Meta-Morphing

Überlegungen zu einem alltäglichen und zugleich unheimlichen Phänomen der digitalen Bilder

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Wurde etwas jemals so schnell zum Klischee und gleichzeitig so oft als "unheimlich" empfunden wie das digitale "Morph"? Mittlerweile sind wir von diesen Bildern, in denen das eine sich in etwas anderes verwandelt, überschwemmt und gewöhnen uns an sie. Vivian Sobchak setzt Morphing in Beziehung zum Schnitt und zur Einstellung beim Film. Morphen ist für sie eine Technik, die auf der Oberfläche der Bilder eine Gleichheit schafft, um deren Verwirklichung die Menschen in der Realität betrogen werden.

Einerseits wurde das Morph als bestimmtes figürliches Phänomen in kurzer Zeit durch Werbung, Filme und billige Software, die wir alle für unseren Heimcomputer kaufen können, völlig vertraut und banal. Uns sind die Autos, die sich in Tiger verwandeln, die verflüssigten und sich verändernden menschlichen Körper, die zu starren Gegenständen werden, die Männer, die zu Frauen, die Weißen, die zu Schwarzen, die Hunde, die zu Katzen werden, bereits über geworden. Andererseits gibt es nichts Unvertrauteres und Faszinierenderes als die elastische Formbarkeit dieser digitalen Metamorphosen. Und es gibt nichts Unheimlicheres als das vom Morph ausgehende Gefühl, daß der Fluß der Transformation in seiner ganzen Perfektion und Beherrschbarkeit des Wandels selbst ungemacht bleibt und wesentlich bedeutungslos wird - nicht nur weil diese Veränderung endlos wiederholbar ist, sondern weil sie grundlegend reversibel ist.

Es ist lehrreich, die Figur und das zeitliche Wesen des digitalen Morph einerseits mit dem "Schnitt" und andererseits mit der langen Einstellung beim Film zu vergleichen. In der Begrifflichkeit der klassischen Theorien des Kinos und der Konstruktion der zeitlichen Bedeutung sind beide Transformationsarten (die erste ist mit Sergej Eisenstein, V. I. Pudovkin und der "Montage", die zweite mit André Bazin und der "mise-en-scène verbunden) scharf von Prozeß der Metamorphose - und der Bedeutung - des digitalen Morph abgegrenzt. Im ersten Fall zeigten die sowjetischen Filmemacher immer wieder, wie Bedeutung und Zeitlichkeit durch die Anordnung von Bildern bestimmt sind, die vom "Schnitt" übereinandergelegt oder verbunden werden. Eine Umstellung von zwei oder mehr Bildern wird ihre zeitlichen Verbindungen und folglich ihre Bedeutung ändern. Selbst wenn der Schnitt eher assoziativ als linear erfolgt, selbst wenn man zwischen Aufnahmen die weichere "Überblendung" verwendet, bleibt eine gewisse Kausalität, ein gewisser phänomenologischer Eindruck des Zeitablaufes und der zeitlichen Gravitation bestehen.

Der Unbestimmtheit preisgegeben, ist das Subjekt weder das eine noch das andere - es ist nur das Selbe.

Jean Baudrillard: Die Hölle des Selben

Im zweiten Fall privilegierten Bazin und andere "Realisten" nach dem Zweiten Weltkrieg die "lange Einstellung". Man schwörte dem Schnitt ab und hielt die Objekte im Blickfeld der Kamera. Die "lange Einstellung" ermöglichte so, daß Veränderungen in "Echtzeit" in ihrer existentiellen Bedeutung durch einen Prozeß des "Werdens" ablaufen konnten. Auch wenn Metamorphosen der Handlung und der Filmfiguren durch die Kamerabewegung und durch die reichhaltigen und gleichzeitigen räumlichen Beziehungen, die aus zusammen mit der "langen Einstellung" entstehen, komplizierter werden, ist die Zeitlichkeit der "mise-en-scène" linear und progressiv. Was immer ihre Unterschiede auch sein mögen, so machen beide Formen der Transformation eine nicht reversible Bedeutung geltend. Überdies erweisen sich die durch Montage und "mise-en-scène" erzielten Transformationen, was nicht weniger wichtig ist, als die Folge zeitlicher Arbeit. Im ersten Fall ist es die Arbeit des Filmemachers, der den Film klebt, um die symbolische Bedeutung einer bestimmten Anordnung herauszustellen, oder im zweiten Fall, um Filmfiguren oder Objekte in der phänomenalen Welt Hindernisse überwinden zu lassen, während sie sich in der "wirklichen" existentiellen Zeit aufhalten und verändern. Anders als seine Vorgänger beansprucht jedoch das digitale Morph weder eine irreversible Bedeutung noch eine evidente Transformation als Folge der zeitlichen Arbeit. Phänomenologisch erfahren wird die Gestalt des Morphes trotz seiner dramatischen Zurschaustellung des zeitlichen Wandels als reversibel und anstrengungslos. Vielleicht macht ihn dies so unheimlich. Als eine Figur stellt er die Veränderung drmatisch dar. Und die Transformation ist auch seine Existenzberechtigung. Dennoch ist deren übertriebene Darstellung auch eine Reduktion, mittels derer sich die Transformation als eine Existenzberechtigung den Wandel seiner zeitlichen Besonderheit und seines symbolischen und existentiellen Wertes beraubt. Insbesondere gibt das Morph zu erkennen, daß es als eine Figur der Transformation (was man deutlich in der Werbung für und der Ausbildung in Morphing sieht) dazu neigt, sich selbst zwischen zwei Polen zu verwandeln, die Klischees von Gegensätzen darstellen. Er führt also primär nicht nur die Gleichheit über die Verschiedenheit hinweg, sondern auch die Gleichheit des Verschiedenen vor Augen.

