100 Tage Ukraine-Krieg: Russischer Vormarsch im Donbass und westliche Waffen im Einsatz

Zerstörte Kathedrale in Sewerodonezk. Foto: State Emergency Service of Ukraine / CC-BY-4.0

Die russische Armee rückt im Donbass weiter vor. Ob eine ukrainische Gegenoffensive im Süden des Landes wirklich erfolgreich war, ist umstritten

Die ukrainische Großstadt Sewerodonezk ist von russischen Truppen in den letzten Tagen nach und nach in harten Kämpfen weitgehend erobert worden, wie auch die ukrainische Seite mittlerweile zugibt.

Die unterlegenen Ukrainer ziehen sich ins benachbarte Lisischansk zurück - und damit in die letzte größere Stadt, die in der Region noch von Truppen der Kiewer Regierung gehalten wird. Um ihnen den weiteren Rückzugsweg abzuschneiden, beabsichtigen die russischen und separatistischen Truppen, die verbliebenen ukrainischen Kämpfer in Lisitschansk einzuschließen. Ob das gelingt, ist zur Stunde noch offen.

Die symbolische Bedeutung dieses Gebietsgewinns ist höher als die strategische, denn nach Sewerodonezk hatte sich die ukrainische Gebietsverwaltung von Luhansk zurückgezogen, als 2014 prorussische Rebellen die Regionalhauptstadt Luhansk erobert und dort eine "Volksrepublik" ausgerufen hatten. Gelingt den Russen und ihren separatistischen Verbündeten nun auch noch die Besetzung von Lisischansk, ist die gesamte Luhansker Region in ihrer Hand.

Erste westliche Waffen bereits im Einsatz

Im Donbass hat Russland aktuell weiterhin die strategische Initiative, wie auch die Moskauer Zeitung Nesawisimaja Gaseta feststellt. Daran ändert bisher auch nichts, dass gemäß dem russischen Miltärexperten Juri Netkatschew bereits vom Westen gelieferte Waffen dort eingesetzt werden. Er schließt das aus Granaten mit dem Nato-Kaliber 155 Millimeter, die in Donezk gefunden wurden und die Vorkriegshardware der ukrainischen Truppen nicht verschießen kann, sehr wohl aber von den USA gelieferte M777-Haubitzen.

Im ukrainischen Hinterland macht Netkatschew auch den Aufbau neuer Einheiten aus, die mit polnischen und tschechischen T-72 Panzern aus früheren Warschauer Pakt Beständen ausgerüstet werden. Diese machen den russischen Truppen weniger Sorgen als von den USA angekündigte Mehrfachraketenwerfern vom Typ Himar, die von Moskau als neue Eskalation des Waffengangs gesehen werden.

Gemäß der regierungsnahen russischen Onlinezeitung gazeta.ru werden diese Raketenwerfer bei ihrer Lieferung das wichtigste Ziel der russischen Armee sein. Der Hintergrund ist, dass mit ihnen von der Reichweite auch russisches Gebiet beschossen werden könnte, woran russische Militärexperten, die in der Zeitung zitiert werden, auch glauben.

Die Systeme wurden zuvor in Syrien und Afghanistan eingesetzt, wo sie jedoch nicht mit den fortschrittlichsten russischen Raketenabwehr-Einheiten S-400 und S-500 konfrontiert waren. Anders liegt die Sache in der Ukraine, wo die Russen ihr gesamtes Arsenal nutzen.

Furchtbare Zustände für Zivilisten in Sewerodonezk

Die Lage für die Bevölkerung in Sewerodonezk: 90 Prozent der dortigen Wohnbebauung soll beschädigt oder zerstört sein, war in den letzten Wochen katastrophal. Selbst wenn nicht geschossen wurde, war es kaum noch möglich, mit Kraftfahrzeugen die in der Stadt verbliebenen Bewohner zu versorgen, da überall Granatsplitter und Krater das Fahren verunmöglichten. Jede Suche der Einheimischen nach Nahrung wurde zum lebensgefährlichen Abenteuer.

