Die Evolution geht weiter

Ein Gespräch mit Prof. Heinz-Hermann Koelle, dem führenden Raumfahrtexperten in Deutschland.

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Heinz-Hermann Koelle, geb. 1925, langjähriger Professor für Raumfahrt an der TU Berlin, hat sich seinen Lebenstraum erfüllt. Schon als Kind schwärmte er von der Luft- und Raumfahrtforschung. Mit seiner Beteiligung an den US-Raumfahrt- und Raketenprogrammen der NASA zwischen 1955 und 1965 hat er sich nicht nur seinen Traum erfüllt, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des Weltalls geleistet. Als Systempionier hat er maßgeblich dazu beitragen, Ingenieuren ein methodisches Handwerkszeug beizubringen, um komplexe Technologien und deren Folgen besser bewerten zu können.

Apollo 17. Photo: NASA

Die Raumfahrtindustrie hat unser Jahrhundert maßgeblich geprägt. Was war für Sie das Ereignis, das Sie am meisten beeinflußt hat?

H.-H. Koelle: Sicher die erste Landung von Menschen auf dem Mond!

Sie haben Ihr Leben der Raketentechnik gewidmet. Was fasziniert Sie bis heute an dieser Technologie?

H.-H. Koelle: Die technische und kulturelle Herausforderung, die Zukunft der menschlichen Zivilisation für das nächste Jahrtausend sichern zu helfen.

Unter Wernher von Braun haben Sie in den USA an der Entwicklung der Saturn V mitgewirkt. Wie würden Sie ihn charakterisieren?

H.-H. Koelle: Er war beinahe ein Universalgenie: Die seltene Kombination von Fachmann, Manager, Politiker, Psychologe, Idealist, Unterhalter mit hohen menschlichen Qualitäten findet man wohl selten auf diesem Planeten oder anderswo.

Wernher von Braun vor dem Antrieb der Saturn V. Photo: NASA

Wie sehen Sie Wernher von Brauns Rolle im 2. Weltkrieg?

H.-H. Koelle: Als der Krieg zu Ende ging, war Wernher v. Braun 32 Jahre alt. Da er Entwicklungschef war und nicht die Produktion leitete, kann man ihn nicht für die Beschäftigung von Zwangsarbeitern verantwortlich machen. Er wurde sogar einmal von der Gestapo verhaftet, weil er verdächtigt wurde, sich nicht mit den Zielen der Nazis zu identifizieren. Egal was viele Kritiker schreiben, seine historische Leistung als geistiger Vater der Großrakete wird bleiben.

Die Saturn V war die leistungsstärkste Rakete, die je gebaut wurde. Was war Ihre wichtigste Erkenntnis während der Entwicklungsphase?

H.-H. Koelle: Die russische N-1 Mond Rakete war größer und schubstärker, ist aber nicht fertig entwickelt worden. Kein Flugversuch war erfolgreich! Meine wichtigste Erkenntnis in den sechziger Jahren war, das nüchterne Ingenieure bei klarer Zielsetzung und ausreichenden Mitteln jede Aufgabe meistern können, sofern man die Naturgesetze beachtet.

Sie haben das Saturn-Projekt vor der erfolgreichen bemannten Mondlandung von Armstrong und Aldrin verlassen und sind nach Deutschland zurückgekehrt. Was hat Sie dazu bewogen in ihre alte Heimat zurückzukehren?

H.-H. Koelle: Es war Mitte der sechziger Jahre erkennbar, daß nach dem APOLLO- Programm eine große Talfahrt in der Raumfahrt beginnen würde. Zu diesem Zeitpunkt erreichte mich der Ruf, die Nachfolge von Prof. Sänger auf dem 1. deutschen Lehrstuhl für Raumfahrt anzutreten. Da ich mich immer für die Lehre interessiert habe und die damit verbundene Freiheit der Forschung schätzte, habe ich den Versuch gemacht, diesen Weg zu gehen. Das war keine schwere Entscheidung, da ich jederzeit wieder bei der NASA willkommen war.

In Science-Fiction-Filmen wird immer wieder auf die Möglichkeit von Zeitreisen hingewiesen. Die Quantenphysik läßt zumindest theoretisch die Möglichkeit zu, riesige Entfernungen im Weltall zu überbrücken. Welche Möglichkeiten eröffnen zukünftige Raketenantriebe für Menschen, den nächstliegenden Fixstern Alpha Centauri zu erreichen?

H.-H. Koelle: Wenn man die Dinge nüchtern sieht, würde ich diese Möglichkeit für die nächsten Jahrhunderte ausschließen. Wir sind noch zu unwissend!

Es wird von einigen Zukunftsforschern die These vertreten, daß nicht Menschen, die Raumreisen zu fernen Planeten durchführen sollten, sondern Androide, d.h. Roboter in menschenähnlicher Gestalt, deren Zellen keinem Alterungsprozeß unterliegen. Werden die Raumfahrer der Zukunft noch Menschen sein oder Cyborgs und Androide?

