Wiederbelebung der Städte

Gebaute Orte anstatt der Virtualisierung und der modernen Megalopolis

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Der Architekt Robert Krier aus Luxemburg kritisiert die moderne Ideologie der Stadtplanung, die urbane Orte zu Wüsten werden ließ und den Gang in die virtuellen Welten als Ersatz fördert. Das Modell der traditionellen Stadt ist für ihn weiterhin Vorbild für die Gestaltung lebbarer Räume, die den Wünschen der Menschen entsprechen.

Sie haben eine radikale Kritik am modernen Städtebau vorgetragen. Er habe die Städte als Orte zerstört. Was ist Ihr Haupteinwand gegen den modernen Urbanismus?

Robert Krier: Daß die Städte keine Orte mehr sind und nur noch eine schwache Identität besitzen, ist nicht die Folge eines Unglücks, sondern einer falschen Ideologie. Das Hauptprinzip der modernen Stadtplanung ist Vermassung durch funktionale Zonierung gewesen. Sie ist der Ausdruck einer alles dominierenden industriellen Ideologie. Damit lassen sich gut Industriezonen mit riesigen Bauplätzen für große Organisationen planen, aber das genügt nicht, um eine menschliche Gesellschaft zu planen.

Ich meine nicht, daß die Zonierung im Prinzip falsch ist, aber durch die makrozellulare Planung ist das "Städtische" aus der Stadt verdrängt worden. Der Charakter in einer Stadt entsteht durch ihre vielschichtige Natur und unterschiedliche Fülle. Zu den Großen gehören auch die Kleinen. In der modernen Stadtplanung werden die kleinen Unternehmer, Handwerker und Begabungen vernachlässigt, weil sie nur als Überbleibsel der Vergangenheit angesehen wurden. In der Ideologie und in den Lobbys spielten sie keine Rolle. Die Länder, die heute am dynamischsten sind, haben neben den großen Unternehmen auch immer die kleinen Betriebe unterstützt oder ihnen zumindest das Leben nicht zu kompliziert gemacht.

Für eine gute Stadtplanung ist entscheidend, daß man innerhalb von bestimmten Stadtvierteln die größtmögliche Vielheit von benachbarten privaten und öffentlichen Funktionen und sozialen Schichten ermöglicht und fördert. Dafür muß es sehr unterschiedliche Baugrundstücke als Nachbarn geben. Es hängt dann natürlich auch davon ab, wie gebaut wird, aber ohne diese fundamentale Vielfalt an unterschiedlichen Baugrundstücken und Funktionen kann eine Stadt überhaupt keine Vielfalt entwickeln. Ohne diese wird sie nur eine Akkumulation von riesigen Bauten, riesigen Industriegebäuden, riesigen Wohnanlagen, riesigen Verkaufszentren, riesigen Schulanlagen etc. sein.

Die Städte wachsen und entwickeln sich nun bereits seit geraumer Zeit in den suburbanen Zonen. Hier gibt es zwar häufig eine verstreute Bebauung von Büros, Einkaufszentren, Firmen, Wohnanlagen und Einzelhäusern, aber es gibt kein urbanes Leben, wie wir es uns vorstellen. Diese Vororte, in denen die meisten der Menschen einer Stadt wohnen, gleichen einander überall in der Welt. Dort siedeln sich die Menschen häufig auch in bestimmten sozialen oder ethnischen Schichten an. Wie ließen sich denn diese riesigen suburbanen Bereiche urbanisieren?

Robert Krier: Man kann einfach global sagen, daß das 20. Jahrhundert nur einen Suburbanismus, aber keinen Urbanismus gekannt hat. Man sieht mittlerweile ein, daß Städte und Dörfer erst dann menschlich werden, wenn sie auch als Städte oder Dörfer geplant wurden. Die Kultur der Vororte ist eine unreife Form städtischer Kultur.

