Im Zeichen der Wohlfahrt

Zwischen Spardiktat und politischem Design: Nach der High-Noon-Rede Gerhard Schröders - Überlegungen zur Ästhetik der Solidarität

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"Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft" - vor knapp zwei Jahren verkündete dies Gerhard Schröder öffentlichkeitswirksam und in der Pose dessen, der mutig am letzten Tabu rüttelt, Doch selbst diejenigen, um die es dabei unverhohlen ging, Arbeitslose oder andere Sozialhilfeempfänger, fühlten sich kaum angesprochen, und stimmten daher den Kanzleräußerungen größtenteils zu. Geändert hat sich erwartungsgemäß danach auch nichts, es ist einfach alles schlimmer geworden - die Kassen knapper, die Widerstände zäher, Verhältnisse träger. Und auch der Bundeskanzler ähnelt inzwischen dem Laokoon der berühmten Statue, der hilflos gegen die Übermacht der vielköpfigen Interessenvertreter kämpft, in dessen Augen aber die Niederlage bereits zu ahnen ist.

Das bestätigte auch die langerwartete Kanzlerrede vom vergangenen Freitag. Angekündigt wurde sie als Befreiungsschlag und Kehrtwechsel, zugleich "letzte Chance", seiner Regierung doch noch ein Profil und dem Land das Versprechen eines anderen, besseren Sozialstaats zu geben. Doch was herauskam, war das, was man von diesem Kanzler schon seit Amtsantritt gewohnt ist: ein Weitermachen. Die klare, schonungslose Bestandsanalyse der Lage fehlte ebenso, wie ein Sinn dafür, wohin es grundsätzlich gehen soll. Hier ein bisschen rauf, dort ein bisschen runter, etwas mehr sparen, etwas weiniger Ansprüche. Verwaltungshandeln und -denken also, aber keine wirkliche politische Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, von Vision ganz zu schweigen. Ohne Richtungssinn und Durchsetzungsvermögen scheint Schröder damit entgültig zum "Rotkohl" geworden, zum neuen "Weiter so"-Kanzler, der die Verhältnisse moderiert, anstatt sie zu verändern.

Was nicht weniger schlimm ist, als das altbekannte Gegurke in der Sache, vielleicht sogar schlimmer: Die Form der Präsentation. Denn vielleicht war es gar nicht so wichtig, was der Kanzler gesagt hat, als wie er es tat: Lasch im Ausdruck, ohne Verve. Nicht still und nicht laut sondern irgendwo im rhetorischen Niemandsland dazwischen, nicht provokativ und nicht zündend, sondern müde. Dabei wäre es höchste Zeit, über das Thema Sozialstaat einmal anders zu reden und zu denken, als wir es - zwischen besitzstandswahrender Verteidigung und neoliberalem Angriff - gewohnt sind.

Von Dickens zu Kafka, von der Suppenküche zum "sozialen Netz"

Faulheit ist dabei nur der erste in einer ganzen Reihe von Begriffen, die man auch bei der jetzigen Debatte wieder hören kann, und die das Terrain weniger moralisch bewerten, als ästhetisch markieren. Zusammengenommen formen sie so etwas wie ein Zeichensystem des Sozialstaats. Im Bild des Faulen schwingt unsichtbar, aber auch untrennbar der Vorwurf des Schmarotzertums mit, gegen den, der "den anderen" "zur Last fällt." "Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen", meint der Kanzler. Schon in der Bibel ist schließlich zu lesen, dass, wer nicht arbeitet, auch nicht essen soll.

Noch immer ist unsere Wahrnehmung des Themas von der Metaphorik des 19.Jahrhunderts geprägt. Das ganz klassische Modell vom Wohlfahrtsstaat stand in der christliche Tradition der benevolentiae, des Mitleids. Der Bedürftige stand an der Tür zur Kirche und damit zu Gott, der Mitleidige/Großzügige machte sich den Weg zum Himmelreich per Spende frei. Hilfe für Andere war von der Willkür und vom Wohlwollen des Wohlhabenden abhängig, keinesfalls gab es wie später einen Rechtsanspruch auf Hilfe.

