Tunesien: Frauen sollen mehr erben

Frauen in Tunis, 2012. Bild: Peter van der Sluijs / CC BY-SA 3.0

Präsident Essebsi will die bisherige Situation "umdrehen" - zum Verdruss von Traditionalisten und Islamisten

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Tunesien sorgt wie sonst nur die Kurden für Lichtblicke in einer Umgebung, in dem radikale Islamisten aufblühen. Gestern war "Tag der tunesischen Frau" und Präsident Béji Caïd Essebsi kündigte an, dass er sich beim Erbschaftsrecht für eine Änderung stark macht, die in arabischen Ländern ihresgleichen sucht: Dass weibliche Erben den männlichen im Recht gleichgesetzt werden.

Nach der bisherigen Rechtslage erbt der Bruder das Doppelte dessen, was die Schwester erbt. Das geht, so ist in sämtlichen Medienberichten dazu zu lesen, auf islamisches Recht zurück: Den Männern wird, selbst wenn der Familiengrad zur Person, die beerbt wird, gleichrangig ist, das Doppelte zugesprochen.

Man werde die Situation nun umdrehen, erklärte Béji Caïd Essebsi in einer vom Fernsehen übertragenen Rede. Die Gleichheit werde jetzt zur Regel gemacht und die Ungleichheit zur Abweichung, statt umgekehrt wie es bislang der Fall war.

Natürlich gibt es auch in Tunesien Notare und testamentarische Verfügungen, die eigene Bestimmungen enthalten, die Wende ist noch in keinem Gesetz festgeschrieben und debattiert werden mehrere Möglichkeiten.

Viel Rückhalt erhält laut Medienberichten die Option, dass Frauen und Männer gleichgestellt werden, die Frau sich aber auch für die traditionelle Regelung entscheiden kann - wenn sichergestellt ist, dass dies nicht auf äußeren Druck geschieht. Wie das sichergestellt werden soll, gehört zu den sehr vielen schwierigen Fragen.

Widerstand nicht nur von Islamisten

Essebsi will das die Gleichstellung im Erbrecht im Herbst vors Parlament kommt und dort darüber debattiert und entschieden wird. Die Gegenwehr ist beträchtlich, sie kommt, laut Berichten dazu, nicht nur wie erwartet von Islamisten.

So berichtet die französische Publikation La Croix, dass es schwierig sei, die Chancen für die Änderung auszumachen, weil sich nur wenige Parlamentarier klar zu ihrer Position geäußert haben.

Die Uneinigkeit über das Thema verläuft demnach quer durch alle Parteien. Zur Kluft in der Frage des Erbrechts gesellen sich noch eine ganze Reihe anderer Reformpunkte, die beträchtliches Konfliktpotenzial haben.

Mehr Gleichheit und individuelle Freiheiten

Essebsi (manchmal auch Sebsi geschrieben, oft wird der ganze Name mit ECB abgekürzt) hatte die Ankündigung bereits vor einem Jahr gemacht - zum Tag der tunesischen Frauen 2017 - und damals versprochen, dass sich eine Kommission generell darum kümmern soll, wie es den mit der Gleichheit und den individuellen Freiheiten im tunesischen Recht bestellt sei (vgl. Tunesien: Präsident gegen islamische Dogmatiker).

Geht es nach euphorischen Berichten, so hat die Kommission für die individuelle Freiheiten und die Gleichheit (Commission des libertés individuelles et de l’égalité - COLIBE) noch am selben Tag mit der Arbeit begonnen. Sie ist zusammengesetzt aus ausgewählten Repräsentanten der Zivilgesellschaft, angeführt von der Anwältin und Abgeordneten Bochra Belhaj Hmida.

Auch ein namhafter Islamwissenschaftler, Juristen, Rechtswissenschaftlerinnen, Schriftsteller und Literaturprofessorinnen gehören dazu. Es ist eine außergewöhnliche Mischung, die mit großer Kompetenz aufwarten konnte und am 8. Juni einen über 200 Seiten starken Bericht vorlegte, der Reformen vorschlug, die die tunesische Gesellschaft stark beschäftigen.

Auch die Blasphemie-Gesetze sollen verändert werden

Eine Liste der wichtigsten Punkte: Die Abschaffung der Todesstrafe, die Abschaffung der Strafbarkeit der Homosexualität oder zumindest die Abschaffung von Freiheitsstrafen wegen Homosexualität, das Verbot von "Analtests", Abschaffung alter Regelungen zum Verhältnis zwischen Muslimen und Nichtmuslimen (z.B. Heiratsverbote), die Abschaffung von Blasphemie-Paragrafen, die der Gedankenfreiheit widersprechen, Verbot der Missionierung, die Annullierung eines Reglements, das die Schließung von Cafés während des Ramadan verlangt, die Gleichheit von Vater und Mutter bei der Erziehung und einige weitere Regelungen.

Sie sind vor allem bei Islamisten und bei Angehörigen der Partei Ennahda nicht gut gelitten. Der Chef der Ennahda, Ghannouchi, verweigerte sich einem Treffen mit den Mitgliedern der Kommission COLIBE. Die tunesische Gesellschaft werde durch den Colibe-Bericht gespalten, heißt es.

Zur Haltung der Ennahda zum neuen Erbschaftsrecht gibt es unterschiedliche Nachrichten. Tunesische Berichte melden Widerstand. Die Londoner Financial Times berichtet von einer neutralen Haltung in der Führung der islamistischen Partei.

Indessen melden Berichte aus Tunesien, dass sich Islamisten sehr ins Zeug legen, um die Reformvorschläge mit Falschmeldungen ("Erlaubnis zur Ehe für alle" und "Legitimierung der Polygamie") zu diskreditieren.