Es geht nicht unbedingt darum, jetzt neue zu bauen, sondern man sollte die Vororte als unfertig betrachten, also als entwicklungsfähig und -bedüftig. Man kann die Baugesetze so formulieren, daß die Stadt nicht ins offene Land auswuchert oder die Stadtzentren weiter verdichtet werden, sondern daß man die bestehenden Vororte in Städte oder Stadtteile umbaut. Nachbarschaft und unterschiedliche Funktionen alleine genügen nicht. Solange zwischen den Bauten kein qualitätsvoller öffentlicher Raum (traditionelle Straßen, Plätze, Bauwerke etc.) entsteht, wird nicht mehr als eine Ansammlung von Bauten entstehen. Eine Stadt aber ist strukturell mehr als eine Anhäufung von Gebäuden.

Wie kann man eine strukturlose Besiedlung in eine Stadt umwandeln? Wie läßt sich ein öffentlicher Raum schaffen, der dann auch tatsächlich belebt wird?

Robert Krier: Wenn man sich Vorstädte aus der Luft oder auf einem Plan ansieht, dann sieht man, wieviel Entwicklungsraum es dort gibt. Es gibt riesige Lücken zwischen den Gebäuden. Die Grundstücke sind oft so schlecht zugeschnitten, daß ein großer Teil des bebaubaren Gebietes nicht sinnvoll gebraucht werden kann. Die Gebäude können stehenbleiben und man muß neue Funktionen und Stadträume planen, die dort noch fehlen. Man kann beispielsweise keine Stadt ohne ein kohärentes Netz der Straßen und Plätze bauen. Jetzt gleicht dies oft einer wirren Struktur von Sackgassen und Einbahnstraßen, die kein kohärentes und lesbares Netz bilden. Ich habe in zahllosen Beispielen gezeigt, wie man das machen kann. Wenn man das als eine politische Aufgabe begreift, läßt sich ein Vorort sehr schnell umbauen. Dazu benötigt man keine Revolution. Man steuert einfach die normalen Veränderungen, die sowieso in einem Ort stattfinden, derart, daß daraus nach 20 Jahren eine Stadt entsteht.

Die Suburbanisierung im Industriezeitalter ist ein Effekt neuer Transport- und Kommunikationstechniken gewesen: Eisenbahnen, Straßenbahnen, Autos, Telegraphen und Telefone. Dadurch konnte man draußen wohnen und in der Stadt arbeiten. Computernetze schließen an diese Entwicklung an und eröffnen einen virtuellen Raum, in den viele bislang an Orte angebundene Funktionen einwandern können und der den Prozeß der Suburbanisierung und Dezentralisierung noch weiter beschleunigen wird. Räumliche Nachbarschaften und Verdichtungen könnten so in ihrer Bedeutung noch weiter abnehmen. Können Stadtplanung und Architektur wirklich solche tiefgreifenden Veränderungen der Lebenswelt, die von Techniken ausgelöst werden, beeinflussen und ihnen etwas entgegensetzen?

Robert Krier: Das sind Entwicklungen, die man nicht verhindern kann und will. Man muß nur einsehen, daß das, was etwa Telefon und Transportmittel ermöglichen, nicht unbedingt allen Wünschen und Träumen der Benutzer entspricht. Der Wunsch nach Heimat, Schönheit, Geborgenheit, d.h. nach einem glücklichen Leben, kann nicht durch Verkabelung ersetzt werden. Das sieht man am besten in den USA. Es gibt kein Land, das mehr verkabelt ist, trotzdem ist die Sehnsucht in Nordamerika nach richtigen Orten noch viel stärker, weil es hier nicht so viele Orte wie in Europa gibt. Wir müssen uns heute dessen bewußt werden, daß die neuen Techniken nicht zur Stadt als natürliches Resultat führen, sondern diese eher verhindern. Von Stadtplanern, Architekten, Künstlern oder Politikern müssen Stadtmodelle angeboten werden, die den gesellschaftlichen Wunschvorstellungen entsprechen. Die traditionelle Stadt war niemals ein Ergebnis von blinden ökonomischen Aktivitäten, sondern sie entsprach stets präzisen und allgemein wünschenswerten Vorstellungen. Modernistische Stadtutopien irrten darin, daß sie glaubten, Wunschvorstellungen seien überflüssig. Wir stellen aber fest, daß dies nicht der Fall ist. Wenn Wünsche verdrängt und mit Füßen getreten werden, dann überleben sie als Kitsch und Karikatur.