Der treffendste symbolische Ausdruck für dieses Denken ist die Armenspeisung: Dampfende Suppenküchen, vor denen lange Schlangen warten, Gleichheit der Verteilung - "eine Kelle für jeden" -, man denkt an etwas Warmes, Dunkles inmitten umgebender Kälte. Analog zum "Manchesterliberalismus" könnte man vom "Dickensschen Wohlfahrtsstaat" sprechen - er agiert wie ein frühindustrieller Patriarch, rettet vor nichts, liefert keine absolute Sicherheit, aber er lindert unmittelbar, handelt reaktiv, nicht vorsorgend, konkret vor Ort. Und nicht wenige wollen genau hierhin zurück.

Ganz anders im 20.Jahrhundert. Repräsentatives Bild für den neuen, sich lange anbahnenden "Sozialstaat" ist nun das Netz: Zuerst noch dünn und porös, kaum geeignet, die jäh aus dem Berufsleben Abstürzenden aufzufangen. Doch zunehmend wurde es engmaschiger, ermöglichte so auch Höhenflüge und riskantere Drahtseilakte - denn man fiel weich und ohne ernsthafte Verletzungsgefahr. Im Idealfall war eine Art Trampolin, wo sich der akrobatische Arbeitsathlet nur ganz kurz aufhielt, um sogleich wieder hoch ins Trapez des Arbeitsmarkts geschleudert zu werden, und dort neue Kunststücke zu vollbringen. Nicht minder wichtig: Wo die Suppenküche noch ein Almosen war, wurde das Netz zum - rechtlichen wie moralischen - Anspruch.

Das Bild suggerierte auch Zusammenhalt, das "Netzwerk" moderner Gesellschaften, in dem jeder für jeden und der Staat im Zweifel für alle einsteht. Zugleich verwies es auf die Elastizität, die in den ausdifferenzierten Gesellschaften der Moderne unentbehrlich ist, um den individuellen Bedürftigkeiten flexibel Rechnung zu tragen und, statt unnötig egalitär zu antworten, "jedem das Seine" zu geben. Zusammengehalten wird es durch die Bürokratie. Erst ein zentraler, streng rationalisierter Verwaltungsapparat ermöglicht den Abstraktionsgrad, der nötig ist, um die hohen Ansprüche auch erfüllen zu können. Die einstige Wärme ist dabei allerdings verloren gegangen, ein Netz ist eben luftig und kühl, und statt an das London eines Dickens denkt man eher an Kafkas "Schloss", an Gewirr endloser leerer Gänge und riesiger Aktenregale, beherrscht von graugekleideten, anonymen Herren.

Als das Wachstum noch geholfen hat: Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik

Das neue Ziel hieß individuelle Sicherheit. Sie war im Zweifel das höhere Gut als die Freiheit, noch zu stark hatte man die Nöte beider Weltkriege, der Depressionen und Wirtschaftskrisen im Kopf. Die Epochenschwelle von 1945 bremste diese kontinuierliche Entwicklung nicht, im Gegenteil: Die beiden Nachkriegsjahrzehnte wurden zum Goldenen Zeitalter eines Sozialstaats, der nach den Klassenkämpfen der ersten Jahrhunderthälfte explizit auch dem politischen Ziel einer Vermeidung von neuen Bürgerkriegssituationen durch sozialpartnerschaftliche Versöhnung zu dienen hatte.

Der Beveridge-Plan aus dem Jahr 1942, mit dem sich die britische Kriegskoalition auf die Zeiten des Wiederaufbaus vorbereitete, gab das Vorbild ab. Drei "Säulen" standen in dieser europäischen Sozialpolitik gleichberechtigt nebeneinander: Das Lindern der "sechs unmittelbaren Nöte" (neben Hunger, Obdachlosigkeit, Krankheit und Alter, auch Arbeitslosigkeit und fehlende Bildung), die das Versicherungsprinzip betonende "Leistungsgerechtigkeit" (noch der deutsche Sozialminister Norbert Blüm bestand bis 1998 auf seiner - in manchen Augen bereits utopischen - Forderung: "Jeder soll das herausbekommen, was er eingezahlt hat") und schließlich das gesellschaftspolitische Ziel einer "Reduktion von Ungleichheit", das bis heute im Zentrum von Kirchenpapieren steht, aber auch im "Armutsbericht der Bundesregierung" nicht fehlt. Sogar Ex-Wirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP) hielt kürzlich in der ARD am grundlegenden sozialstaatlichen Prinzip einer "Umverteilung von oben nach unten" fest.

