Covid-19: Hat Schweden die Herdenimmunität erreicht?

Foto: Sebastian Rushworth

Covid-19 ist in Schweden beendet, obgleich das Land keinen vollen Lockdown vollzogen hat. Bericht eines Arztes

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Covid ist in Schweden zu Ende. Auf den Titelseiten der Zeitungen erscheint es nicht mehr. Anfang August habe ich einen Bericht über meine Erfahrungen während der Pandemie als Notfallarzt in Stockholm geschrieben. Für die, die es nicht wissen, Schweden hat nie einen vollen Lockdown ausgeführt. Stattdessen gab es einen teilweisen Lockdown, der fast ausschließlich auf Freiwilligkeit beruht hat. Menschen, die in Büros arbeiten, wurde empfohlen, von zu Hause aus zu arbeiten. Es wurde empfohlen, wenn möglich die öffentlichen Verkehrsmittel zu meiden. Menschen über 70 mit schweren Erkrankungen wurde geraten, ihre Kontakte zu anderen Menschen zu begrenzen.

Die einzige Beschränkung, die die Regierung von Beginn an angeordnet hat, war, dass nicht mehr als 50 Personen auf einmal in einer Gruppe zusammen sein durften. Als dann deutlich wurde, dass Covid vor allem für Menschen in Pflegeheimen gefährlich ist, wurde eine zusätzliche Beschränkung für Besuche dieser Einrichtungen erlassen. Zu keinem Zeitpunkt gab es eine Pflicht zum Tragen von Gesichtsmasken in der Öffentlichkeit. Restaurants, Cafés, Friseure und Geschäfte sind durchgehend offen geblieben. Vorschulen und Schulen für Kinder bis 16 Jahre sind offen geblieben, Schulen für 16- bis 19-Jährige sind zum Fernunterricht übergegangen.

Meine eigene Erfahrung ist, dass die Leute den freiwilligen Einschränkungen am Anfang sehr gut gefolgt sind, dass sie über die Zeit allerdings immer laxer geworden sind. Ein persönliches Beispiel: Meine Mutter und meine Schwiegereltern sind in den ersten sechs Wochen zu Hause geblieben. Danach wollten sie nicht mehr ohne ihre Enkelkinder sein.

In meinem Artikel vom August habe ich berichtet, dass nach einer anfänglichen Spitze von März bis April die Covid-Erkrankungen in unserer Notaufnahme kontinuierlich gesunken sind, ebenso wie die Todesfälle in Schweden von 100 pro Tag auf dem Höhepunkt auf etwa fünf pro Tag im August.

Das normale Leben ist weitgehend nach Stockholm zurückgekehrt

Als ich im August den Beitrag geschrieben habe, hatte ich nicht einen einzigen Covid-Patienten seit über einem Monat. Ich habe spekuliert, dass Schweden die Herdenimmunität erreicht hat, weil die kontinuierliche Abnahme stattfand, obwohl Schweden keine wirklich ernsthaften Massnahmen getroffen hat, um die Ausbreitung zu verhindern. Wie haben sich die Dinge nun, sechs Wochen später, weiterentwickelt?

Wir haben seit über zweieinhalb Monaten nicht einen einzigen Covid-Patienten in der Notaufnahme gehabt. Die Leute sind immer entspannter in ihrem Verhalten geworden, was man an steigenden Erkrankungen in der Notaufnahme merkt. Zum Höhepunkt der Pandemie im April kamen nur halb so viele Patienten in die Notaufnahme wie normal, vermutlich weil viele Leute Angst hatten, dass man sich dort mit Covid anstecken kann. Jetzt sind die Patientenzahlen wieder normal.

Die U-Bahn, mit der ich zur Arbeit fahre, ist dicht besetzt mit Leuten. Vielleicht einer von hundert trägt eine Gesichtsmaske. Das normale Leben ist weitgehend nach Stockholm zurückgekehrt. Auf den Titelseiten der Boulevardzeitungen findet sich keine einzige Meldung zu Covid. Am Tag, an dem ich dies hier schreibe (19. September), sind die großen Themen Arthritis und die Renten. Offensichtlich sind in Schweden Athritis und Renten aufregender als Covid-19.

Trotz der entspannten Haltung fällt die Zahl der Todesfälle weiter. In meinem ersten Artikel habe ich geschrieben, dass 6000 Menschen Covid zum Opfer gefallen sind. Wie viele sind es jetzt, sechs Wochen später? Im Schnitt haben wir in Schweden ein oder zwei Menschen am Tag, die an Covid sterben, und diese Zahl nimmt weiter ab.

Im Krankenhaus, in dem ich arbeite, ist kein einziger Covid-Fall in Behandlung. Insgesamt werden im Staatsbezirk Stockholm, mit 2,4 Millionen Einwohnern, ganze 28 Menschen wegen Covid im Krankenhaus behandelt. Zur Spitzenzeit im April waren es über 1000. Wenn 28 von 2,4 Millionen Menschen so schwer erkrankt sind, dass sie ins Krankenhaus müssen, heißt dass, dass die Wahrscheinlichkeit so schwer an Covid zu erkranken zur Zeit 1 zu 86.000 ist.

Seit März war die Notaufnahme, in der ich arbeite, in eine Covid- und eine Nichtcovid-Sektion unterteilt. Jeder mit Fieber, Husten oder entzündetem Hals kam in die Covid-Sektion und wir waren verpflichtet, beim Umgang mit den Patienten volle Schutzausrüstung zu tragen. Letzten Mittwoch (16. September) wurde die Covid-Sektion geschlossen. Es gibt so wenig Covid-Fälle, dass eine eigene Sektion dafür keinen Sinn ergibt.

