Wie Photonen aus der Zukunft die Vergangenheit beeinflussen

Physiker haben ein Gedanken-Experiment umgesetzt, das zeigt, dass Photonen Entscheidungen auch rückwärts in der Zeit treffen können - jedenfalls in klassischer Interpretation

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wenn Physiker mit Drachen spielen, brauchen sie dazu manchmal auch einen Keller. Vincent Jaques und E Wu jedenfalls suchten sich einen langen Gang im Untergeschoss ihrer Ecole Normale Supérieure im französischen Cachan, um ein berühmtes Gedankenspiel im Rahmen eines Experiments zu überprüfen. Es ging ihnen um den "großen verräucherten Drachen", den der Niels-Bohr-Schüler John Archibald Wheeler erfunden hat. Der US-Physiker, der unter anderem den Schwarzen Löchern ihren Namen gab und sie, wie fies, mit dem mittlerweile wohl widerlegten "No hair theorem" (auch "Glatzensatz") belegte, hatte sich in einem Gedankenexperiment gefragt, wann sich Photonen wohl für eine bestimmte Daseinsform entscheiden.

Dass das "delayed-choice experiment" genau so genannt wurde, sagt schon etwas über sein Ergebnis. Das Experiment beruht auf der klassischen Doppelschlitz-Versuchsanordnung, welche die Welle-Teilchen-Dualität des Photons zeigen soll. Einem von einer Einzelphotonenquelle ausgestrahlten Lichtquant stehen in einer Anordnung aus zwei Strahlteilern und zwei Spiegeln genau zwei Wege zur Verfügung, wie es den zweiten Strahlteiler erreicht.

In der einfachsten Form dieses Experiments zeigen sich die Welleneigenschaften des Photons: An welchem Detektor es schließlich gemessen wird, lässt sich mit einer Wellenfunktion beschreiben. Bringt man nun in beide Strahlengänge Detektoren ein, lässt diese Änderung die Wellenfunktion kollabieren. Sobald das Photon auf Weg A detektiert wurde, verhält es sich ab sofort brav als Teilchen und trifft auch am Ende des Weges auf Detektor A auf. Wheelers Idee gibt diesem Versuch noch einen verrückten Dreh, der die Physiker lange über Sinn und Unsinn der Quantenmechanik nachdenken ließ.

Wenn man nun, schlug Wheeler 1978 vor, die Detektoren in den beiden Strahlwegen entfernte, NACHDEM sich das Photon auf die Reise begeben und sich für einen bestimmten Weg entschieden hatte? Diese "verspätete Wahl" des Beobachters muss unmittelbare Auswirkungen auf den Charakter des Lichtquants haben: Nachdem es sich klassisch schon dafür entschieden hatte, Teilchen zu sein, müsste es nun diese Entscheidung wieder rückgängig machen - was mit der Quantenphysik nicht vereinbar ist, da die Wellenfunktion bereits kollabiert ist. Das Photon kann sich nur darin retten, seine in der Vergangenheit liegende Entscheidung aufzuheben.

Anders ausgedrückt: Dem Experimentator gelingt es, ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis nachträglich zu ändern. Haben wir also tatsächlich Einfluss auf die Vergangenheit? Wohl eher nicht - vielmehr müssen wir unsere simplizistischen Vorstellungen ändern, was die Welle-Teilchen-Dualität betrifft. Wheeler beschrieb das Photon denn auch gern wolkig als "großen verräucherten Drachen": nur Schwanz und Kopf des Drachens sind gut auszumachen. Dass der Drachenschwanz in der Photonenquelle steckt, ist ebenso klar wie das Zubeißen des Drachenmauls im Detektor am Ende des Weges. Dazwischen ist nur Rauch.

Wheelers Gedankenexperiment ist nicht ganz trivial in die Realität umzusetzen, weil man ziemlich flott sein muss, dem mit Lichtgeschwindigkeit reisenden Photon den ersten Detektor zu entziehen. So gab es denn bisher auch keine wortgetreue Umsetzung des Experiments (wohl aber äquivalente Umsetzungen).

Das französische Forscherteam wählte genau deswegen sonst für den Sperrmüll vorgesehene Kellergänge für seinen Versuchsaufbau - so konnten die Wissenschaftler problemlos 50 Meter lange Plastikrohre verlegen, die den Strahlengang umschließen. In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science beschreiben sie ihren Versuchsaufbau.

Ein Zufallsgenerator bestimmt wenige Nanosekunden, nachdem das Photon den ersten Strahlteiler passiert hat, ob der zweite Teiler im System bleibt oder nicht. Tatsächlich demonstriert auch das französische Experiment, wie seltsam sich die Natur bisweilen verhält - zumindest auf Quantenebene. Denn der Ausgang des Versuchs zeigt, dass die Lichtteilchen sich stets dem finalen Versuchsaufbau entsprechend verhalten - obwohl sie den noch gar nicht kannten, als sie in der Realität ihre diesbezügliche Entscheidung treffen mussten.