Vernunft in Zeiten der ultima irratio

Bild: Yan Boechat/VOA/gemeinfrei

Bei der Suche nach Frieden nicht den Verstand verlieren

Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio.

Willy Brandt (1971)

Angesichts des Angriffskriegs der russischen Armee, den man schlicht als organisierten Massenmord bezeichnen kann, fühlen sich die Hardliner bestätigt: Putin habe während seiner gesamten Präsidentschaft daran gearbeitet, die Sowjetunion wiederherzustellen. Alle schönen Reden im Bundestag und anderswo dienten der Verschleierung seiner skrupellosen Großmachtpläne.

Und anstatt die seit langem geplante Invasion durch Eingliederung der Ukraine in die Nato zu verhindern, hätten wir unsere Armeen kaputtgespart.

Nach der russischen Krim-Annexion 2014 äußerte sich auch eine ganz andere Fraktion, die sehr wohl wusste, wovon sie sprach. An deren Analysen wird derzeit jedoch nur selten erinnert. Zwei Beispiele:

Von den USA und der EU hören wir nichts anderes mehr als Sanktionen gegen Russland. Haben sie völlig den Verstand verloren? (...) Wenn angesichts dieser aufgeheizten Stimmung einer die Nerven verliert, werden wir die nächsten Jahre nicht überleben.

Michail Gorbatschow (03.02.2015)

Helmut Schmidt (...) rechnet mit der EU-Außenpolitik in der Ukraine-Krise ab. Der Altkanzler warnt vor der Gefahr eines dritten Weltkriegs. (...) Das jüngste Beispiel ist der Versuch der EU-Kommission, die Ukraine anzugliedern (...). Falsch sei auch, Georgien an sich zu ziehen. "Das ist Größenwahn, wir haben dort nichts zu suchen."

Helmut Schmidt, Spiegel, 16.05.2014

Mega-Rüstungsetats befriedigen die Seele und beleidigen den Verstand

Nun hat die Bundesregierung zumindest eine Hardliner-Forderung übernommen und plant nie dagewesene Steigerungen des Wehretats. Um die Finanzierung zu ermöglichen, soll das Grundgesetz geändert werden.

Für die entsprechende Ankündigung gab es im Bundestag stehende Ovationen – ein Beifall, der sehr nach Selbstbeklatschung in kollektiver Gefühlswallung klang und nicht nach ernüchterter Zustimmung für eine bittere Vernunftentscheidung.

Apropos Vernunft: Wie kann Geld die entscheidende Lösung sein, wenn die Militärausgaben der Nato bereits jetzt bei 1.100 Milliarden US-Dollar jährlich liegen, während Russland 61 Milliarden US-Dollar einsetzt?

Alleine Groß-Britannien, Frankreich, Deutschland und Italien kommen auf ein Militärbudget von zusammen 190 Milliarden US-Dollar.

Die Idee, Kriege mit noch größeren Wehretats verhindern zu können, erscheint angesichts dieser Zahlen nicht überzeugend. Jeden Arzt, dem bei Erfolglosigkeit einer Medizin nichts Besseres einfiele, als permanent die Dosis zu erhöhen, hielte man für einen Idioten.

Klar ist hingegen, dass gigantische Rüstungsausgaben im Interesse all derer sind, die daran Geld verdienen.

Erwiesenermaßen kann militärische Abschreckung in Verbindung mit Rüstungsbegrenzungsverträgen sowie der Entwicklung friedlicher Kooperationen temporär funktionieren. Auch Willy Brandts erfolgreiche Ostpolitik stützte sich darauf. Aber im Vorfeld des Russland-Ukraine-Krieges hat der Oberbefehlshaber der weltmächtigsten Armee plötzlich die Abschreckungskulisse heruntergefahren.

Bidens verstörende Botschaft

Am 8. Dezember 2021 berichtete US-Präsident Biden von einem vortags geführten Telefonat mit seinem russischen Amtskollegen. Putin habe gefordert, dass der Ukraine-Antrag auf NATO-Beitritt abgelehnt werden müsse, und Russland im Gegenzug zusichere, auf einen Truppeneinmarsch zu verzichten.

Er, Biden, akzeptiere diese russische rote Linie nicht. Im Falle eines Einmarschs wäre der unilaterale Einsatz von US-Truppen in der Ukraine jedoch "not on the table".

