Sprachen im Schrumpfungsprozess

Ein Interview mit dem Literaturwissenschaftler Bernd Hüppauf über "Sprachterror" und die ungenutzten Chancen der deutschen Sprache

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Als 1989 in Deutschland die Mauer fiel, wurden auch Linguisten und Literaturwissenschaftler alarmiert. Denn die neue Grenzenlosigkeit stellte nicht zuletzt das geo-kulturelle Gleichgewicht der Sprachen auf einen neuen Boden. Drängede Fragen ergaben sich aus der neuen Situation nicht zuletzt für das Deutsche, das neuerdings als Exportschlager im ehemaligen Ostblock vermarktet wurde, das gleichzeitig aber auch in eine Identitätskrise geriet. Der in New York als Literaturprofessor tätige Bernd Hüppauf zählte zu den Initiatoren einer kritischen Auseinandersetzung mit der Globalisierung und gehört zu den einflussreichsten Intellektuellen, die mit dem Vorhaben beschäftigt sind, die deutsche Sprache ins Blickfeld der Globalisierungsdebatte zu rücken.

Die gegenwärtige Globalisierungsphase zeichnet sich in erster Linie durch Beschleunigung aus - auf der Ebene der Kommunikation, der Kapitalzirkulation, geopolitischer Umwälzungen etc. Gibt es zu diesem Befund ein Äquivalent im Bereich der Sprachen?

Bernd Hüppauf: Sprache lässt sich nicht am Maßstab von Zeit und Geschwindigkeit verstehen. Sie ist, vor allem in Schriftkulturen, ein Element gesellschaftlicher Stabilität und sorgt für Kontinuität. Kollektive und individuelle Identitäten sind auf diese Stabilität angewiesen. Aber die Zeit geht an Sprachen nicht vorbei. Sie wandeln sich, und dafür brauchen sie Zeit.

Gegenwärtig kann man in mancher Hinsicht von einer Beschleunigung solchen Wandels sprechen. So gibt es offenbar eine Beschleunigung des Sprachensterbens. Es gibt Berichte, dass in Australien, Lateinamerika und einigen Regionen Asiens mit verschwindenden kleinen ethnischen Gruppen gegenwärtig Sprachen mit einer nicht bekannten Geschwindigkeit ‚sterben’. Aber es ist zweifelhaft, dass es einen direkten Zusammenhang dieses Sterbens mit der Globalisierung gibt. Die Gleichzeitigkeit dürfte eine bloße Koinzidenz sein. Eine Beschleunigung des Sprachenwandels in den großen Kultursprachen, das Deutsche eingeschlossen, ist dagegen offensichtlich die Folge der Globalisierung und einer durch sie ausgelösten Beschleunigung der Lebensverläufe. Sprachen waren nie statisch, sondern haben im interkulturellen Austausch stets Elemente anderer Sprachen aufgenommen, am leichtesten in der Semantik. Nun setzt die Globalisierung die Sprachen unter einen zunehmenden Anpassungsdruck.

Wir wissen nichts über die Zeit, die etwa die Sprache von Kolonisatoren in der Antike oder im 18./19 Jahrhundert brauchte, um die Sprache der Kolonisierten zu erfassen. Es ist wohl so, dass in der Gegenwart die weltweite Bedeutung des Amerikanischen zu schnellen Veränderungen der meisten Sprachen führt, ohne dass, denke ich, ein Wort wie ‚kulturelle Kolonisation’ diese Entwicklung trifft. Zweifellos ist, dass viele Menschen eine solche „von außen“ kommende Beschleunigung des Sprachwandels spüren, das verstörende Gefühl entwickeln, nicht mithalten zu können und etwas Eigenes und Inneres zu verlieren. Über die möglichen Folgen für die betroffenen Sprachgemeinschaften und ihre Sprecher kann man nur spekulieren.

Was wir aus Befragungen und anderen Quellen wissen, deutet darauf hin, dass dieser Sprachwandel von vielen als Hilflosigkeit und die neue Geschwindigkeit als Bedrohung empfunden werden. Aus dem beschleunigten Sprachwandel leitet sich der Eindruck ab, das Tempo der Lebenswelt sei zu hoch, könne aber durch eigenes Handeln nicht gesenkt werden. Mir scheint jedoch, dass die Jugendkultur mit dieser Geschwindigkeit gut zurechtkommt und aus dem raschen Wandel Selbstbestätigung und Vergnügen bezieht. Das Vergnügen korrespondiert mit dem am raschen Tempo der Innovationen auf dem Markt für Elektronik und Kommunikationstechnologie. Hier bieten sich neue Möglichkeiten der Abgrenzung von der Generation der Eltern und der Pflege eines Selbstbildes aus dem Geist der neuen Technologien sowie von Geschwindigkeit und ihrer beständigen Steigerung.

Die Bedeutung des symbolischen Kapitals und der Sprachen nimmt zu

Wissenschaftler wie Jeff Lewis in „Language wars“ stellen Sprache als zentralen Schauplatz gegenwärtiger Krisen und Entwicklungen dar - inwieweit sind Sie bereit sich solchen Diagnosen anzuschließen?

