Der Arzt als Quelle des Krankseins

Verursachen Ärzte mehr Todesfälle als Brustkrebs, Aids und Verkehrsunfälle zusammen genommen?

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"Irren ist menschlich" - auch für den Arzt. Im New England Journal of Medicine, einer der angesehensten medizinischen Zeitschriften, berichten Forscher vom Medical College of Wisconsin in Milwaukee und dem Boston Medical Center über die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage bei Ärzten: 7 Prozent wissen, dass ein Familienmitglied an einem ärztlichen Kunstfehler verstorben ist.

Jeder Dritte hat Kunstfehler im familiären Umfeld miterlebt, und jeder dritte Allgemeinmediziner weiß von mindestens einer folgenreichen Fehlbehandlung in seinem Patientenklientel während der letzten 12 Monate. Keine grundsätzliche Besserung für eine Situation, die vor zwei Jahren für Aufsehen sorgte: "To Err Is Human: Building a Safer Health System", die Dokumentation vom Committee on Quality of Health Care in America , kam zum Schluss, dass im Jahr 1999 an den US-Kliniken etwa 98.000 Menschen an ärztlichem Missmanagement verstarben. Das waren mehr Tote als durch Verkehrsunfälle, Brustkrebs und Aids zusammengenommen.

Die erschreckende Erkenntnis ließ den damaligen US Präsidenten Clinton eine Sonderkommission bilden. Seitdem steht das Thema regelmäßig auf der Tagungsordnung des amerikanischen Kongresses, während das staatliche Gesundheitswesen intensiv um Schadensbegrenzung bemüht ist.

US-Regierung im Clinch mit den verbandelten Ärzten und Arzneimittelherstellern

Nun folgt ein weiterer Schlag. "Ärzte sollen keine Geschenke mehr von der Pharmaindustrie annehmen." Mit dieser Forderung hat die US-Regierung in ein Wespennest bisher ungeahnter Verflechtungen gegriffen.

Ärzte und Arzneimittelhersteller begründen ihren Widerstand unisono mit der Behauptung: "Zwischen beiden Seiten bestehe ein partnerschaftliches Verhältnis, das die Struktur des Gesundheitswesen wesentlich mitbestimmt." Die Ärzte verweisen auf die Gelder, die ihnen durch die Durchführung von Arzneimittelprüfungen sowie für die Weiterbildung zufallen. "Ohne finanzielle Unterstützung der Industrie werden die ärztlichen Gesellschaften gezwungen sein, die Weiterbildung einzustellen," beklagte Dr. Michael D. Maves, der geschäftsführende Vizepräsident der American Medical Association.

Präsident G.W.Bush und seine Berater wenden sich allerdings nicht nur gegen offene oder versteckte Geschenke; sie bemängeln vielmehr, dass die Pharmaindustrie ihre Produkte durch Preisnachlässe bei den Krankenhäusern und ebenso bei den Trägern des Gesundheitswesens konsequent in den Markt drückt. "Die Regierung missversteht die Praxis der Industrie völlig", argumentiert dagegen die konzertierte Koalition von 19 Pharmaherstellern, die nahezu 80 Prozent des US Marktes repräsentieren: "Durch die Vergünstigungen profitieren in Wirklichkeit Millionen von Amerikanern."

Allerdings geben einige Verantwortliche zu, dass der Mengenrabatt erst wirksam wird, wenn beispielsweise 40 Prozent der Verschreibungen dem Cholesterinsenker des einen Herstellers zufallen. Dr. Eric J. Wexler, in Michigan für den Great Lakes Health Plan und 90.000 Medicaid Versicherte zuständig, schließt unter diesen Umständen auch Bestechung nicht aus: "Der Zuständige (pharmacy benefit manager) wird regulär entlohnt. Niemand kennt die Gefahr, die entsteht, wenn er die Ärzte zu einem anderen Verschreibungsverhalten ermuntert.

Von allen Seiten bedrängt - wie dies in der Gesndheitspolitik üblich ist - kämpft der Cowboy aus dem Weißen Haus mit harten Bandagen. G.W.Bush ruft laut nach stillen Informanten (whistle-blowers) und bietet eine kostenfreie 800er Nummer sowie finanzielle Anreize. "Wir wollen uns nicht totreden lassen", verrät ein Sprecher des US Department of National Health and Services, "in 60 Tagen muss der Rohentwurf für die neue Regelung fertig sein."

In Deutschland schweigen Ärzte und Patienten lieber

In Deutschland sucht man vergebens nach vergleichbaren Initiativen. Weil wir besser dran sind und Medizin made in Germany noch nicht in Verruf geraten ist? Irrtum. Die Halbgötter in Weiß folgen der Devise: "Lieber schweigen, vertuschen und den Kollegen nicht weh tun; schon morgen könnte man selbst betroffen sein." Öffentliche Diskussionen und Empfehlungen, mit dem Missmanagement umzugehen, kennen bei uns weder Ärzte noch Kranke.