Saturn V im Kennedy Space Center

H.-H. Koelle: Die ersten Roboter haben ja bereits als Raumsonden das Sonnensystem verlassen. Das wird wohl auf absehbare Zeit so bleiben, aber die Roboter werden größer und leistungsfähiger werden.

Der Robotiker Moravec hat die These aufgestellt, daß wir zukünftig unsere Gehirne in Computer übertragen und auf den physischen Körper verzichten können. Was halten Sie von dieser These?

H.-H. Koelle: Das ist in der "science fiction" ein altes Thema. Aber ich bin etwas skeptisch und nicht ausreichend Fachmann, um hier ein Urteil abzugeben.

Welche konkreten Projekte für die kommerzielle Nutzung des Mondes und des Mars werden von Ihnen vorgeschlagen?

H.-H. Koelle: Der Mond hat zunächst ein Labor für ungewöhnliche Forschungsaktivitäten in einem ungewöhnlichen Umfeld zu bieten, die auch kommerziell genutzt werden können. Langfristig ist die Gewinnung von Rohstoffen und Energie für die Menschheit möglich und wird vermutlich in der zweiten Hälfte des nächsten Jahrhunderts kommerziell interessant werden.

Untersuchungen zeigen, daß selbst mit Raumfähren wie dem Sänger ohne Beeinträchtigung der Umwelt nur eine begrenzte Zahl von Menschen auf den Mars gebracht werden könnten. Eine Besiedelung des Mars oder des Mondes mit mehreren Millionen Menschen würde somit Transportsysteme erfordern, die die Atmosphäre nicht weiter belasten. Mit welchen Systemen könnte dieses Problem gelöst werden?

H.-H. Koelle: Mit einer "Besiedlung" des Mondes oder des Planeten Mars ist vorerst nicht zu rechnen. Vielleicht sollten wir das auch überhaupt nicht anstreben. Ich rechne mit einer kleinen Siedlung von etwa ein tausend Menschen auf dem Mond zum Ende des 21. Jahrhunderts, und nicht viel mehr als 100 Menschen in einem Labor auf dem Mars. Die heute von uns machbaren voll wiederverwendbaren Raumtransportsysteme mit chemischen Antrieben wie sie heute existieren, sind wohl die einzigen, die realistischerweise für die nächsten 50 Jahre entwickelt werden können. Alle anderen sogenannten "fortschrittlichen Antriebe" haben weder die technische Reife erreicht, noch kann gezeigt werden, daß sie den chemischen Antrieben wirtschaftlich überlegen sind. Langfristig haben die nuklearen und elektrischen Antriebe eine Chance, aber die technischen und politischen Probleme müssen erst noch gelöst werden.

Es wäre sicherlich anmaßend, wenn der Mensch glauben würde, daß er das einzige intelligente Wesen im Weltall wäre. Glauben Sie, daß bei uns landende Außerirdische uns vernichten würden, wie dies immer wieder in Science-Fiction-Filmen behauptet wird?

H.-H. Koelle: Nein. Ich halte es für unwahrscheinlich, daß im Laufe der Evolution von vielen Milliarden Jahren in der Nähe des Sonnensystems sich zufällig in derselben Periode eine andere Zivilisation entwickelt hat, die in diesen Jahrhunderten zu einem Kontakt mit der Menschheit führen wird. Ich glaube aber, daß es zu anderen Zeiten und in größerer Entfernung von unserem Sonnensystem andere Zivilisationen gegeben hat oder irgendwann geben wird. Wir sind sicher nicht die einzigen "vernunftbegabten" Wesen im Weltall.

Nehmen wir einmal an, daß es zukünftige Kolonien auf dem Mars gibt. Welchen Nutzen werden wir davon haben, wenn es uns nicht einmal gelingt, die Umweltprobleme auf unserer Erde zu lösen? Oder werden wir die Auswanderung zu fernen Planeten deshalb benötigen, weil wir bis dahin unsere Atmosphäre zunehmend zerstört haben?

H.-H. Koelle: Wenn es keine Katastrophen im Weltall oder auf der Erde gibt, wird die Menschheit wohl auf der Erde bleiben und sich mit kleinen Vorposten (Laboratorien) auf anderen Himmelskörpern unseres Sonnensystems zufrieden geben. Die Umweltprobleme auf der Erde sind beherrschbar, wenn wir es wollen - und davon gehe ich aus. Es dauert nur etwas länger, als viele es wollen. Die Medien hätten ein Problem, wenn wir die Umweltprobleme kurzfristig lösen würden!