In den Grundsätzen besteht bis heute Kontinuität zu jenen Zeiten, als das Wachstum noch geholfen hat, und ein Ludwig Ehrhard mit seiner Zauberformel vom "Wohlstand für alle" das Bündnis zwischen den beiden Extremen eines wilden ungezügelten Marktdarwinismus einerseits und einer staatssozialistischen Planwirtschaft andererseits, im sozialstaatlich abgefederten Kapitalismus, der "sozialen Marktwirtschaft" gefunden hatte. Auch für den Großvater der "Christlichen Soziallehre", den Jesuiten Oswald von Nell-Breuning, war der deutsche Sozialstaat ein "dritter Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus". Als der Nachkriegsboom zum "Wirtschaftswunder" wurde, ging es auch um einen gerechten Anteil an den materiellen Erfolgen, unabhängig von vorherigen Einzahlungen. Zumindest im Grundsatz herrschte schon vor 1966 eine latente große Koalition in sozialpolitischen Fragen zwischen Union und SPD.

Doch zunehmend scheint diese sozialpartnerschaftliche Ästhetik der frühen Bundesrepublik sich aufzulösen. Die seit Ende der 70er Jahre in unverminderter Schärfe formulierte antiwohlfahrtsstaatliche Kritik - lange Zeit ein Privileg neoliberaler und rechtskonservativer Denker -, hat zunehmend auch Christ- und Sozialdemokraten angesteckt. Hinzu kommen die zunehmenden Selbstwidersprüche des Systems, die einstweilen unbeantwortet bleiben. Der Wohlfahrtsstaat ist ins Gerede gekommen, in der allgemeinen Wahrnehmung ist das rettende Netz längst zur bequemen Hängematte geworden, oder gar zur Falle, in der eine ganze Gesellschaft sich verheddert hat. Zu teuer sei er, zu uneffektiv, nivellierend und mit Zwang verbunden.

Wo Freiheit der wichtigere Wert ist, als Sicherheit, wirkt das soziale Netz mit einem Mal nur noch nur als Fessel, die man abstreifen sollte. Kafkas letztlich nur absurdes "Schloss" scheint zur bedrohlichen "Strafkolonie" geworden, dominiert von einem eigentümlichen, wohlbekannten, doch versklavenden Apparat. Attraktiv ist einer Gesellschaft, die sich auch in anderen Bereichen zumindest öffentlich zu Diät und Askese bekennt, dagegen der "schlanke Staat", und diese Metapher suggeriert nicht nur Gesundheit (statt Magersucht), sondern auch, dass der Wohlfahrtsstaat "überflüssiges" Fett angesetzt habe (nicht etwa, dass er "stattlich" sei). Bestenfalls gilt er noch als ein wucherndes Gestrüpp, das "beschnitten" werden müsse. Mit anderen Worten: Der Wohlfahrtsstaat ist nicht mehr sexy. Wo Hedonismus gefragt und drohende Not zu selten unmittelbare Erfahrung ist, bringt kein Solidaritätsappell die "Frage Wozu?" zum Schweigen. In Zeiten, die in jeder Hinsicht Dynamik und Flexibilität propagieren, erscheint Konsens erstickend, Sozialpartnerschaft statisch, klassische Verwaltung träge und zu sehr mit der Axt, zu selten mit dem Skalpell agierend. Und in Zeiten der Krise ist jeder sich selbst der Nächste, denkt jeder noch-nicht-Bedürftige primär an die eigene Geldbörse.