Obgleich der Ablauf des Morphs oft kulturelle Gegensätze in ihren statischen Aspekten (z.B. Geschlecht, Rasse, Gattung und Subjekt-Objekt-Gegensätze) darstellt, wird über ihn versucht, diesen binären Gegensatz in der homogenen, grenzenlosen und mühelosen Bewegung der Transformation und implizierten Reversibilität zum Verschwinden zu bringen. Für das phänomenologische Wissen seiner Möglichkeit ist es unbedeutend, ob man die Umkehrung wirklich sieht oder nicht. Nicht nur der Unterschied, auch das "Anderssein" wird ausgelöscht, was vielleicht am besten in Michael Jacksons Musikvideo "Black and White" von 1991 dargestellt wird. Hier fallen Unterschied und Anderssein in Gleichheit zusammen, während wir eine Reihe von menschlichen Gesichtern sehen, die durch beides gekennzeichnet sind, aber ineinander in einer reversiblen Kette gemorpht werden, so daß sie einnander nicht ähneln, sondern gleichen.

René Magritte: Der Verrat der Bilder

Viele Bilder von René Magritte findet man in der belgischen virtuellen Galerie.

Michel Foucault bietet eine nützliche Unterscheidung zwischen den beiden, völlig unterschiedlichen Logiken der Ähnlichkeit und der Gleichartigkeit an. Die Metapher (und der Schnitt), die Beziehungen der Ähnlichkeit können eine Gleichartigkeit unterstellen, aber sie zeigen diese auf der Grundlage des Unterschieds und sind zeitlich (und kulturell) hierarchisch, da sie die "Unterwerfung" des einen Begriffs unter den anderen erzwingen, der das "ursprüngliche" Modell darstellt. Hier bringt die zeitliche Anordnung einen kulturellen Wert und eine Bedeutung mit sich. Wenn das digitale Morph nicht wesentlich reversibel wäre, dann würde es in einem nicht trivialem Sinne etwas bedeuten, wenn eine Frau in einen Mann oder einen Luchs oder ein Afro-Amerikaner in einen Kaukasier verwandelt wird. Beziehungen der Gleichartigkeit unterstellen jedoch wie das Morph einen Unterschied, aber sie handeln von Gleichheit und sind nicht-hierarchisch und reversibel.

Die Ähnlichkeit hat einen 'Patron': ein Original, das von sich aus sämtliche Kopien beherrscht und hierarchisiert, welche man von ihm herstellen kann und welche sich immer weiter von ihm entfernen. Ähnlichsein setzt eine erste Referenz voraus, die vorschreibt und klassifiziert. Das Gleichartige entfaltet sich in Serien, die weder Anfang noch Ende haben, die man in dieser oder jener Richtung durchlaufen kann, die keiner Hierarchie gehorchen, sondern sich von winzigem Unterschied zu winzigem Unterschied ausbreiten. Die Ähnlichkeit dient der Repräsentation, welche über sie herrscht; die Gleichartigkeit dient der Wiederholung, welche durch sie hindurch läuft. Die Ähnlichkeit ordnet sich dem Vorbild unter, das sie vergegenwärtigen und wiedererkennen lassen soll; die Gleichartigkeit läßt das Simulakrum als unbestimmten und umkehrbaren Bezug des Gleichartigen zum Gleichartigen zirkulieren.:Michel Foucault: Das ist keine Pfeife