Virtuelle Raumreisen im Rahmen von Simulationen benötigen so gut wie keine Energie. Welche Rolle spielt für Sie der Cyberspace und der Aufbau von digitalen Zivilisationen für die Entwicklung der Raumfahrt?

Aldrin betritt den Mond bei der ersten Apollo-Landung. Photo: NASA

H.-H. Koelle: Eine große Rolle. Hier ist Neuland, das noch beackert werden kann. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß es in absehbarer Zeit möglich sein wird, mit elektronischen Hilfsmitteln die benachbarten Himmelskörper zu besuchen und zu erkunden.

Sie sind nicht nur als Raumfahrtexperte bekannt geworden, sondern auch als einer der Pioniere der Systemwissenschaften in Europa. Warum arbeiten immer noch viele Manager ohne systemische Methoden?

H.-H. Koelle: Weil sie an ihren bisherigen Methoden gewohnt sind und der Mensch bequem und ein Gewohnheitstier ist. Denken ist anstrengend, und kreatives Denken ist eine besonders seltene Gabe! Die nächste Generation von Managern hat keine andere Wahl als in Systemen zu denken, oder sie werden keine Manager von Bedeutung sein.

Die kommende Wirtschaftsstruktur wird von Zukunftsforschern als Wissens-Ökonomie charakterisiert. Welche Perspektiven für die gesellschaftliche Entwicklung verbinden Sie mit der Ressource Wissen?

H.-H. Koelle: Mehr denn je: Wissen ist Macht! Derjenige, der schneller die Auswirkungen einer neuen Entwicklung auf seinem Rechner mit geeigneten Modellen simulieren und studieren kann, wird der Gewinner sein.

Technologiefolgenabschätzungen werden immer wichtiger. Sind unsere heutigen Ingenieurstudenten diesbezüglich ausreichend ausgebildet?

H.-H. Koelle: Nein, nur sehr wenige. Aber es wird wohl in den nächsten Jahren besser werden.

Sie waren stets ein Hochschullehrer, der für seine Studenten da war. Viele Professoren gründen heute Unternehmensberatungen oder fungieren hauptamtlich als Gutachter. Was kann getan werden, um den Niedergang der Lehre zu verhindern?

H.-H. Koelle: Ich sehe keinen Niedergang. Die Lehre hat sich seit meiner Studienzeit in vielen Bereichen erheblich verbessert. Die generelle Entwicklung ist nur recht langsam, weil die Menschen eben "Menschen" sind und nur schwer von alten Gewohnheiten abzubringen sind. Man ist ja nunmehr bemüht, auch an den Hochschulen die Leistungen von Hochschullehrern zu honorieren. Auch wäre eine Probezeit für jüngere Hochschullehrer sicher gut, bevor sie fest angestellt werden, falls sie sich nicht in der Praxis entsprechend bewährt haben.

Welche sind Ihre Lieblingsschriftsteller, Lieblingsmusiker und Lieblingsfilme?

H.-H. Koelle: Da muß ich passen, ich habe keine ausgeprägten Präferenzen. Ich bin eher ein sparsamer Verbraucher von Kulturgütern, oder besser: ich rechne mich zu den "Kulturbanausen", die sich nicht sehr viel Zeit nehmen, die Produkte anderer "Geistesarbeiter" zu konsumieren. Ich ziehe es vor zu den Produzenten zu gehören. Das ist zwar unfair, aber das Leben ist kurz!

Wer sind Ihre großen Vorbilder in der Wissenschaft?

H.-H. Koelle: Die großen Erfinder, die Ideen in die Praxis umgesetzt haben, diejenigen, die die moderne Welt geschaffen haben. Davon gibt es sehr viele, und ich möchte keinem Unrecht tun.

An welchen Projekten arbeiten Sie aktuell?

Der Mond. Photo: Nasa

H.-H. Koelle: Mich interessiert nach wie vor die Raumfahrtplanung für das 21.Jahrhundert. Mir ist es wichtig die Möglichkeiten aufzuzeigen, wie und wann die Rückkehr der Menschen zum Mond möglich ist, um anschließend den Mars zu erforschen. Wir Ingenieure und Planer - wer denn sonst? - haben die Pflicht, den Politikern die Optionen aufzuzeigen, die dazu beitragen, das Überleben unserer Zivilisation zu sichern. Sie können das nicht selbst tun, sie können und müssen aber eines Tages entscheiden. Das ist aber nur dann möglich, wenn wir die nötigen Vorarbeiten leisten und konkrete Pläne entwickeln, die auch machbar sind.

Wen Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie sich wünschen?

H.-H. Koelle: Ich würde gerne zum Mond fliegen wollen, um mich ein wenig dort umzusehen, was machbar und wünschbar wäre. Es gibt dort und auf anderen benachbarten Himmelskörpern eine Menge zu entdecken! Die Evolution geht weiter, noch sind wir nicht am Ende!