Welch verheerendes Signal! Übersetzt heißt das doch: Die USA verweigern den Verzicht auf Nato-Mitgliedschaft der Ukraine auch dann, wenn dadurch ein Krieg verhindert werden könnte. Aber falls Russland wirklich angreift, soll es kein militärisches US-Eingreifen befürchten.

Natürlich bleibt fraglich, ob Putin sein Gewaltverzichtsversprechen gehalten hätte – ebenso, ob die USA irgendwann doch noch in den Krieg eintreten. Aber warum betont Biden zu diesem Zeitpunkt die militärische Zurückhaltung der USA – der Militärmacht mit dem höchsten Abschreckungspotential? Hätte er zu diesem Thema nicht einfach schweigen können?

Bidens Beweggründe sind nicht bekannt. Aber möglicherweise hat er eine Strategie ausgepackt, die die US-Regierung gegenüber Russland schon einmal erfolgreich eingesetzt haben soll.

Brzezińskis Enthüllungen

Als die Sowjetarmee 1979 im afghanischen Bürgerkrieg intervenierte, hatte dies eine brisante Vorgeschichte. Erstmals 12 Jahre später sprach der damalige Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński gegenüber einer französischen Zeitung öffentlich darüber (Übersetzung JS):

Zbigniew Brzezinski:

Nach der offiziellen Version der Geschichte begann die Unterstützung der Mudschaheddin durch die CIA im Laufe des Jahres 1980, d. h. nachdem die Sowjetarmee am 24. Dezember 1979 in Afghanistan einmarschiert war.

Die geheim gehaltene Realität sieht jedoch ganz anders aus: Tatsächlich unterzeichnete Präsident Carter am 3. Juli 1979 die erste Direktive zur verdeckten Unterstützung von Gegnern des prosowjetischen Regimes in Kabul. Und an diesem Tag schrieb ich eine Notiz an den Präsidenten, in der ich ihm erklärte, dass diese Hilfe meiner Meinung nach eine militärische Intervention der Sowjets nach sich ziehen würde.

Le Nouvel Observateur:

Trotz dieses Risikos waren Sie ein Befürworter dieser verdeckten Operation. Aber vielleicht wünschten Sie sich sogar den sowjetischen Kriegseintritt und versuchten, ihn zu provozieren?

ZB:

Das ist nicht ganz richtig. Wir haben die Russen nicht zu einer Intervention gedrängt, aber wir haben bewusst die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie es tun würden.

LNO:

Als die Sowjets ihre Intervention damit begründeten, dass sie gegen eine geheime Einmischung der USA in Afghanistan vorgehen wollten, glaubte ihnen niemand. Dennoch steckte ein wahrer Kern dahinter. Bereuen Sie heute nichts?

ZB:

Was bereuen? Die verdeckte Operation war eine hervorragende Idee. Sie bewirkte, dass die Russen in die afghanische Falle gelockt wurden, und das soll ich bereuen? An dem Tag, an dem die Sowjets offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich Präsident Carter sinngemäß: "Wir haben jetzt die Gelegenheit, der UdSSR ihren Vietnamkrieg zu bescheren." Tatsächlich musste Moskau fast zehn Jahre lang einen für das Regime unerträglichen Krieg führen, einen Konflikt, der zur Demoralisierung und schließlich zum Zerfall des Sowjetimperiums führte.

Hundertmal "Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln"

Brzezińskis Aussagen wurden nie offiziell bestätigt – darauf sei ausdrücklich hingewiesen. Sie mit der aktuellen Situation in Verbindung zu bringen, schließt die ungeheuerliche Möglichkeit ein, die USA hätten sehenden Auges und bewusst sehr wenig getan, um den russischen Einmarsch in die Ukraine zu verhindern.

Diesen Gedanken in den Diskursraum zu stellen, mag die aktuellen Regeln der politischen Korrektheit verletzen. Aber für die Suche nach Lösungsmöglichkeiten in der aktuellen Katastrophe braucht es einen klaren, illusionslosen Blick, in welcher Welt wir seit Jahrzehnten leben.

Krieg spielt zur Interessendurchsetzung, als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, eine maßgebliche Rolle. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es mehr als 100 Kriege mit mehr als 60 Millionen Todesopfern. Die meisten dieser Kriege zogen sich über mehrere Jahre hin.

