Regierungsinterne Machtkämpfe in Afghanistan

Atta Mohammad Noor, Gouverneur der Balkh-Provinz mit der Hauptstadt Masar-e Scharif im Norden Afghanistans. Bild (2011): DoD

Wie der Warlordismus Afghanistan zerbrechen könnte

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Afghanistan wurde in den letzten Tagen von mehreren Anschlägen erschüttert. Allein in der Hauptstadt Kabul starben bei einem Bombenattentat über einhundert Menschen. Der Anschlag, zu dem sich die Taliban bekannten, war besonders perfide. Der Sprengstoff befand sich in einem Krankenwagen. In der Umgebung des Anschlages sind mehrere Regierungsgebäude, darunter etwa der afghanischen Armee sowie dem Geheimdienst zugehörig. Die absolute Mehrzahl der Opfer sind Zivilisten gewesen, die sich, wie sonst auch, im täglichen Kabuler Trubel befanden.

Auch in anderen Regionen des Landes droht Eskalation. In Dschalalabad, Hauptstadt der Provinz Nangarhar, wurden bei einem IS-Angriff auf das Büro der Organisation "Save the Children" mehrere Menschen getötet. In der nördlichen Provinz Kunduz finden tagtäglich Militäroperationen statt, darunter auch US-Luftangriffe, die Zivilisten das Leben kosten. Doch bei all dem Chaos droht der afghanische Staat nicht nur im Kampf gegen Aufständische zu zerbrechen. Bereits seit längerem tobt ein interner Machtkampf, der die Kabuler Regierung Kopf und Kragen kosten könnte.

Denn das Jahr 2017 endete mit einem innenpolitischen Machtkampf, der weiterhin kein Ende gefunden hat. Atta Mohammad Noor, der mächtige Gouverneur der nördlichen Provinz Balkh, wurde von der Kabuler Regierung abgesetzt. Die Anhänger Präsident Ashraf Ghanis zelebrieren den Schritt als Erfolg. Noor, ein berühmt-berüchtigter Kriegsfürst, der nach dem Einmarsch der NATO sein provinzielles Privatimperium errichtete, galt für viele Menschen als unantastbar. Nach der Verkündung seiner Absetzung drohte er, Regierungschef Abdullah Abdullah die Zähne auszuschlagen. Abdullah, Noors Parteikollege und Mitstreiter aus Mudschaheddin-Tagen, hatte Ghanis Schritte gegen den Warlord mit voller Unterstützung abgesegnet.

Zähne ausschlagen. Ja, das - oder zumindest diese Rhetorik - ist immer noch ein Teil von Afghanistans Politik und macht das Problem deutlich. Auf der einen Seite gibt es Technokraten wie Präsident Ghani, auf der anderen Kalaschnikow-Helden wie Noor. Sie sind allesamt Produkte des afghanischen Zeitgeistes. Für viele Afghanen hat Ghani wenig mit dem Land, das er regiert, zu tun. Früh verließ er Afghanistan und begann sein Studium im Ausland. Währenddessen tobte Krieg im Land, und Männer wie Noor wuchsen heran und griffen nach Macht. Bis heute werden sie teils als Helden betrachtet, teils allerdings auch als große Menschenrechtsverbrecher, die in den 90er-Jahren Kabul und andere Städte in Schutt und Asche legten.

Es gibt kaum jemanden, dem es gelingt, all diese Männer an einem Tisch zu bringen, um mit ihnen erfolgreich Politik im Interesse Afghanistans zu betreiben. Kritiker Ghanis werfen ihm etwa das Stiften von Unruhe vor, von denen andere - allen voran die aufständischen Taliban oder der extremistische IS - profitieren könnten. Dieser Vorwurf ist nun, nach den jüngsten Anschlägen, besonders laut.

Im Hintergrund agiert Ex-Präsident Karzai, der die Warlords an die Macht brachte

Doch bei all dem Tumult tritt eine weitere Politfigur ins Licht: Ex-Präsident Hamid Karzai. Seitdem Ashraf Ghani ihn beerbt hat, hat sich dieser nämlich keineswegs in den Ruhestand verabschiedet. Stattdessen trifft er sich in Kabul regelmäßig mit Stammesführern, Politikern, Journalisten oder ehemaligen Geheimdienstlern und Militärs - oder tourt durch die Welt. Außerdem kritisiert Karzai regelmäßig die gegenwärtige Regierung.

Ende November war Karzai Ehrengast der jährlich stattfindenden Afghanistan-Konferenz in Schwerte. Für Männer wie Noor fand er ausschließlich lobende Worte, indem er ihre Bedeutung für die afghanische Gesellschaft mit jener von Weltkriegsveteranen in Westeuropa verglich. Nicht jedem gefiel das.

Verwunderlich ist das jedoch keineswegs, denn kurz nach dem Einmarsch der NATO war es Karzai, der sich mit den Warlords verbündete und sie an die Macht brachte. Was er selbst als "Erfolg" sieht, wird von vielen anderen jedoch als grundlegender Systemfehler im Wiederaufbau des afghanischen Staates betrachtet.

Dieser Fehler ist auch einer der Hauptgründe, warum Afghanistan im Jahr 2018 - nach mehr als sechzehn Jahren NATO-Besatzung - so gut wie keinen Schritt weitergekommen ist. Es ist auch dieser Fehler, der die Taliban, die mittlerweile fast die Hälfte des Landes umkämpfen oder bereits in ihrer Kontrolle haben, stetig wachsen lässt. Und trotz der Abservierung Noors wird dieser Fehler, so scheint es, erhalten bleiben.

Als abserviert betrachtet sich dieser im Übrigen weiterhin nicht. Obwohl die Kabuler Regierung bereits einen Nachfolger für Noor ausgewählt hat, will dieser seinen Posten nicht räumen. "Sie dachten, dass ich so sei wie die anderen Gouverneure, die sie mit einem Blatt Papier ernannt haben und mit einem Blatt Papier entfernt haben. Ich bin der führende Chef einer starken politischen Partei, ich bin Teil einer starken Koalition und die Menschen vertrauen meiner Person und meinem Charisma", meinte er in einem Interview mit der New York Times.

Außerdem hat Noor große Pläne. Sobald eine Absetzung, die seiner Meinung nach nur nach seinen Wunschvorstellungen - er hat der Regierung Bedingungen gesetzt - geschehen kann, erfolgt ist, möchte er für die nächsten Präsidentschaftswahlen kandidieren.