Bernd Hüppauf: In den Beschreibungen der Lage lässt sich eine Rhetorik der Dramatisierung erkennen. Sie borgt gern bei der Semantik in der Nachfolge von Samuel Huntington und spricht vom „cultural clash“, vom „clash of civilizations“ und steigert sich auch zum „Krieg“. „Krieg“ ist dann eine Metapher, ähnlich wie der „Krieg der Geschlechter“. In dieser Rede steckt viel medienkonformes, rhetorisches Spiel und das Haschen nach Aufmerksamkeit. Richtet man die Aufmerksamkeit auf die andere Dimension dieser Rede, enthüllt sie jedoch eine wichtige Einsicht. In den internationalen Beziehungen verlieren Felder der Konkurrenz unter Nationen wie industrielle Produktion oder die Größe von Armeen und Waffenarsenalen an Bedeutung. Internationale Korporationen und andere Institutionen der Globalisierung sowie die elektronische Revolution machen diese traditionellen Felder nationaler Rivalität zunehmend obsolet. Der Kampf um Rohstoffe (sieht man vom Erdöl ab, und dessen anhaltende Bedeutung ist eine Frage von Zeit) ist eine Frage der Börsen und nicht der Armeen. Diese Verschiebungen geschehen ohne Waffengewalt. Gleichzeitig wächst die Bedeutung des symbolischen Kapitals und der Sprachen.

Die Beobachtung ist sicher zutreffend, dass Sprache und die symbolischen Systeme von Kultur die traditionellen Kriege um Macht und Einfluss ablösen. Damit rücken Kriege und die Rede vom Krieg zunächst in weite Ferne. Diese Ablösung rettet Leben. Darin lässt sich zweifelsohne ein Fortschritt sehen. Aber ihre subtilen Wirkungen sind für das Selbstwertgefühl und für nationale und individuelle Identitäten folgenreich. Diese Wirkungen sind weniger offensichtlich aber womöglich langfristig verletzender als die der traditionellen Machtkämpfe. Identität ist unlösbar mit dem Wunsch nach einer eigenen Sprache verknüpft, und deren Bedrohung löst Angst vor einer kaum verstandenen Demütigung aus. Es ist denkbar, dass sie zu Reaktionen beitragen kann, die nicht weniger destruktiv sind als Kriege. Die Empfindung, einem Sprachterror ausgesetzt zu sein – ob berechtigt oder nicht, wer wollte das entscheiden? –, kann nicht nur die Empfindung von Hilflosigkeit auslösen, sondern auch die Bereitschaft fördern, Terror als ein Mittel der Selbstverteidigung akzeptabel zu machen.

Welchen Zusammenhang sehen Sie als Literaturwissenschaftler zwischen Sprache und Geopolitik?

Bernd Hüppauf: Wenn mit dem Wort Geopolitik geplante und von Regierungen durchgesetzte internationale Politik gemeint ist, sehe ich keinen Zusammenhang. Gewiss: Regierungen in Washington und London setzen ihre politische und ökonomische Macht ein, um das Englische weltweit durchzusetzen. Die inoffizielle Sprachpolitik der USA und die Machtkämpfe in der EU liefern dafür ungute Beispiele. Aber politischer Druck reicht in dieser Frage nicht weit. Andere Faktoren sind mächtiger. Ich will ein Beispiel herausgreifen. In Paris wurde am 6.12.2006 ein neuer Sender, „France 24“, eingerichtet und mit großer Öffentlichkeitsarbeit feierlich vorgestellt. Er hat die Aufgabe auf Französisch (und auf English, demnächst wohl auch Arabisch) die französische Sicht der Weltpolitik international zu verbreiten. Der Sender wurde von Präsident Jacques Chirac und der französischen Regierung gefordert und finanziell gestützt.

Das internationale Monopol der englischsprachigen Fernsehkanäle CNN und BBC, der Nachrichtensprache und der englisch-amerikanischen Sichtweise soll angegriffen werden. Die Francophonie soll die globale angelsächsische Hegemonie brechen. Es war von einer „Schlacht der Sprachen und Bilder“ die Rede. Es ist aber offensichtlich, dass die Zukunft des Senders nicht von der Politik abhängt, sondern von Einschaltquoten und vom kommerziellen Erfolg. Nationale Regierungen können anregen und stützen, mehr nicht. Sie haben nicht einmal mehr die finanziellen Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, und die 80 Millionen Euro Startkapital sind mager im Vergleich zu den Summen der privat betriebenen Kanäle in den USA, so dass sich der Sender viele Reporter mit der Agence France Press und anderen Stationen (France 2) teilen muss.

