Warum pilgern eigentlich alle zur CeBIT?

Über das jährliche digitale Großereignis

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Hannover im März 1998. "Die größte Computermesse der Welt, auf der über 7000 Unternehmen aus fast 60 Ländern ihre neuen Produkte ausstellen." Da muß man hin. Muß man? Was suchen Menschen in 27 Messehallen, das sie nicht im Internet auch finden könnten?

Messegesellschaften können nicht anders, sie müssen zeigen, was ihre Veranstaltungen auf dem Kerbholz haben. Und sie zeigen es man am liebsten mit Zahlen: "Die Veranstalter erwarten mehr als 600 000 Besucher." Oder "7.205 Unternehmen der IT-Branche auf einer Ausstellungsfläche von 364 083 Quadratmetern, darunter 2764 ausländische Firmen von Ägypten bis Weiß-Rußland." Dröhnt es durch die Pressemeldungen. Das gibt der CeBIT Ž98 einen Nimbus von Weltwissen und Unendlichkeit. Prima, Hannover sehen und sterben.

Aber halt: Das ist doch die Crux für jeden, der er es mit dieser puren Masse aufnehmen will. Unterstellt man freundlicherweise, daß jeder deutsche IT-Entscheider mehr als 24 Stunden Zeit freischaufeln kann, um mit hohem finanziellen Aufwand die Messe der Messen zu besuchen (Hinfahrt, Spesen, Übernachtung etc.), dann wäre es bei der Anzahl der Aussteller rein rechnerisch möglich, an zwei Tagen (das sind 20 Messestunden) jedem Aussteller knapp unter 10 Sekunden zu widmen. Wegstrecken sind hier frecherweise nicht eingerechnet, und wer sich auf diesem Messe-Dinosaurier schon einmal die Füße wundgelaufen hat, der weiß, daß allein deshalb die Rechnung nicht aufgehen kann. Trotzdem. Bei solchen - rein rechnerischen Kontaktzeiten - wäre es wohl einfacher, seine Visitenkarten in die Klimaanlage zu schütten - in der Hoffnung, daß sie auf jedem Messestand niederregnen mögen. Ähnlich gezielt werben nur noch Wurfsendungen für Butterfahrten.

Das kann es also nicht sein, warum immer mehr Menschen - tatsächlich: trotz CeBIT Home werden es bei zweistelligen Zuwachsraten jährlich mehr - in diesem Megaevent versinken.

Natürlich wird niemand im Ernst versuchen, auch nur mit allen Ausstellern einer einzigen der 27 Hallen zu sprechen. Die Wirklichkeit sieht anders aus. So schätzt Astrid Lübke, die als Messeberaterin über die CDG Messemitarbeiter weltweit ausbildet, daß die Meßlatte bei 30 Kontakten pro Tag liegt. Mehr Gespräche auf dem Parcours zu schaffen, wäre ihrer Ansicht nach rekordverdächtig. Aber gut. Lassen wir es, weil es sich so leichter rechnen läßt, an den schon bereits avisierten zwei Tagen insgesamt 70 Aussteller sein, die sinnvoll auf der CeBIT zu kontaktieren sind, und nehmen wir auch an, daß jeder dieser Aussteller gerade sein Ohr für die Fragen, Sorgen und Meinungen des Besuchers frei hat, dann kommt ein sehr fleißiger Absolvent der CeBIT gerade einmal bei jedem hundertsten Messestand um die Ecke.

Wäre es da nicht einfacher, diese 70 Gespräche zuerst per Email zu führen und dann bei den letzten fünf Herstellern notfalls eine Geschäftsreise zu planen?! Wäre es vor allem für diese Aussteller, die für jeden wirklichen Messekontakt auf manchen Veranstaltungen mehr als 100,- DM pro erfolgreich eingefangener Visitenkarte investieren müssen, nicht einfacher und vor allem billiger, hier noch einen kleinen Reisevorschuß an alle wirklich Interessenten zu verteilen? Es wäre einfacher, aber letztendlich wäre dieses Vorgehen doch naiv...

Auch in diesem Jahr verwandelt die weltweit größte Hightech-Schau den Veranstaltungsort Hannover vom 19. bis 25. März in das Mekka der "Bits und Bytes"

Focus.de

Letztendlich ginge solch ein Verhalten an den Bedürfnissen von Messebesuchern und vielleicht sogar an denen der Ausstellern vollkommen vorbei. Vielleicht aber geht es gar nicht um wirkliche Information über neue Produkte und Leistungen, vielleicht hat die Messe einen Status erreicht, der dem einer Ersatzbefriedigung nahekommt?

"Messe" hat seine ursprüngliche Wortbedeutung in einem Markt, der nach der Messe, also an Sonntagen stattfand. Das war im Mittelalter. Und heute? Die CeBIT hat sich zum Ersatzgottesdienst der Branche gemausert, auf dem goldene Kälber angebetet werden, die ihre Heiligkeit in Gigabyte auf der Stirn stehen haben.

Die Funktion eines Molochs wie der CeBIT läßt sich leicht dort vermuten, wo Rationales aufhört: In der Anbetung. Ein Gott, der allerdings wie in schüchternen Versuchen, zum Beispiel einer BIK der Leipziger Messe, schon nach 1,3 Hallen durchwandert ist, kann dafür nicht attraktiv sein. Dieser Gott braucht ein Momentum, das genau dieses Gefühl des Ausgeliefertseins bietet, um überhaupt anbetungswürdig zu sein. Vulgo: Wäre Moses auf eine Holzkiste gestiegen, um sich die 10 Gebote diktieren zu lassen, hätte er seine Steintafeln genausogut nach Ägypten schicken können. Ohne den Berg Sinai keine Ehrfurcht. Ohne das Gefühl eines Messebesuchers, nicht einmal den Hauch einer Bewältigung vorweisen zu können, kein zufriedenes "I survived the CeBIT".

Es gehört zu den eigenartigen Geheimnissen moderner Zivilisationen, daß graue Kästen mit ratternden Lüftern und leicht einstaubenden Bilschirmen mehr heiliges Grausen erzeugen als alle Altäre der Welt zusammen. Und es ist auch seltsam zu sehen, daß CeBIT-Besucher etwas Zwanghaftes besitzen und jedes Jahr wieder in das Fegefeuer der IT-Einheiten eintauchen, obwohl sie genau wissen, daß sie sich nach spätestens 10 Minuten wie Sysiphos nach den ersten 5 Höhenmetern vorkommen.

Mäkeln ist einfach. Die digitale Pilgerstätte an der Leine - natürlich ist der Fluß gemeint, an dem Hannover liegt, denn die Computerszene versteht sich ja als Hort der Freigeister ... -, zu der es jährlich 600.000 zieht, ist in dieser Gottgleichheit mehr als Gold wert. Welche Szene hat es schließlich außer ihr geschafft, eine jährlich zelebrierte Ladestation für das eigene Image und das damit verbundene Statusstreben zu schaffen? Nicht einmal die Autosalons können dieses Massenspektakel bieten. Die Frage "Bist Du auf der CeBIT?" ist daher Adel und Einschwörung in einem. Die Antwort: "Gottseidank nicht", geht dabei gerade noch als Atheismus durch.

harald@taglinger.de (Darf dieses Jahr nicht zur CeBIT)