Gezielte Hungerkatastrophe

Amnesty international macht die Regierung in Pjöngjang für den Tod Hunderttausender Nordkoreaner mitverantwortlich

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Seit vielen Jahren leidet die Bevölkerung von Nordkorea unter extremer Nahrungsmittelknappheit. Die Folgen sind dramatisch und in unzähligen Fällen tödlich. Das Welternährungs-Programm der Vereinten Nationen geht davon aus, dass 40% aller nordkoreanischen Kinder chronisch mangelernährt sind und viele von ihnen dauerhafte Schäden davontragen werden. Und die Menschenrechtsorganisation amnesty international vermutet sogar, dass allein während der großen Hungersnot von 1995 bis 1999 zwischen 600.000 und 3,5 Millionen Nordkoreaner, in erster Linie Kinder, Frauen und alte Menschen, an den Folgen der dramatischen Unterernährung gestorben sind (zur Erinnerung: Das kleine asiatische Land hat gerade einmal 22 Millionen Einwohner).

Nordkorea, von US-Präsident Bush aufgenommen in die "Achse des Bösen", spielt seit einiger Zeit ein herausforderndes Spiel vornehmlich mit der US-Regierung. Der Einsatz ist die (angebliche) Verfügung über Atomwaffen und die Androhung von deren Anwendung, das Ziel dürfte einerseits darin bestehen, die Macht des Diktators Kim Il Sung zu sichern, und andererseits, Hilfe für das verarmte, aber hochgerüstete Land aus dem Ausland durch Erpressung zu erhalten (Die nächste Drohung). Vornehmlich geht es gegenüber der US-Regierung um das Ende der Sanktionen, die Wiederaufnahme von Wirtschaftshilfe und die Streichung von der Liste der Staaten, die den Terror fördern. Ob Nordkorea bereits Atomwaffen besitzt, ist unbekannt, aber offenbar ist nach Einschätzung von Experten die Möglichkeit vorhanden, in Bälde eine kleine Menge von vier bis acht Nuklearsprengköpfe bauen zu können. Eine inoffizielle US-Delegation, der die atomare Abschreckung Nordkoreas demonstriert werden sollte, hat überdies bereichtet, dass 8.000 angereicherte Brennstäbe aus der Anlage von Yongbyon verschwunden seien. Doch darüber, ob das schon auf die Existenz von Atomwaffen oder auch nur auf die Möglichkeit hinweise, solche herstellen zu können, herrscht Uneinigkeit.

Bereits jetzt habe das Land, so hingegen ein Bericht des International Institute for Strategic Studies, genügend angereichertes Plutonium für ein oder zwei Sprengköpfe. Die 2002 wieder in Betrieb genommene Anlage könne jährlich mindestens die für eine Bombe erforderliche Menge an Plutonium erzeugen. Auch wenn die nordkoreanischen Raketen wohl nicht die USA erreichen können, so bedroht Nordkorea die amerikanischen Verbündeten Japan oder Südkorea. Anders als Hussein, der keine Atomwaffen und auch sonst keine Massenvernichtungswaffen besaß, demonstriert der nordkoreanische Diktator, der nach allen von der US-Regierung angebotenen Kriegsbegründungen überaus "reif" für einen Regimewechsel wäre, dass es vorteilhaft ist, im Besitz von Atomwaffen zu sein, auch wenn diese nur Phantome sind. Zudem hält der Diktator die Menschen im Land als seine Geisel.

Der neueste Nordkorea-Bericht, den amnesty soeben vorgelegt hat, macht für diese katastrophale Situation allerdings nicht nur die obligatorische Misswirtschaft, Naturkatastrophen und die ausbleibende Unterstützung durch die ehemalige Sowjetunion verantwortlich. Nach Erkenntnissen der Menschenrechtsorganisation setzt die Regierung vorhandene Nahrungsmittel gezielt ein, um ökonomisch interessante und politisch loyale Bürger zu unterstützen, während mögliche Oppositionelle und Flüchtlinge hungern oder verhungern müssen. Im Dezember musste allerdings das Welternährungsprogramm die Lebensmittellieferungen drastisch kürzen, weil Geberländer zu wenig Unterstützung geboten hatten. Die Lebensmittel werden vorerst nur noch an Kinder, schwangere Frauen und ältere Menschen verteilt. Telepolis sprach mit Roland Brauckmann, dem Nordkorea-Experten von amnesty, über die aktuelle Situation.

Herr Brauckmann, woher bezieht amnesty diese Informationen?

Roland Brauckmann: Amnesty international durfte zum letzten Mal 1995 nach Nordkorea reisen. Damals wurden uns allerdings nur Potemkinsche Dörfer mit leeren Gefängniszellen und dergleichen gezeigt. Weil wir noch andere Informationsquellen hatten und unser Bericht nicht so ausfiel, wie die Machthaber in Pjöngjang sich das vorstellten, wird uns seitdem die Einreise verweigert. Wir haben allerdings Londoner Researcher nach Japan und Südkorea geschickt. Dort wurde mit zahlreichen Flüchtlingen und auch mit Überläufern gesprochen, d.h. mit Menschen, die vorher im Staatsapparat tätig waren. Außerdem stimmen wir uns natürlich mit Mitarbeitern anderer Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen ab, mit solchen, die noch im Land sind, und auch mit solchen, die - wie "Ärzte ohne Grenzen" - mittlerweile unter Protest ausgereist sind. Aus all dem ergibt sich ein relativ präzises Bild der Situation, relativ insofern, als Nordkorea eines der abgeschottetsten Länder der Welt ist.