Die permanente Mobilmachung der Menschen in der globalen Ökonomie und der vernetzten Welt verhindert vielleicht entgegen aller Wünsche das permanente Leben an einem Ort. Man wechselt die Orte, an denen man lebt, genauso wie die Arbeitsplätze und die Lebenspartner. Orte aber leben vor allem durch die Menschen, die hier zuhause sind, die sich in ihnen eingerichtet und ihre Spuren hinterlassen haben. Auch wenn man architektonisch Orte als Struktur und Bild schafft, ist doch keineswegs gesagt, daß sie auch als Orte wie einst die Städte belebt werden.

Robert Krier: Man darf nicht zu starke Hoffnungen an eine schnelle Verwirklichung von Ideen haben. Ich will einfach eine Korrektur anmelden. Wie weit diese dann tatsächlich verwirklicht wird, ist eine andere Sache. Man kann nicht einfach weiter bauen, ohne ein wünschenswertes Konzept von Zentralität und Architektur zu entwickeln. Die alten Stadtzentren können nicht ewig als Zentren für parasitäre Vororte dienen, denn sie sind so gigantisch geworden, daß die alten Stadtzentren dadurch total ihr Wesen verändern und sie nicht mehr dem entsprechen, was man von einem Stadtzentrum erwartet.

Ihre Vorstellung geht vermutlich dahin, die Stadt polyzentrischer zu machen?

Robert Krier: Ja. Trotz aller Verkabelung und Dezentralisierung ist es der Wunsch der meisten Menschen noch immer, den anderen auf den Straßen und Plätzen zu begegnen und nicht nur in einem Strom von Menschen und Autos unterzugehen. Sie wollen in einem wirklichen alltäglichen Kontakt mit anderen Menschen stehen. Menschen begegnen sich zwar immer noch auf Korridoren oder Flughäfen, aber es ist ein riesiger Unterschied, ob es sich dabei um Menschenmassen auf einem Flugplatz oder um Individuen auf einem schönen Platz in der Stadt handelt. Ich will nicht sagen, daß dies überall so sein muß, aber man sollte Alternativen anbieten. Das ist genauso wie auf einem Markt, auf dem Verschiedenes angeboten wird. Wenn etwas keine Käufer findet, dann wird es sich auch nicht durchsetzen. Ich glaube, daß es für neue traditionelle Architektur und Stadtplanung einen riesigen Bedarf gibt.

Seit dem Aufkommen der großen Städte im industriellen Zeitalter wurde als Alternative die Gartenstadt im Grünen als Modell von schönen Orten mit einem kleinen Zentrum für überschaubare Gemeinschaften angeboten. Das scheint auch heute noch immer die Köpfe der Architekten und Stadtplaner zu beherrschen. Geht Ihre Vorstellung einer Urbanisierung der Vororte in eine grundsätzlich andere Richtung?

Robert Krier: Der Traum der Gartenstadt ist als Reaktion auf die gigantische Verdichtung und Verhäßlichung der Städte im 19. Jahrhundert entstanden. Industrie und Verkehr haben die Städte so kaputtgemacht, daß man vom heilen Land träumte. Man kann aber Städte planen, in denen die Privathäuser noch Gärten haben und gepflegte Natur noch in allernächster Nähe vorhanden ist, so daß man nicht unbedingt nach Natur lechzen muß. Man muß die unmenschlichen Konzentrationen vermeiden, durch die erst der Kontrast zum Land entsteht. Poundbury und Richmond Riverside in England, Windsor und Kentlands in den USA, Port Grimaud, Gassin, Pont Royal en Provence und Plessis-Robinson in Frankreich sowie zahllose im Bau befindliche Ortsplanungen zeigen, daß es eine neue traditionelle und moderne Baukultur gibt, die weder aggressiv noch kitschig ist. Sie beweisen, daß auch heute neue Dörfer und Städte entstehen können, die den Einwohnern wieder zur Heimat werden können.

Die Städte auf der Welt werden immer größer. Megacities mit 10, 20 oder 30 Millionen Menschen sind riesige Flächen, eigentlich schon richtige Regionen oder Ländern. Läßt sich hier überhaupt noch eine polyzentrische Planung von einzelnen Siedlungen oder Edge Cities realisieren?