Was ist mit den wenigen formalen Beschränkungen, die am Anfang der Pandemie eingeführt worden waren? Die Einschränkungen beim Besuch von Pflegeheimen werden mit dem 1. Oktober aufgehoben. Schüler der Altersstufen 16 bis 19, die im Frühjahr Fernunterricht hatten, sind zurück in den Klassen und sehen ihre Mitschüler und Lehrer von Angesicht zu Angesicht. Die schwedische Gesundheitsbehörde hat empfohlen, dass die Zahl von Menschen, die sich in Gruppen treffen können, von 50 auf 500 angehoben wird.

T-Zellen-Immunität

Als ich meinen ersten Artikel geschrieben habe, habe ich spekuliert, dass der Grund dafür, dass Schweden die Herdenimmunität erreicht hat, obwohl nur eine Minderheit Antikörper hat, in den T-Zellen liegt. Seit ich den Artikel geschrieben habe sind Studien erschienen, die dieses Argument stützen. Das ist gut, denn T-Zellen sind viel dauerhafter als Antikörper. Tatsächlich hat man bei Untersuchungen von Menschen, die 2003 SARS-Cov-1 hatten, jetzt, 17 Jahre nach der Infektion, immer noch T-Zellen gefunden. Das spricht dafür, dass die Immunität lange anhält und erklärt, warum es nur eine Handvoll Berichte über erneute Ansteckungen gibt, obwohl das Virus inzwischen seit neun Monaten auf dem Planeten herumspringt und viele Millionen Menschen infiziert.

Zu der Handvoll Menschen, die nochmals angesteckt wurden, ist zu sagen, dass diese Fälle völlig asymptomatisch waren. Es gibt keine Anzeichen für eine abklingende Immunität, wie manchmal behauptet wird. Im Gegenteil, es zeigt, dass Menschen nach einer Infektion eine funktionierende Immunität entwickeln, die eine zweite Infektion abwehrt, ohne dass irgendwelche Symptome auftreten.

Herdenimmunität und Impfstoff

Wenn jetzt Schweden die Herdenimmunität hat, was ist dann mit anderen Ländern? Wie nah sind die an der Herdenimmunität dran? Die Gegenden, die viele Covid-Infektionen hatten, wie England und Italien, haben Sterblichkeitskurven, die der von Schweden sehr ähnlich sind, obwohl die Länder in den Lockdown gegangen sind. Meine Interpretation ist, dass man zu spät in den Lockdown gegangen ist, so dass dieser keinen Effekt gehabt hat. Wenn das der Fall ist, dann haben diese Gebiete inzwischen ebenfalls Herdenimmunität entwickelt. Die fortgeführten Lockdowns in diesen Ländern wären bizarr.

Was ist mit einem Impfstoff? Wird er rechtzeitig fertig, um einen Unterschied zu ergeben? Wie ich in meinem ersten Artikel geschrieben habe, ergeben Lockdowns nur einen Sinn, wenn man bereit ist, solange im Lockdown zu bleiben, bis es einen wirksamen Impfstoff gibt. Ansonsten verschiebt man nur das Unausweichliche. Ein Impfstoff wird frühestens irgendwann Mitte nächsten Jahres breit verfügbar sein. Wie viele Regierungen sind bereit, ihre Bevölkerungen so lange unter Lockdown zu halten? Und was ist, wenn ein Impfstoff nur eine Wirksamkeit von 30% hat? Oder von 50%? Werden Regierungen entscheiden, dass das gut genug ist, um den Lockdown zu beenden? Oder wollen sie im Lockdown bleiben, bis es einen Impfstoff mit 90%iger Wirksamkeit gibt? Wie viele Jahre kann das dauern?

Zusammenfassung. Covid ist in Schweden zu Ende. Wir haben Herdenimmunität. Vermutlich haben andere Weltgegenden ebenfalls Herdenimmunität, dazu gehören England, Italien und Teile der Vereinigten Staaten wie New York. Und es gibt Staaten, die die Ausbreitung der Krankheit erfolgreich eingedämmt haben, wie Deutschland, Dänemark, Neuseeland und Australien. Diese Länder müssen mindestens ein und möglicherweise mehrere Jahre im Lockdown bleiben, wenn sie keine natürliche Herdenimmunität entwickeln wollen.

Hinweis. Es gibt von mir ein Interview mit Sky News über Covid-19 und einen Artikel zur Rolle von Vitamin D bei der Behandlung von Covid-19.

Ich bin praktizierender Arzt in Stockholm. Jeden Tag stellen mir Patienten Fragen zu Gesundheit, Diäten, Bewegung, Ergänzungsstoffen, Medikation. Es gibt sehr viel Fehlinformation im Internet, es ist leicht, den falschen Rat zu erhalten, und schwer zu sagen, was richtig und was falsch ist, wenn man nicht vertiefte wissenschaftliche Kenntnisse hat. Die Aufgabe meines Blogs Wissenschaftlich fundierte Informationen zu Gesundheit und Medizin (Health and medical information grounded in science) ist es mitzuteilen, was die Wissenschaft wirklich sagt.

Deutsche Übersetzung von "Covid-19: Does Sweden have herd immunity?" von Ulf Martin, 21. Sept. 2020.