In diesem Bereich hat die Politik keine Macht und keine Entscheidungskompetenz. Internationale Mediengiganten bestimmen das Spiel, und nationale Regierungen sind weitgehend zur Passivität verurteilt. Wir beobachten weniger eine gezielte Geopolitik als anonyme Strukturen und Interessen, die zu Gunsten des Englischen ausfallen. Es wird – ob zurecht oder nicht, ist irrelevant – in vielen Ländern mit ökokomischem Erfolg, Modernität, Wachstum und Befreiung identifiziert. Aus dieser Wahrnehmung entsteht eine Dynamik, die stärker wirkt als jede Politik einer Regierung. Literatur ist noch viel weniger als Nachrichten geeignet, von der Politik als geopolitisches Instrument eingesetzt zu werden. Die Aufgaben der staatlich finanzierten Kulturinstitute, des Goethe-Instituts, des DAAD, der Alliance francaise, der Stiftung Pro Helvetia usw., liegen anderswo und sind unter dem Gesichtspunkt von Geopolitik völlig missverstanden – ein unter Politikern allerdings verbreitetes Missverständnis.

Die Kraft des Englischen liegt unter anderem in seiner Flexibilität und Anpassungsfähigkeit

Man spricht im Zusammenhang mit der Globalisierung eigentlich immer nur vom Sterben – bringt die Globalisierung vielleicht auch eine neue Sprache hervor?

Bernd Hüppauf: Englisch als Kommunikations- und Fachsprache in Bereichen wie Tourismus, Finanzen und Ökonomie oder Elektronik und Technologie nimmt global eine einzigartige Position ein, der keine andere Sprache Konkurrenz macht. Es ist aussichtslos, an dieser Position zu zweifeln oder sie bekämpfen zu wollen. Das führt aber keineswegs – wie oft zu hören ist – zum Absterben anderer Sprachen, weder der außereuropäischen noch der anderen europäischen Kultursprachen. Geht man von der unangefochtenen Position des Englischen aus, ohne sich von Emotionen den Blick trüben zu lassen, kann man durchaus beobachten, wie Globalisierung kreativ auf Sprachen wirken kann – auch auf das Englische, das nicht mit der Schrumpfsprache von Piloten, Ökonomen oder Touristen gleichgesetzt werden darf.

Die Kraft des Englischen liegt unter anderem in seiner Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, die es unter den Bedingungen der Globalisierung erneut unter Beweis stellt, wie etwa die gesprochenen Sprachen und die Literaturen in Indien, Australien oder Afrika demonstrieren. Nach einem ähnlichen Muster ändern sich gegenwärtig auch Sprachen wie das Deutsche. Sie sind nicht nur dem Druck der Anglizismen ausgesetzt, sondern die internationalen Migrationsströme haben Wirkungen, die nicht durch Hegemonialverhältnisse oder gar Untergangsszenarien zu erklären sind. Sprachen wie das Deutsche haben sich stets durch Kulturkontakt und die Fähigkeit zu Mischungen lebendig erhalten. Was wären die europäischen Sprachen ohne ihre wechselseitigen Beeinflussungen? Was wäre das Deutsche ohne die Übernahmen aus Latein, Griechisch, Französisch, English, Hebräisch, Italienisch und anderen Sprachen, die für kommerziellen oder kulturellen Austausch nötig waren? Der Reichtum europäischer Sprachen ist das Erbe ihrer Aufnahme- und Wandlungsfähigkeit.

Es ist schwer zu verstehen, dass die substantielle Minderheit von Türken nicht dazu führt, dass mehr Deutsche Türkisch lernen und auf diese Weise einen Kontakt herstellen und Austausch fördern. Es ist aber symptomatisch für die Produktivkraft der Globalisierung, dass sich in Deutschland eine Sprache entwickelt, in der die Mehrheitssprache mit Elementen einer Minderheitssprache fusioniert. Das ist bisher eine Sprache der Marginalität, einer Subkultur, von Jugendlichen, die sich in Literatur und im Kino verbreitet, nicht nur im Experimentalfilm, sondern auch im Fernsehspiel und in kommerziellen Filmen wie „Gegen die Wand“.

Nicht das hirnlose Kauderwelsch aus Englisch und Deutsch, das etwa die Deutsche Bahn und andere Unternehmen benutzen, sollte als das Produkt der Globalisierung angesehen werden. Aus ihm spricht nichts Neues, sondern die bekannte alte Profitgier, die das löcherige Mäntelchen eines Dummenjargons als das Gewand von Fortschritt und Dynamik ausgibt, um Konsumenten anzumachen. Die Chance, die das Deutsche hat, sich im globalisierten Kulturkontakt zu erneuern und den Geist einer neuen Zeit in sich aufzunehmen, bietet die gesprochene Sprache der gelebten Welt. Diese Chance verdient größere Aufmerksamkeit als das Jammern über den angeblich bevorstehenden Tod des Deutschen. Die Reaktion auf die Herausforderung wird die Zukunft des Deutschen wesentlich bestimmen.

Krystian Woznicki war im zweiten Halbjahr 2006 mit einem internationalen Dialogprojekt zur Globalisierung der deutschen Sprache beschäftigt: McDeutsch. Im Kulturverlag Kadmos ist dazu die gleichnamige Publikation erschienen.