Das neue Design der Solidarität

Dies ist das Dilemma, dem eine Regierung heute begegnen muss: Das Vertrauen auf die Trägheit schweigender Mehrheiten reicht nicht mehr aus. Und, das zeigt sich jetzt, auch rationale Argumente und Rechenkünste allein werden den Sozialstaat nicht mehr retten. Denn noch nie war primär die Güte des Herzens ausschlaggebend für Solidarität. Seit der Schaffung von Suppenküchen, öffentlichen Asylen verschiedener Art, und dem Kampf gegen Kinderarbeit ging es primär darum, sich bestimmte Nöte, Bilder und Gerüche auch ästhetisch vom Leibe zu halten, und politisch-sozial unter Kontrolle zu bekommen. "Einschneidende" Leistungsbeschränkungen, die Etatkürzungen möglich machen, mehr oder weniger Geld allein werden daher nichts helfen - es sei denn man beschränkt die politische Gestaltung der Gesellschaft auch in Zukunft mit der Verkündung von Spardiktaten.

Denn jede Moral braucht ihre eigene Ästhetik. Wer den Staat der Gegenwart nicht nur als soziales Abbruchunternehmen versteht, sondern weiterhin einen - wenn auch neuen, veränderten - Sozialstaat will, muss unsere Wahrnehmung verändern, indem er der Solidarität ein neues Design gibt. Das Grau der kafkaesken Gänge der alten Behörden, aber auch das öde Bunt der neuen Servicecenter der Krankenkassen und Arbeitsämter, die sich den zum lästigen Kunden mutierten Leistungsempfängern mal Magenta, mal Aquamarin, aber immer plastikhaft asozial präsentieren, verheißen da keine ästhetische und damit auch keine politische Hoffnung.

Wer tatsächlich den Sozialstaat erhalten und neu definieren will, muss ihn sexy machen. Was bedeutet das? Der Sozialstaat wird nur überleben, wenn die bisherige Kosten-Nutzen-Rechnung durch eine neue ersetzt wird, wenn die betriebswirtschaftlich verengte, auf kurzfristigen Ertrag ausgerichtete Perspektive der Beteiligten einer neuen Großzügigkeit und zugleich konkreten Ausrichtung des Denkens Platz macht. Eine Strategie für einen zeitgemäßen Sozialstaat müsste diesen als konsumistischen Anspruchserfüller verstehen, als Institution, die nicht langweilt, nicht diszipliniert, nicht länger als Ansammlung von Schikanen, Wartezeiten, Umstandskrämerei und ewigen Wiederkehr des Formularterrors wahrgenommen wird, sondern als Ort, der für individuell eingezahlte Beträge auch persönlich bestimmte, angemessene Leistungen bringt. Ein solcher Sozialstaat wäre keine moralische Anstalt zur Verbesserung der Gesellschaft mehr, sondern eine ästhetisch-konsumistische; ein Ort des Vergnügens, Komforts und Ereignisses, nicht aber der Heilsversprechen, die sich auch noch im Rund des Tischs versteckten, an dem der Kanzler die Verbände jüngst zum - bestimmt nicht letzten - "Bündnis für Arbeit" versammelte.

Pathetische Begriffe dieser Art müssten nicht etwa dem umgedrehten Pathos einer "Blut, Schweiß und Tränen"-Rede, oder der verlogenen Gutgelauntheit des Geredes von der Ich-AG, sondern einem neuen Understatement weichen, das durch kühle Offenheit und die kontraktualistische Vernunft des Gebens und Nehmens überzeugt. Die Kosten eines solchen Unterfangens lägen vor allem im Verlust der emotionalen Bindung, wie sie in den regelmäßigen, aber zur Pose erstarrten Erinnerungen aller Parteien an die Leistung der Nachkriegsgeneration ("unsere Trümmerfrauen") oder dem neuerdings wieder in Mode gekommenen Appell an "bürgerschaftliches Engagement", sprich: unbezahlten Zivildienst zum Ausdruck kommt. Vielleicht muss sich also in der Sache gar nicht so viel, in Rhetorik und Präsentation dagegen alles ändern.

Die Gelegenheit dafür hat der Kanzler am Freitag verpasst. Aber in der Demokratie gibt es keine "letzten Chancen".