Gummikugeln gegen Demonstranten?

Die Verhältnismäßigkeit der Mittel: Ein Überblick über 30 Jahre Gummigeschosse

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Selten ist an Härte zu überbieten, was die gesellschaftliche Mitte fordert. Der Sprecher der Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, hat – unter Berufung auf nachweislich frisierte Verletztenzahlen – extreme Gedanken entfesselt mit seiner Förderung nach „härterer Gangart“ und dem Einsatz von Gummigeschossen.

Nach knapp einer Woche G8-Gipfel wimmeln die Leserbriefseiten deutscher Tageszeitungen von Meinungen im Verlautbarungsstil der Schill-Nachfolgepartei „Bürger in Wut“. Uwe Schollman aus Bremen beispielsweise fordert im Weser-Kurier den Einsatz der GSG 9 und Hundestaffeln gegen Chaoten, dann „rennen die tapferen Kämpfer vom schwarzen Block wie die Hasen“.

Wie man weiß, ist Wut die schlechteste Voraussetzung für besonnenes Verhalten, denn sie schaltet temporär das Denken aus. In Wut vergisst man, über die Folgen des eigenen Handelns nachzudenken. Wer sich nicht besinnt und Frieden mit Andersartigen, Andersdenkenden schließt, ist im klassischen Wortsinn asozial: Er handelt gegen die Gesellschaft und radikalisiert sie durch unnötige Polarisierung.

Was die Schollmänner vielleicht nicht wissen: Hunde und GSG 9 sind längst im Einsatz gegen das personifizierte Chaos. An jedem Fußball-Wochenende in den Zügen der Deutschen Bahn werden Hooligans von Polizisten mit Taser-Elektroschockwaffen begeleitet. Am G8-Zaun-Kontrollpunkt hinter Kühlungsborn wurden am Donnerstag, 7. Juni, Hunde gegen Demonstranten eingesetzt.

Doch was ändert, was verbessert der Einsatz „härterer“ Technologie? Ein Überblick über 30 Jahre Gummigeschosse versucht eine Antwort auf die Frage nach den Deeskalationspotentialen von so genannten „nicht-tödlichen Waffen“.

Während im Winter 2006 die Konflikte in den „Städten der Verbannten“, den französischen Banlieues aufflammten, sendete der französische Jagdwaffenhersteller Verney-Carron ein Sonderangebot an die Polizei: ihr Produkt „Flash-Ball“ sei die ideale sanfte Waffe für diese harten Zeiten. Wer jetzt gleich zuschlägt, erhält ein Abfeuergerät mit 8 Kartuschen in einer harmlos aussehenden „Reporter“-Tasche für 150 € weniger!

Die Rechnung ging auf: die Polizei shoppte und – so zeigen es zahllose Videos – verschoss große Mengen der 40 Millimeter dicken Gummibälle auf Provokateure und Randalierer. Diese erfahren den Treffer als äußerst schmerzhaft. Zurück bleiben deutliche Hämatome.

Eine Erfolgsbilanz oder ein Beweis, dass die „Waffe mit abgemilderter Tödlichkeit“ („arme à létalité atténuée“, so ein Slogan des Herstellers) den Einsatz von Schusswaffen verzichtbar gemacht oder einen Konflikt durch Schmerz aufgelöst habe, steht allerdings aus. Sichtbar ist jedoch, dass die Firma ikonografisch zweifelsfrei die starken Bilder der Gewalt aus dem französischen Kult-Film „Hass“ für ihre Marketing-Kampagne instrumentalisiert. Ob sie das bewusst tut, bleibt offen.

Richtige Entfernung und Vermeidung von Zufallszielen

Die Wiege der Gummikugel, wenn man bei neuen Waffen von so etwas wie einer Geburtsstunde sprechen kann, stand in England. Das sehr umfängliche medizinische, einsatztaktische und technische Material, auf das wir heute zugreifen können, wenn wir überlegen wollten, ob die Anschaffung von Projektilen mit großer kinetischer Energie und geringer Durchschlagskraft sinnvoll ist, stammt zweifelsohne aus der polizeilichen und polizeikritischen Arbeit rund um die Konflikte in Nord-Irland. Dort hatten bereits in den siebziger Jahren Polizisten lernen müssen, dass die Letalität einer Waffe, die verspricht, nicht zu töten, ganz eng an die Einsatzbefehle gekoppelt ist.

Anfangs hatte man geglaubt, Fatalitäten verhindern zu können, indem man auf Kniehöhe zielt. So sollten Verletzungen an Schlagadern, Schädel und Augen verhindert werden.

Doch auf Kniehöhe hatten die irischen Kinder ihre Köpfe und es starben insgesamt etwa 50 Minderjährige durch eine missratene, nicht zu Ende gedachte Vorschrift zur Handhabung der Gummigeschosse.

Ein weiteres, bislang vollständig ungelöstes Problem beim Einsatz von Wuchtgeschoßen wie Gummikugeln, Säckchen (bean bags) oder Stockabschnitten ist die Gewährleistung „sicherer“ Distanz. Weniger oder gar nicht tödlich sind solche Geschosse nur dann, wenn die vom Hersteller vorgeschriebene Entfernung zwischen Mündung und Ziel peinlich genau eingehalten wird. Diese liegt in der Regel bei etwa 30 Metern. Der Widerspruch ist ohne technisches Vorverständnis einleuchtend: um zur wirken, um „effektiv“ zu sein, wie die Entwickler sagen, muss der Aufprall empfindlich Weh tun.