Mein Freund, der Fotograf Oleksij Kowaljow stand in einer Warteschlange im Theater für Hühnerfleisch. Es gab einen Granateinschlag mitten in der Schlange, ein Mensch wurde in Stücke gerissen.


Wladimir Tscherny aus Sewerodonezk in der Onlinezeitung Media.zona

Der Vergleich zum ähnlich zerstörten Mariupol wird vor Ort immer wieder gezogen. Anders als dort hatte das ukrainische Militär jedoch wenig Durchhaltewillen, auch gibt es kein leicht zu verteidigendes Industrieareal mit Bunkerkomplex.

Die ukrainischen Militärs, mit denen ich sprach, meinten: Es sind nur noch wenige von uns übrig, es gibt kaum noch etwas, womit man kämpfen könnte (…) Es gibt keine Notwendigkeit dort nur als Kanonenfutter zu bleiben und heldenhaft zu sterben.


Stanislaw Schwabo aus Sewerodonezk in der Onlinezeitung Meduza

Dennoch wollen viele in der Stadt verbliebene Menschen nicht gehen, auch nicht bei einer russischen Eroberung der Stadt. Etwa ein Zehntel der über 100.000 Einwohner der Vorkriegszeit sollen noch vor Ort sein. Tscherny, mit dem die oppositionelle, russische Onlinezeitung Media.zona sprach, schätzt, dass sich davon etwa die Hälfte aktuell in der Westukraine aufhält.

Dort leben sie zum Teil in Wohnungen, deren Bewohner wiederum ins westliche Ausland geflüchtet sind und diese für zum Teil horrende Preise an die nachrückenden Ostukrainer weitervermieten.

Ukrainischer Gegenangriff mit widersprüchlichem Ausgang

Zeitgleich mit den Kämpfen um Sewerodonezk versuchten die Ukrainer durch Gegenangriffe in der südlich liegenden Region Cherson die Initiative zurückzuerlangen. Nach eigenen Angaben, die 1:1 wie eine unumstößliche Wahrheit in diversen Springer-Medien wiedergegeben werden, erzielte die Ukraine dabei große Erfolge.

Wer wiederum in Russland Zeitung liest, durfte beispielsweise in der Nesawisimaja Gaseta nachlesen, dass der ukrainischen Gegenstoß im Süden vollständig gescheitert sei und zu großen Verlusten der angreifenden Truppen geführt habe.

Am Ende widersprachen sich sogar ukrainische Quellen gegenseitig. Verkündete ein Vertreter der rechtsextremen Asow-Einheiten gestern ein Vorrücken der eigenen Truppen von acht Kilometern auf zuvor russisch besetztes Gebiet, sprach ein Berater des Präsidenten Selenskyj davon, dass die Ukrainer auf ihre Ausgangsposition zurückgekehrt seien und die Offensive nur der Störung des russischen Vormarsches im Donbass gedient habe.

Das widerspricht wiederum der Nesawisimaja Gaseta, die glaubt, die Ukrainer hätten die im Aufbau befindliche russische Verwaltungsstrukturen im Raum Cherson stören wollen. Dort wurden bereits der Rubel als Zahlungsmittel, russisches Mobilfunknetz und auch russische Internetsperren eingeführt.

Während so die Wahrheitsfindung schwer ist, diagnostiziert das russische Meinungsforschungsinstitut Lewada im Land ein abnehmendes Interesse der Bevölkerung für die eigene Militäraktion, vor allem unter den jüngeren Russen. Die größte Aufmerksamkeit und Unterstützung genießt der Ukraine-Krieg nach wie vor unter russischen Rentnern, wobei das Ergebnis derartiger Erhebungen unter den restriktiven Bedingungen, die in Russland bei diesem Thema herrschen, mit Vorsicht zu genießen ist.