Das Prinzip der "second opinion" gehört in den USA vor vielen Eingriffen zur Selbstverständlichkeit, nicht selten ausdrücklich von den Versicherungen gefordert. In Deutschland hingegen erwächst aus dem Ansinnen, die Meinung eines zweiten Arztes einzuholen, Misstrauen. Dennoch ist das Arzt-Patienten-Verhältnis längst nicht mehr ungetrübt. Dafür spricht die exponentielle Zunahme von Kunstfehlerprozessen vor deutschen Gerichten.

Klarer äußern sich die privaten Krankenversicherer: für deutsche Ärzte und ihre Familienmitglieder bieten sie deutlich billigere Tarife an. Der Personenkreis, so zeigt die Versicherungsstatistik, ist weniger krank als die Allgemeinheit. Warum wohl? Die gehen einfach nicht zum Arzt und vermeiden damit die schlimmen Nachwirkungen, von denen die Arzt-gläubigen oder Arzt-süchtigen Zeitgenossen geplagt oder heimgesucht werden.

Was, wenn die Telefonbefragung für Deutschland repräsentativ wäre? Es beträfe etwa 240.000 Ärzte, von denen jeweils die Hälfte ambulant oder im Krankenhaus tätig ist. Danach würden 16.800 Ärzte einen Kunstfehler-Todesfall in der Familie erleben, und 80.000 Ärzte von einem ärztliche Fehler im eigenen Familienkreis berichten. Beunruhigend allerdings auch die Betroffenheit der Bevölkerung: 80.000 Ärzte würden zugeben, dass bei einem ihrer Kranken innerhalb der letzten 12 Monate ein ärztlicher Kunstfehler begangen wurde.

Auch hierzulande findet eine Kooperation zwischen Pharmaindustrie und Ärzten statt

Keine erfreulichen Einsichten. Allerdings auch keine Überraschung, weil die deutsche Ärzteschaft nicht weniger mit der Pharmaindustrie kooperiert als die US Kollegen. Der Arzneimittelmarkt in Deutschland beläuft sich auf etwa 20 Milliarden Euro. In der Bundesrepublik sind um 2.500 Arzneimittel zugelassen, hinzu kommen jährlich etwa 350 neue Namen und durchschnittlich 30 neue Wirkstoffe. Um zu zeigen, dass sie up-to-date und von der Pharmaindustrie gut beraten sind, stürzen sich die Ärzte auf alles Neue. Infolgedessen steigt für viele Kranke das Risiko, unnötig unerwünschten Nebenwirkungen zum Opfer zu fallen.

So unterschiedlich die Märkte, so ähnlich ist das Verhalten der Arzneimittelhersteller. "Celebrex", eines der "Block Buster" der Firma Pfizer in den USA bringt dem Hersteller mehr als zwei Milliarden Dollar jährlich ein, hält aber nicht, was die Pharmaindustrie und die ihr willigen Ärzte versprochen haben: Wie bei den altbekannten Rheumamitteln erkrankt jeder zehnte Patient an Magenblutungen. Gefitinib, ein modernes Arzneimittel von AstraZeneca gegen Lungenkrebs, hat in Japan offenbar jeden vierten Krebskranken vorzeitig an nicht beherrschbaren Nebenwirkungen sterben lassen. Die Pressemitteilungen sind dennoch kein Grund für den Hersteller, das Zulassungsverfahren in Europa zurückzuziehen. Und die synthetischen Hormone für die Menopause? Die werden in Deutschland weiterhin kräftig verschrieben, obwohl sie wegen ihrer Nebenwirkungen in den USA seit dem Sommer verpönt sind und sich in die Reihe der Stoffe einordnen, die ursprünglich mit Bestechungsgeldern an willige Ärzte unter die Frauen gebracht wurden.

Wie viel Ausschuss darf sich ein Arzt erlauben, bevor er seine Lizenz verliert?

In Deutschland besteht zudem ein Mangel an fairem Wettbewerb. Die Gesundheitspolitiker regeln die Zahl der Untersuchungen, ebenso wie die Art und Menge der Arzneimittel sowie die Behandlungen über das Ärztehonorar ein. Jeder weiß oder ahnt es zumindest. Deshalb wird nirgendwo so offen "geschmiert" wie in der Praxis der Niedergelassenen: "Das müssen Sie selbst bezahlen, weil es die Kasse nicht übernimmt", sagt nicht der Arzt, sondern seine Helferin an der Anmeldung und streicht für ihren Chef das Bare ohne Quittung ein.

Was wir brauchen? Den Controller. Nicht wegen des sprichwörtlichen Honorarbetrugs, sondern als Kontrolleur des ärztlichen Tuns. Die USA machen es vor: Fachleute sehen Krankenakten durch und beurteilen die Qualität des ärztlichen Vorgehens. Wie viel Ausschuss darf sich ein Arzt erlauben, bevor er seine Lizenz verliert?

Darüber ist in der deutschen ärztlichen Selbstverwaltung noch nicht einmal andeutungsweise nachgedacht worden. Falls ein Richter den Arzt wirklich aus dem Verkehr zieht, geht es zumeist um menschliche Vergehen im Umgang mit Patienten und Personal, kaum jedoch um die fachliche Unvollkommenheit. Deren materieller Schaden wird von der Haftpflichtversicherung gedeckt, und danach macht der Arzt weiter wie zuvor.