Zwangsrekrutierung: Wer redet von ukrainischen Deserteuren?

Dass sich viele Männer der Einberufung in die Armee verweigern wollen, ist kaum Thema der Berichterstattung. Warum? Kommentar.

Viele ukrainische Männer haben große Angst, so dass sie nicht auf die Straße gehen. Sie fürchten sich aber nicht vor russischen Bomben, sondern vor der eigenen Regierung. Schließlich dürfen Männer bis zum Alter von 60 Jahren nicht ausreisen.

Sie müssen immer damit rechnen, zum Militär eingezogen zu werden. Das ist für sie ein Horror; sie verstecken sich. Andere organisieren sich in sozialen Netzwerken, etwa auf einem Telegram-Kanal, auf dem sich Menschen, die nicht zum Militär wollen, darüber austauschen, wo Feldjäger unterwegs sind, um neue Soldaten zu rekrutieren.

Solidarisches Netzwerk in der Ukraine

"Sie waren am Kindergarten, sie gingen dort in die Hinterhöfe in Uniform und mit einer Mappe", heißt es da. Andere informierten darüber, dass in der Nähe der Kiewer Universität Soldaten eingezogen werden. Dieser Informationsdienst funktioniert wie ähnliche Kanäle, auf denen sich in aller Welt von Repression betroffene Menschen solidarisch über mögliche Gefahren erkundigen.

Seit Jahren informieren sich auf diese Weise Geflüchtete in verschiedenen Ländern über drohende Polizeikontrollen. In ähnlichen Telegram-Kanälen erkundigen sich auch einkommensarme Menschen über Kontrolleure bei der Berliner S- und U-Bahn. Warum erfahren wir so wenig über eine derartige Initiative in der Ukraine, die für die Betroffenen mit vielen Gefahren und drohender Repression verbunden ist?

Weil es in den hiesigen Medien kaum vorkommt. Immerhin knapp vier Minuten lang war der Beitrag im Deutschlandfunk dazu. Wir erfahren hier sehr kurz, dass das Bild vom "ukrainischen Volk", das "heldenhaft vereint" gegen die russischen Invasoren kämpft, Lücken hat.

Das heldenhafte Volk ist Tenor in den Meldungen der eingebetteten Medien. Da ist es umso bemerkenswerter und begrüßenswert, dass der Korrespondent des Hessischen Rundfunks, Marc Dugge, über die Ängste vieler junger Männer in der Ukraine vor der Einberufung informiert und über den solidarischen Umgang damit.

Aber selbst in dem kurzen Beitrag vergisst Dugge am Ende nicht zu erwähnen, dass der Großteil der Männer aus patriotischer Pflicht doch zur Armee gehen. Dann ist es aber umso unverständlicher, warum die ukrainische Regierung an den Zwangsmaßnahmen, die viele junge Männer in Angst und Schrecken versetzen, trotzdem festhält.

Noch bemerkenswerter ist, dass auch von vielen antiautoritären Linken, denen doch eigentlich jeder Zwangsdienst ein Gräuel ist, sowenig Widerspruch gegen diese Grundrechtsverletzung kommt, wenn sie in der Ukraine passiert.

Gerade diejenigen, die sich so wortreich für das "ukrainische Volk" einsetzen, müssten doch umso mehr solche kritischen Punkte ansprechen. Dazu gehören neben der Zwangsrekrutierung auch die Denkmäler von Bandera und anderen ukrainischen Ultranationalisten und Antisemiten, die in ukrainischen Städten nach 2014 errichtet wurden.

Es ist erstaunlich, dass auch Linke, die lange Zeit berechtigterweise kritisierten, dass sich ihre politischen Mitstreiter oft über Menschenrechtsverletzungen in angeblich progressiven linken Staaten hinwegsetzen, mit denen sie solidarisch sind, diese unkritische Solidarität jetzt gegenüber der gegenwärtigen ukrainischen Regierung, die erklärtermaßen nicht links ist, selbst praktizieren.

So fällt auch einem Mann, der sich im taz-Interview als Anarchist aus Russland mit dem Alias-Namen Ilya Leschin vorstellt und der in der ukrainischen Armee gegen Putin kämpft, auf die Frage nach der Zwangsrekrutierung wenig Kritisches ein:

taz: Ist die Zwangsrekrutierung für Männer noch ein Thema für Sie? Innerhalb von anarchistischen oder insgesamt bei jungen Menschen wird es doch daran Kritik gegeben haben, oder?