Robert Krier: Megalopolis ist ein Problem an sich. Das Modell des Stadtviertels ändert sich aber wenig, egal wie groß der Stadtverband ist. Ein lebbares, angenehmes und menschliches Stadtviertel soll nie größer als 30 oder 40 Hektar sein. Das hat damit zu tun, wieviel ein menschlicher Körper jeden Tag begehen kann. Ob eine Stadt aus drei oder aus 200 Stadtvierteln besteht, ist eine andere Sache. Ökologisch müßte auch eine intelligente Beziehung zwischen Stadt und Land garantiert werden. Das aber hängt von der Politik ab, die wir heute überhaupt nicht im Griff haben. Ich spreche im Moment nur über die Größe von Stadtvierteln, weil das Stadtviertel der fundamentale Baustein aller Städte und Großstädte ist.

Man kann der Megalopolis nur entgegentreten, indem man eine überlegene Konkurrenz mit einer intelligenten Zerstreuung außerhalb ihrer aufbaut. Megalopolis ist ein Problem, das primär politisch gelöst werden muß. Es gibt Theorien von Wirtschaftswissenschaftlern, die besagen, daß eine hohe urbane Konzentration einen maximalen Mehrwert erzeugt. Das sind Modelle, die das menschliche Element nicht mehr enthalten. In Paris entsteht beispielsweise statistisch ein größerer Mehrwert als auf dem Land. Aber daraus ein Politik zu entwickeln, die drei Millionen Einwohner mehr auf Paris zu konzentrieren sucht, ist in meinen Augen kriminell und dumm, weil das menschliche Leiden, das aus solchen Konzentrationen entsteht, nicht in die Rechnung einbezogen wird.

Es könnte sein, daß gerade die Misere der großen Städte und suburbanen Regionen die Menschen sowohl in der Arbeits- als auch in der Freizeit immer mehr in die elektronische Räume treibt. Man hält es in der Öde der Stadt nicht aus, vielleicht wird sie einem auch zu gefährlich. Man schließt sich in Stadtviertel, Malls oder virtuellen Räumen ein. Stadtplanung hätte dann, wenn dies so wäre, tatsächlich die große Aufgabe, durch neue Modelle von lebbaren Städten diesen Auszug aus der Stadt zu kompensieren. Architekten sollten daher nicht nur einfach die technischen Entwicklungen aufnehmen, sondern dagegen steuern und den Drang zur Virtualisierung, so weit es geht, unnötig machen. Entspricht das Ihren Vorstellungen?

Robert Krier: Es ist meine absolute Überzeugung, daß die Menschen noch immer nach Glück streben. Das hat mit Liebe, Schönheit, gutem Essen und überhaupt gutem Leben zu tun. Wenn ihnen das nicht mehr gelingt, dann suchen sie nach einem Ersatz. Ein großer Teil der Virtualisierung ist einfach ein Ersatz für das, was man natürlicherweise nicht mehr haben kann. Daß das aber in Zukunft das gute Leben ersetzen wird, glaube ich nicht. Trotz aller Virtualisierung wird das Bedürfnis nach normalem menschlichen Glück weiterhin groß sein - und das wird irgendwann zu einer Veränderung der Städte führen.

Wir befinden uns gerade in einer Phase des Lernens. Die Menschen werden die Verwüstung und Verhäßlichung der Städte nicht einfach fatalistisch über sich ergehen lassen. Es wird zu einer Reaktion kommen. Die Flucht in den Kitsch und jetzt in den virtuellen Kitsch ist lediglich eine Reaktion. Aber das ist weder ein Endzustand noch eine Apokalypse, sondern eine Folge der Frustration. Ersatz kann Frustrationen zeitweilig täuschen und lindern, aber nicht auflösen. Man kann kein ganzes Leben lang mit Ersatz leben. Dann drehen die Menschen durch und werden gewalttätig. Das wird langfristig eine andere Welt mit sich bringen, die wieder näher am menschlichen und möglichen Glück orientiert ist, weil es anders einfach nicht geht. Auf diesem Weg aber werden mittlerweile sehr viele Umwege eingeschlagen. Das Modell, das ich anbiete, garantiert nicht das menschliche Glück, aber es will dem Streben danach zumindest nicht im Wege stehen.