - jedoch ohne einer Gruppe schaden zu wollen. Wie bewerten Sie eine solche Verschwörungstheorie?

Thomas Grüter: Das wäre keine Verschwörungstheorie, sondern der Verdacht einer Mordverschwörung. Eine Verschwörungstheorie würde, ausgehend von der Beurteilung der verdächtigten Gruppe, Mutmaßungen über das Motiv und weitere Taten einschließen.

Was die Bewertung betrifft: Sie wissen, dass ich Arzt bin. Als Arzt habe ich gelernt, meine Mitmenschen nicht zu verurteilen. Als Arzt kann ich kein Vertrauensverhältnis aufbauen, wenn ich meine Patienten verurteile. Wenn jemand, wie in Ihrem Beispiel, also glaubt, dass Barschel Opfer einer Verschwörung wurde und das entsprechend stichhaltig begründet, dann hat er auch einen Verschwörungsverdacht, aber dagegen spricht nichts. Viele Menschen hegen einen Verschwörungsverdacht, aber nur relativ wenige arbeiten ihn zu einer Verschwörungstheorie aus, oder glauben fest an eine von anderen ausgearbeitete Theorie.

Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, sind meist nicht im medizinischen Sinne krank

Das Problem scheint mir aber, dass vor allem in den Medien Menschen, die an eine Verschwörungstheorie glauben, psychiatrisiert werden. In Ihren Arbeiten klingt diese klinische Beurteilung auch mit an.

Thomas Grüter: Nein, ich habe praktisch in allen Veröffentlichungen darauf hingewiesen, dass ein grundsätzlicher Verschwörungsglaube, also der Glaube, dass andere sich verschwören, eben nicht darauf hinweist, dass ein Mensch im medizinischen Sinne geisteskrank ist, sondern umgekehrt: Es gibt bestimmte Geisteskrankheiten, die mit einem Verschwörungsglauben einhergehen. Denken Sie nur an einen Wahn. Ein Wahn ist eine inhaltliche Denkstörung. Der erkrankte Patient hält unbeirrt aller Realität an seiner (wahnhaften) Wirklichkeit fest. Eine verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit tritt auch bei der Schizophrenie auf.

… also einer tatsächlichen Krankheit.

Thomas Grüter: Genau. Eine Krankheit, die man als eine formale Denkstörung bezeichnen kann, da bereits der Prozess des Denkens an sich gestört ist. Diese Krankheiten sind aber viel seltener, als der Glaube an eine Verschwörungstheorie. Und aus dieser Feststellung kann man ableiten, dass die Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben oder gar sie erfinden, meist nicht im medizinischen Sinne krank sind.

Dennoch sind Psychiatrisierungsversuche im Umgang mit Verschwörungstheorien weit verbreitet.

Thomas Grüter: Für mich als Mediziner ist das etwas ärgerlich, wenn Leute, die selbst gar keine Mediziner sind und sich nie mit Geisteskrankheiten beschäftigt haben, bei anderen per Ferndiagnose Geisteskrankheiten diagnostizieren.

Journalisten scheinen hier aber keine Berührungsängste zu haben. Ich erinnere nur an den Zeit-Artikel, der sich mit den 9/11-Skeptikern auseinandergesetzt hat und in dem bereits die Überschrift "Ein Wahn stützt den Anderen" den klinischen Moment in die Diskussion mit hinein bringt. Journalisten als Hobbymediziner? Kann das gut gehen?

Thomas Grüter: So würde sich ein Mediziner nicht verhalten. Sie müssen bedenken: Wahnideen sind für einen Arzt nicht so einfach festzustellen. Ein Beispiel: Wenn Sie einen Patienten haben, der behauptet, seine geschiedene Frau mache ständig gegen ihn Stimmung und er habe schon mehrere Male den Arbeitsplatz wechseln müssen, dann kann das eine Wahnidee sein, aber eben auch nicht. Seine Anschuldigung ist plausibel genug, um wahr zu sein. Dennoch muss sie nicht zwingend eine reale Grundlage haben.

Höre ich da einen Appell raus, Psychiatrisierungsversuche im Umgang mit Verschwörungstheorien zu unterlassen.

Thomas Grüter: Das sollte man unterlassen. Dennoch muss man sich bewusst darüber sein, dass sich Verschwörungstheorien auch ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit über einen sehr langen Zeitraum halten können. Ich verweise nur auf die Ritualmordtheorie. Diese hat sich über 800 Jahre gehalten, ohne auch nur den entferntesten Bezug zur Wirklichkeit zu haben.

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