Es ist angemessen, daß Foucault diese Unterscheidungen zwischen Ähnlichkeit und Selbigkeit in "Das ist keine Pfeife", seiner Meditation über René Magritte, ausführt. Viele von Magrittes Gemälden zeigen uns den unheimlichen und paradoxen Augenblick, in der die Analogie ohne Bedeutung und der Unterschied ohne Folge die Veränderung selbst in eine statische Wesenheit verwandeln. ("Die Erklärung", 1952, verbindet die Eigenschaften einer Weinflasche und einer Karotte zu einem unmöglichen Objekt, "Das Reich des Lichts", 1954, stellt die Gegensätze von Tag und Nacht sowohl heraus und läßt ihre Unterschiede verschwinden, "Die Ausnahme" (1963) läßt eine Zigarre und einen Fisch miteinander verschmelzen.)

Anders als die meisten Zeichen der Transformation und den Bildern von Magritte ähnlich, welche die Transformation in einen permanenten Fluß einfrieren, während sie gleichzeitig die Veränderung und den Unterschied in der Zeit darstellen, ist das Morph palindromisch und kann ohne Bedeutungsveränderung vorwärts und rückwärts gelesen werden. Es ist also kein Zufall, daß der "shape shifter" von Star Trek: Deep Space 9 den Namen Odo trägt und daß er "zur Erholung" in seinem flüssigen und nicht fixierten Zustand einen "Behälter" benötigt und in einem Eimer lebt. Odo, der sich in seinem Eimer - eingesperrt - als "Flux" erholt, ist sowohl eine Erzählung als auch eine Glosse über das Wesen des Morph. Es ist der einfache Wandel als reine Form ohne Inhalt, d.h. eine Form ohne Kausalität, die jeder Besonderheit und Vernunft beraubt und angefüllt mit zeitlicher Bedeutung ist. Transformation und alle ihre Folgen werden mit dem Begriff der ewigen Wiederkehr (in den Eimer?), mit dem Rhythmus der Wiederholung, mit einer totalisierenden Zirkularität verbunden, der alles untergeordnet und in der alles gleich wird.

In gewisser Weise habe ich hier den digitalen Morph (so wie er sich selbst geschaffen hat) als ein paradoxes metaphysisches Objekt des Begehrens konstruiert: als etwas, das ein Nicht-Ding einer idealen Kantischen Reinheit ist. Es repräsentiert und inszeniert Transformation, Metamorphose, Veränderung jenseits von Zeit, Arbeit, Kampf und Macht und überschreitet offenbar die Strukturen der Sukzession und Hierarchie. Seine unheimliche Wirkung entsteht aus der Formulierung der westlichen Metaphysik in einer sichtbaren und konkreten Form. "Das Bild in diesem Rahmen", so Gordon Teskey in einem anderen Kontext, "wird nicht als etwas verstanden, durch das der Geist den Fluß des Werdens betrachtet, sondern als etwas innerlich Unterschiedenes, dessen Gesetz das Fließen ist." In der Praxis wurde das Morph in den existentiellen und banalen Dienst von Autowerbungen, Hollywooderzählungen und Michael Jackson gestellt. In der Praxis provoziert es auch kaum die reflexiven Rätsel über die Transformation und Ähnlichkeit, wie sie von Magrittes Bildern gestellt werden.

In der Praxis hat die phantastische, unheimliche Erzeugung von umkehrbaren und nicht-hierarchischen Ähnlichkeitsbeziehungen wenig mit Demokratie oder der Lösung gesellschaftlicher Probleme zu tun, die aus den rassistischen, sexuellen und spezifischen Diskriminierungen einer gegebenen Kultur entstehen, sondern mit der Dramatisierung des Mythos einer Verschiedenartigkeit, die sich leicht, ohne Arbeit, Kampf, Gewalt und Schmerz, homogen machen läßt. Während überdies das Morph als bestimmte digitale Figur im Vordergrund unseres Blicks steht, wird es schnell durch seine Funktionen im Hintergrund unserer sichtbaren Fiktionen überschritten. Es wird alltäglich und so zunehmend unsichtbar - genauso, wie dies zuvor mit dem Filmschnitt geschehen ist. Sicherlich sollten wir in der Zeit, in der wir es noch sehen können, seine Existenz hinterfragen und seine Beziehung zu uns durchdenken.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer