Migranten aus Libyen: Italien vor Gericht

Foto: sea-eye.org

Eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) macht Italien für schwerwiegende Verstöße der libyschen Küstenwache verantwortlich

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Nominell kommt nun Italiens Abriegelungspolitik vor das Menschenrechtsgericht, politisch gesehen steht die ganze EU vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Denn beklagt wird eine Praxis, die nicht nur von Italien, sondern auch von anderen Mitgliedsländern, zum Beispiel Deutschland, aktiv mitgetragen und/oder gefordert wird.

Die Forderung nicht nur in Italien, sondern auch innerhalb der EU heißt: Es sollen so wenig Migranten wie irgend möglich aus Libyen über das Mittelmeer nach Italien kommen. Ein wichtiges Hindernis auf dem Weg ist die libysche Küstenwache, die von Italien und der EU unterstützt wird.

Deren Maßnahmen verletzten Menschenrechte, bezeugen 17 Überlebende eines Vorfalls im Mittelmeer im vergangenen November. Zusammen mit mehreren Menschenrechtsorganisationen haben sie Klage am EGMR eingereicht - gegen Italien, da das Land nach Auffassung der Kläger wegen seiner Vereinbarung mit Libyen (siehe Italy-Libya agreement) für die Menschenrechtsverletzungen der libyschen Küstenwache rechtlich zur Verantwortung zu ziehen ist.

Eine Politik, die über Leichen geht

Beim Vorfall vom 6. November 2017 wird der libyschen Küstenwache vorgeworfen, dass sie die Rettung von 130 Migranten durch das NGO-Schiff Sea-Watch 3 behindert habe. Dabei sind 20 Migranten gestorben. Das Ganze wird von den Klägern bezeugt. Laut Aussagen von Organisationen, die die Klage unterstützen, liegt genügend Beweismaterial vor:

Audio-visuelle Aufzeichnungen von NGOs auf See haben es uns ermöglicht, Vorfälle wie die in dieser Anwendung beschriebenen mit beispielloser Präzision zu rekonstruieren. Was dabei herauskommt, ist eine erschütternde Geschichte, die die dramatischen Auswirkungen Italiens und der EU-Politik des "Pull-back by Proxy" deutlich sichtbar macht.

Lorenzo Pezzani, Mitbegründer des Projekts Forensic Oceanography

Angeklagt wird demnach eine Politik, die über Leichen geht. Der Grundkonflikt zwischen der libyschen Küstenwache und den NGOs - der sich in einer ganzen Reihe von Vorfällen zeigt - besteht in dem Streit darüber, ob Migranten, die vor der Küste Libyens gerettet werden, wieder zurück nach Libyen gebracht werden sollen oder in einen Hafen außerhalb Libyens, was in aller Regel auf einen italienischen Hafen hinausläuft.

Auswärtiges Amt: Bericht über Exekutionen in Flüchtlingslagern

Boote der libyschen Küstenwache bringen Migranten wieder zurück nach Libyen, wo sie als illegale Migranten in Flüchtlingslager gebracht werden. Die Zustände in den Lagern sind "katastrophal". Den dort Inhaftierten drohen abgesehen von unzumutbaren sanitären Zuständen und einer mangelhaften Versorgung mit dem Allernötigsten, Gewalt, Prügel, Folter, Vergewaltigungen und, wie ein aktuell veröffentlichter interner Diplomaten-Bericht des Auswärtigen Amtes von 2017 aufzeigt, sogar Tod durch eine "Hinrichtung".

Exekutionen nicht zahlungsfähiger Migranten, Folter, Vergewaltigungen, Erpressungen sowie Aussetzungen in der Wüste sind dort an der Tagesordnung (..) Augenzeugen sprachen von exakt 5 Erschießungen wöchentlich in einem Gefängnis - mit Ankündigung und jeweils Freitags, um Raum für Neuankömmlige zu schaffen.

Drahtbericht des Auswärtigen Amts mit dem Titel "Rückkehr aus der Hölle", zitiert in Frag den Staat, 7. April 2018

Für die NGO-Schiffe ist es wegen der Bedingungen in den Flüchtlingslagern, die schon länger bekannt sind, ausgeschlossen, dass im Meer gerettete Migranten wieder zurück nach Libyen gebracht werden. Das verstößt gegen das internationale Seerecht, das eine Verbringung in einen sicheren Hafen verlangt, so ihr Argument.

Zwischen ihnen und der Küstenwache, die von Italien mit großzügigen materiellen Mitteln, zum Beispiel mit vier Patrouillenbooten, und erheblicher politischer Rückendeckung unterstützt wird, herrscht ein sehr angespanntes Klima, das leicht eskalieren kann. Die NGOs berichten seit vielen Monaten von Behinderungen, einschüchternden Manövern und Drohungen - sogar mit Waffen - seitens der libyschen Küstenwache.

Man könnte fast von einem Krieg zwischen den NGOs und der libyschen Küstenwache sprechen. Insofern kommt der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über die Klage schon eine öffentliche Relevanz für die Bewertung der "Push-back-Politik" zu. Welche praktischen Auswirkungen das hätte, ist aber noch völlig unklar.