Allein der von den USA angeführte, weitestgehend völkerrechtswidrige "Krieg gegen den Terror" hat 1,3 Millionen Menschen das Leben gekostet und mehrere failed-states hinterlassen. Hinzu kommt ein Vielfaches an indirekten Todesopfern.

Die Selbstdarstellung der Nato als rein defensives Militärbündnis hat spätestens seit der Bombardierung von Belgrad 1999 massiv Risse bekommen – vom Agieren einzelner Nato-Mitgliedstaaten ganz zu schweigen.

Aus deutscher Perspektive liegt der große Unterschied des derzeitigen Krieges darin: Wenn sich keine überraschende Wendung vollzieht, werden dieses Mal nicht nur irgendwelche anderen, sondern auch wir selbst die destruktiven Folgen in lange nicht gekanntem Ausmaß mitzutragen haben – in welcher Direktheit und Heftigkeit, ist noch völlig offen.

Kriege sind außer Kontrolle geratene Interessengegensätze

Ein klarer Blick schützt davor, von überwältigenden Tagesereignissen in blinden Aktionismus getrieben zu werden. Krieg als ultima irratio schließt es aus, ohne rationale Entscheidungen zum Frieden zurückfinden zu können. Und dies sollte doch das oberste Ziel sein: Wiederherstellung eines friedlichen Miteinanders – oder zumindest Nebeneinanders.

Ist dieses Ziel erreichbar, indem man
… den militärischen Widerstand der Ukraine mit Waffenlieferungen aufrecht erhält und auf deren Sieg setzt?
… die Rüstungsetats der Nato-Staaten in astronomische Höhen schraubt?
… darauf zu vertraut, dass Putin als Folge der Wirtschaftssanktionen von der russischen Bevölkerung und den Oligarchen gestürzt wird?
Macht man sich wirklich klar, wie hoch der Wetteinsatz ist, wenn man seine Strategie auf diese Punkte reduziert?

Kriege sind außer Kontrolle geratene Interessengegensätze. Um irgendwie Kontrolle zurückzubekommen, erscheint es sinnvoll, diesen Ausgangspunkt im Blick zu behalten. Ist es vernünftig, die russischen Bedingungen für eine Beendigung der Kampfhandlungen komplett zu tabuisieren?

Wenn in letzter Konsequenz eine territoriale Kriegsausweitung und/oder der Einsatz von Atomwaffen drohen, ist es doch Irrsinn, eigene Positionen "bis zum letzten Blutstropfen" (wie ukrainische Sprecher immer wieder betonen) kompromisslos durchsetzen zu wollen. Muss man nicht jede Möglichkeit ausloten, die ein Blutvergießen stoppen könnte, von dessen Ausmaß wir bisher vielleicht nur einen Vorgeschmack bekommen haben?

Putin, der Möchtegern-Großstratege

Sollte es innerhalb der US-Regierung tatsächlich eine Überlegung gewesen sein, Russland mit einem Ukrainekrieg sich selbst ruinieren zu lassen, ist Putin genau der richtige Counterpart:
Ein Mann, von dem wir seit dem Zweiten Tschetschenienkrieg wissen, dass er bereit ist, für das Erreichen seiner Ziele über Leichenberge zu gehen.
Ein Mann, der sich selbst für einen strategischen Großdenker hält, aber vielleicht doch nicht mehr zu bieten hat, als die Logik des Leningrader Straßenschlägers, der er in seiner Jugend war: Schlage als erster und brutal zu, dann hast Du die besten Chancen zu gewinnen.

Am Ende werden sich wahrscheinlich alle verrechnet haben. Zu allen Zeiten glaubten Staatsführer, dass sie clever genug wären, einen Krieg als machtpolitisches Instrument kalkulierbar einsetzen zu können. Aber Krieg ist und bleibt die ultima irratio. Eindrücklichstes Beispiel sind die USA, die trotz aller Militärpower von Vietnam bis Afghanistan nichts gewonnen haben – außer einer florierenden Rüstungsindustrie.

In der komplexen Kriegsrealität läuft früher oder später alles aus dem Ruder. Nur das Ergebnis sieht immer gleich aus: Elend, Zerstörung und Tod.