Ilya Leschin: Ja, sicher. Und ich persönlich bin auch kritisch gegen die Zwangsrekrutierung, aber ich würde sagen, ich habe eine Kompromissposition, weil ich die Notwendigkeit sehe, das Übel mit den Werkzeugen, die wir haben, zu konfrontieren.

Es gibt viele Menschen, die gegen diese Verpflichtung sind, und ich habe viele männliche Genossen, die sich stattdessen in zivilen Strukturen engagieren und die nicht gezwungen werden, zur Armee gehen. Ich weiß nicht, wie genau dieser Prozess organisiert wird, ich bin selbst an der Front etwas isoliert davon.

Anarchist aus Russland, taz, 11.3. 2023

Es ist erstaunlich, dass hier ein angeblicher Anarchist wie ein grüner Realo spricht, wenn er auf die Zwangsrekrutierung angesprochen wird. Nicht mal die Tatsache, dass es in der Ukraine viele Freiwillige gibt, die gegen Russland kämpfen wollen, ist für ihn ein probates Argument, um die sofortige Abschaffung der Zwangsrekrutierung zu fordern.

Zwangsrekrutierung - Frage von Leben und Tod

Für die ukrainischen Männer aber ist die Zwangsrekrutierung eine Frage von Leben und Tod. Viele werden von der Straße weg eingezogen, sie können sich nicht einmal von ihren Freunden und Verwandten verabschieden.

Diese Zwangsmaßnahmen sind auch ein Kennzeichen des aggressiven ukrainischen Nationalismus, der durchaus in Medien in Deutschland thematisiert wird. Allerdings wird er selten kritisiert, er wird eher positiv dargestellt und als Grund dafür angeführt, dass die Ukraine dadurch dem russischen Militär seit über einem Jahr standhalten kann.

"Wie schaffen sie das?" So lautet die Überschrift des in der Ukraine lehrenden Historikers Georgiy Kassianow in der Printausgabe der Wochenzeitung Freitag, in der allerdings auch kriegskritische und pazifistische Stimmen zu Wort kommen. Kassianov erklärt den Widerstandskampf der Ukraine mit dem besonderen Nationalismus, der nach dem Euromaidan 2014 in dem Land hegemonial wurde.

"Nach 2014 entstand in der Ukraine eine Freiwilligen-Bewegung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Armee zu versorgen. Tausende von lokalen Initiativen entstanden, die komplexe Systeme zur Geldbeschaffung entwickelten. (...)", beschreibt Kassianow diesen Nationalismus. Nur wer etwas historisches Hintergrundwissen besitzt, erfährt, auf welch' braunen Grund dieser ukrainische Nationalismus basiert.

Auf die Frage, worauf der Widerstandswille der Ukrainerinnen und Ukrainer sich stütze, zieht der Historiker historische Parallelen heran:

Auch hier helfen Analogien weiter, vor allem jene zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Die Verluste der Ukraine (materiell und menschlich) zwischen 1939 und 1945 waren enorm, der Krieg dauerte sechs Jahre, der Wiederaufbau noch länger. Diese Erfahrung ist nicht vergessen.

Georgiy Kassianov, Wochenzeitung Freitag

Worüber der Historiker aber nicht spricht: Im Zweiten Weltkrieg kämpfte ein Teil der Ukrainer in der Roten Armee gegen die Nazis und ihre ukrainischen Kollaborateure. Diese ukrainischen Antifaschisten hatten einen wichtigen Beitrag bei der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz als Teil der Roten Armee. Aber dieser Teil der ukrainischen Geschichte wird heute bekämpft.

Nach dem Maidan-Umschwung wurden die Erben des deutschfreundlichen ukrainischen Nationalismus hegemonial. Dieser ukrainische Nationalismus geht wie auch der russische im wahrsten Sinne über Leichen, wie die verlustreichen Abnutzungsschlachten rund um die ostukrainische Stadt Bachmut zeigen. Hier werden Tausende junger Menschen auf beiden Seiten verheizt.

Das ist das Kennzeichen jedes Nationalismus. Wer die Schlachtfelder von Bachmut sieht, weiß, warum so viele Männer in der Ukraine Angst vor Einberufung haben. Umso wichtiger sind ihre Versuche, sich diesen Maßnahmen zu entziehen.