Warum Bürgerräte eine Demokratie bereichern können

Zum ersten Mal wird ein vom Bundestag eingesetzter Bürgerrat tagen. Vier Punkte, warum die Kritik daran nicht überzeugt. Der Volkssouverän braucht sie, weil sich seine Stimme von der Politik unterscheidet.

160 Einwohner Deutschlands ab 16 Jahren sollen in einem sogenannten Bürgerrat über "Ernährung im Wandel" beraten und Ende Februar 2024 dem Bundestag ihre Ergebnisse überreichen (siehe den Bericht Parlament setzt "Bürgerrat Ernährung" ein). Die Teilnehmer eines Bürgerrats werden in einem mehrstufigen Verfahren ausgelost (Details hier).

Bei den einzelnen Sitzungen erhalten die Ausgelosten Sachinformationen von Fachleuten und Einschätzungen von Lobbyisten bzw. Interessenvertretern (z.B. NGO), danach beraten sie in Tischgruppen konkrete Fragen dazu. Am Ende stehen Empfehlungen, die in einem Bürgergutachten veröffentlicht werden, das auch den Abstimmungsprozess transparent macht (mehr auf Buergerrat.de).

1. Bürgerräte sind überflüssig?

Die wesentliche Kritik an Bürgerräten bestreitet grundsätzlich ihren Sinn. In der Debatte des Bundestags hieß es in verschiedenen Variationen beispielsweise, der Wahlkreis der Abgeordneten sei der Bürgerrat von Politikern. Andere sehen im Parlament selbst einen Bürgerrat, neben dem es daher keine anderen Formen mehr brauche.

Diese Kritik verkennt grundlegend das Anliegen losbasierter Bürgerauswahl. Ziel ist jeweils eine möglichst repräsentative Stichprobe zu erhalten. Und selbst wenn dies nicht in allen Punkten gelingt, solange die Teilnahme für die Ausgelosten freiwillig ist, so sind die so zustande kommenden Gruppen im Ergebnis wesentlich repräsentativer für die Gesamtbevölkerung, als es die Abgeordneten jedes Parlaments sind.

Und sie sind auch repräsentativer, als es in Summe diejenigen sind, die bei Abgeordneten in die Sprechstunde der Wahlreise gehen oder mit denen Politiker bei sonstigen Begegnungen Gespräche führen.

Denn wir haben es hier stets mit Selbstselektion zu tun: Nur ganz wenige Menschen wollen Politiker werden, noch weniger davon wollen in den Bundestag. Wer dort am Ende sitzt, hat sich in seiner Partei bewähren müssen. Da geht es gerade nicht um Vielfalt, sondern um Einheitlichkeit, deutlich zu sehen bei Abstimmungen über Gesetzentwürfe, die in der Regel von allen Abgeordneten einer Partei einheitlich angenommen oder abgelehnt werden.

Und nur sehr wenige Menschen besuchen Abgeordnete in ihren Wahlkreisbüros.

In jedem Dorf, in jedem Ortsteil engagiert sich politisch nur ein kleiner Teil der Einwohner. Es sind stets dieselben, die öffentlich in Erscheinung treten. Die real vorhandene Vielfalt könnte nur eine Befragung aller ergeben. Weil das sehr aufwendig ist, kommt eine Zufallsstichprobe solchen Vollerhebungen am nächsten.

Deshalb arbeitet die Wirtschafts- und Sozialforschung mit solchen Zufallsstichproben. Wenn Meinungsforschungsinstitute wissen wollen, was die Bevölkerung denkt, befragen sie auch nicht die Mitglieder eines Parlaments.

2. Bürgerräte sind nicht demokratisch?

Die zweite Grundsatzkritik lautet, Bürgerräte seien nicht demokratisch. Dahinter steckt ein Bezweifeln der Repräsentativität der Auslosung. Doch wenn die Auslosung methodisch sauber läuft, gibt es an der demokratischen Legitimation nichts zu bezweifeln.

Dazu muss u.a. die ausgeloste Gruppe groß genug sein. Mit 160 Personen wie im Bürgerrat kommt man diesem Anspruch jedenfalls schon nahe, die genau notwendige Zahl müsste experimentell ermittelt werden. Anders als bei Meinungsumfragen und insbesondere Wahlprognosen trifft ein Bürgerrat aber keine Aussagen, bei denen es auf exakte Prozentangaben ankäme.

Da in dem mehrtägigen Prozess der Austausch der gelosten Bürger untereinander im Mittelpunkt steht, gibt es am Ende stets sehr eindeutige Empfehlungen. Wo Aussagen nur von einer knappen Mehrheit getragen sein sollten, muss man nicht die Stichprobe vergrößern, sondern die offenbar noch vorhandenen konfrontativen Themen weiter bearbeiten.

Unterschied zu Meinungsumfragen

Denn Bürgerräte fragen nicht bereits vorhandene Meinungen ab - das geht einfacher und billiger. Bürgerräte entwickeln Meinungen, indem sie sich mit klaren, aber durchaus komplexen Fragestellungen zu einem exakt benannten Thema beschäftigen. Deshalb müssen alle relevanten Tatsachen und die verschiedenen Meinungen dazu präsentiert werden.

Zu beraten sind Entscheidungsfragen, und der Unterschied zum Parlament ist, dass die "Losbürger" tatsächlich nur Interesse an einer für möglichst alle guten Entscheidung haben. Sie kennen keinen Fraktionszwang, sie können keine Karriere als Bürgerrat planen. Ihre eindeutigen Empfehlungen sind der wesentliche Unterschied zu Ergebnissen parlamentarischer Beratungen.

3. Bürgerräte stellen die Legitimation des Parlaments infrage?

Die dritte Grundsatzkritik lautet, Bürgerräte seien eine Konkurrenz zum Parlament und würden daher dessen Autorität untergraben. Da es mit dem Bundestag bereits ein demokratisches Entscheidungsgremium auf Bundesebene gebe, wären weitere kontraproduktiv.

Mit dieser Argumentation wird auch der bundesweite Volksentscheid bisher verhindert. Dem liegt allerdings ein deftiger Zirkelschluss zugrunde: Weil Politiker sich via Verfassung und zahlreichen Gesetzen selbst die Zuständigkeit für alles zugeschrieben haben, dürfe die Macht der repräsentativen Demokratie nicht geschmälert werden.

Nach demokratischer Logik aber können nur die Bürger selbst Politikern erlauben, stellvertretend für sie Entscheidungen zu treffen. Daraus lässt sich selbstverständlich nicht ableiten, dass der Souverän sein Entscheidungsrecht nicht auch wieder an sich ziehen dürfte.

In Demokratien mit Volksentscheid und Referendum wird die Arbeitsteilung deutlich: Politiker werden dafür bezahlt, die Allgemeinheit betreffende Dinge zu regeln. Sind aber nennenswerte Teile der Bevölkerung mit einer Regelung nicht einverstanden, entscheidet das Volk selbst und bindet damit die Politik an den artikulierten Mehrheitswillen.

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