Was werfen Sie der nordkoreanischen Regierung konkret vor?

Roland Brauckmann: Wir werfen ihr vor, dass sie die Arbeit der internationalen Hilfsorganisationen behindert und die Hilfsgüter in erster Linie den Menschen zukommen lässt, die "volkswirtschaftlich notwendig" sind. Menschen, die nicht zum Partei- und Militärapparat gehören oder für denselben in irgendeiner Weise nützlich sind, haben ebenso wenig Chancen auf diese Lieferungen wie politische Häftlinge. Nordkorea ist in gelbe und blaue Bezirke aufgeteilt, die Hilfsorganisationen können sich im Land nur mit entsprechenden Passierscheinen bewegen. Die gesperrten Bezirke, also etwa die der Arbeitslager, sind praktisch vollständig von der Außenwelt abgeschlossen.

Was geschieht in diesen Lagern?

Roland Brauckmann: Es wird geschätzt, dass dort bis zu 200.000 Häftlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen interniert sind. Unsere Informationen gehen aber auch nicht wesentlich über den Bericht The Hidden Gulag hinaus, den David Hawk, ein früherer UN-Experte für Kambodscha, im Auftrag des US-Repräsentantenhauses recherchiert und im Oktober 2003 veröffentlicht hat. Wir haben allerdings Aussagen vorliegen, nach denen es Lager gibt, in denen selbst schwangere Frauen von morgens fünf bis abends zehn Uhr arbeiten müssen und Gefangene Kartoffelschalen und Wassersuppe bekommen oder aus Verzweiflung sogar Gras essen.

In diesem Zusammenhang spielt auch die Todesstrafe eine Rolle.

Roland Brauckmann: Das stimmt. Vor allem für Menschen, die vor der Hungersnot nach China geflüchtet und wieder abgeschoben wurden, verschlechtert sich die Situation dramatisch. Sie werden inhaftiert, gefoltert und auch ermordet. Uns sind Fälle von Menschen bekannt geworden, die wegen eines belanglosen Mundraubs hingerichtet wurden, es gab sogar Exekutionen vor den Augen von Kindern und Schulklassen. Das soll die Menschen davon abhalten, "sich am Volkseigentum zu vergehen". Nach unseren Erkenntnissen handelt es sich allerdings in vielen Fällen um willkürliche Hinrichtungen, da liegt oft noch nicht einmal ein offizielles Gerichtsurteil vor. Das Strafgesetzbuch gibt es in Nordkorea übrigens auch nicht zu kaufen.

Von außen betrachtet scheint Nordkorea kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen. Was hält dieses System noch zusammen?

Roland Brauckmann: Es geht dort wohl um eine interne Privilegienvergabe, die ausgezeichnet funktioniert. Dass davon nur ein minimaler Teil der Bevölkerung profitiert, spielt offenbar keine Rolle. Denn dieser Teil profitiert, wie uns beispielsweise auch ausländische Touristen berichten, welche Mitglieder der herrschenden Klasse in großen Mercedes-Limousinen herumfahren sehen, die vor einigen Jahren aus Hongkong importiert wurden. Partei und Armee haben das Land fest im Griff, wobei wir nicht genau wissen, wer da eigentlich wen beherrscht.

Außerdem darf man nicht vergessen, dass es in Nordkorea keine Opposition gibt. Es gibt wirklich keine! Das Spitzelsystem ist weit ausgefeilter als in der früheren DDR. Wer in Nordkorea unangenehm auffällt, wird sofort in ein Arbeitslager deportiert, und zwar nicht alleine, sondern mit seiner gesamten Familie. "Staatsfeinde, wer auch immer, müssen bis ins dritte Glied ausgerottet werden!" - sagte Kim Il Sung.

Kann man denn von außen überhaupt irgendetwas tun? Oder ist die Weltgemeinschaft zum Zuschauen verurteilt?

Roland Brauckmann: Nein, das ist sie nicht, und sie muss auch nicht immer nur die diplomatischen Kanäle nutzen. Es geht zunächst darum, eine große Öffentlichkeit herzustellen, um das Schweigen zu brechen. Genau das versucht die Regierung in Pjöngjang ja zu verhindern. Dann muss erreicht werden, dass die Nahrungsverteilung der Hilfsgüter transparenter geregelt wird und die internationalen Hilfsorganisationen die Lieferungen direkt an die Zielorte bringen können. Auf internationaler Ebene geht es schließlich darum, einen Zugang für unabhängige Beobachter, das heißt insbesondere auch für Journalisten und Menschenrechtsorganisationen, zu erreichen.