Man muss also zusehen, nicht auf Ziele zu schießen, die zu weit weg stehen. Dann wird aus der Kugel ein harmloser Ball. Hinzu kommt, dass die schweren Projektile (bis zu 120 Gramm) nach 50 Metern sehr ungenau werden, nach 70 oder 100 Metern gar irgendwo hin fliegen. Doch welche Bekleidung trägt der Demonstrant zu seinem Schutz? Wie viel mehr oder weniger ist sein Nachbar geschützt? Wie bemisst der Polizist in der Hektik eines Einsatzes gegen rennende Demonstranten die korrekte, gewünschte, notwendige Durchschlagskraft?

Das größte Problem allerdings stellen Zufallsziele da: Personen, die einfach dazwischen gelaufen sind, und die beabsichtigte Distanz durch das Unglück ihres überraschenden Auftritts gefährlich verkürzen. Ein Bespiel dafür ist der Tod eines palästinensischen Jungen, der mit 9 Gummikugeln im Kopf starb.

Die britische NGO Omega Foundation, die auf die „Bewertung der Technologien politischer Kontrolle“ spezialisiert, hat sich wegen der Symbolkraft des Röntgenbildes von diesem tödlichen Vorfall dazu entschieden, das Bild als Logo zu führen.

Dabei ist die Frage, ob die Waffe in diesem Fall vorsätzlich missbräuchlich eingesetzt wurde, hier nicht zentral. Es reicht zu wissen, dass es funktioniert hat, damit zu töten. Deswegen muss der Begriff „nicht-tödlich“ als reiner Marketingbegriff angesehen werden: als Versuch, Einsätze im öffentlichen Raum führbar zu machen, gegen die politischer Widerstand zu erwarten gewesen wäre, wenn nur konventionelle Bewaffnung zur Hand ist.

Aufrüstungsspirale auch bei sogenannten nicht-tödlichen Waffen

Auf dem Symposium des Fraunhofer-Instituts über nicht-tödliche Waffen im Mai 2007 war zu erfahren, dass das Institut für Chemische Technologie in Karlsruhe solche Mängel künftig mit „intelligenten Geschossen“ abstellen möchte. Das Produkt befindet sich derzeit noch in der Grundlagenforschung, soll aber im Prinzip beidseitig, bei Waffe und Projektil, soviel Erkennungstechnologie mitführen, dass dazwischen laufende Personen oder solche Demonstranten, die diesseits der Sicherheitsdistanz ins Visier geraten, nicht schwer verletzt werden können.

Ob der Ansatz (kosten)technisch realistisch ist, bleibt fraglich. Doch es ist der Kernwiderspruch ein weiteres Mal klar erkennbar: Es soll extrem Weh tun, jedoch nicht nachhaltig, also zumindest nur „reversibel“ schädigen. Wenn die Basistechnologie (Gummikugel) dies nicht leistet, weil sie dem häufigsten Anwendungszweck, in unübersichtlichen Lagen „sicher“ zu treffen, nicht gerecht wird, versucht man die Lösung mit anspruchsvoller Hochtechnologie. Diese wird auf den untauglichen Gegenstand so lange angewendet, bis dieser wieder nur ein Versprechen von Sicherheit leistet.

Was auf der „anderen Seite“ passiert, wenn die Polizei aufrüstet, war in Genua genauestens zu studieren: die Demonstranten rüsten ebenfalls auf.

Und sie müssen dies einfach aus Überlebenswillen auch tun, wenn so „unsichere“, lebensgefährliche Technologien gegen sie eingesetzt werden, wie es elastische Wuchtmunition ist.

Man sieht also, dass die Rüstungsspirale nur dazu führt, dass sich beidseitig vermummte Gestalten einander gegenüberstehen, die allein bereits durch ihre Körperpanzerung in eine weitere Spirale der Aggression und deren Entladung, hineingeraten. Denn wer stundenlang unter Helm und hinterm Schild geschwitzt hat, will endlich losschlagen, um dem Leiden ein Ende zu machen. Das ist kein politisches Kalkül. Es ist einfach banale Lebenserfahrung.

Dass es auf beiden Seiten auch anders geht, zeigt die Blockade der Zufahrten nach Heiligendamm am Mittwoch und Donnerstag, dem 5. und 6. Juni. Die Gruppe, die sich auf der Lindenallee unmittelbar am Sperrzaun befand, hatte sich für eine besonders klare Form des gewaltlosen Widerstandes entschieden. Das Strategieprogramm hatte man in Jahren der Castor-Blockierung erlernt, ebenso wie den deeskalierenden Umgang mit der Polizei. Die Theorie dazu liefert natürlich immer noch die „Satyagraha“, das „Festhalten an der Wahrheit“, mit dem Mohandas Karamchand Gandhi Indien zur größten Demokratie der Welt gemacht hat. Der australische Soziologie-Professor Brian Martin hat dies in seiner exzellenten Untersuchung in den Kontext von Wissenschaft und Technologie gestellt.

Macht ist zumeist in den Händen Weniger. Die Kontrolle über Forschung, Wissenschaft und Technik baut dieses Ungleichgewicht noch aus. ... Wie soll also ein Wandel zustande kommen?... Dies funktioniert nur, wie es die Deutschen 1923 im Ruhrgebiet vorgemacht haben, wenn man sich auf die Kraft des gewaltfreien Widerstandes verlässt.

Wenn sich nun – wie auf der Lindenallee – eine Einsatzleitung findet, die nicht wie andere zeitgleich Wasserwerfer, Hunde und Pfefferspray einsetzt, kann die Sache gut ausgehen. Alles andere würde bei einer Ordnungswidrigkeit, deren Ziel eine Verbesserung der sozialen und ökologischen Zustände unserer Welt ist, die Verhältnismäßigkeit der Mittel verletzen.