17.000 Minibusse, 5000 Familien und ein Weltkulturerbe

In Syriens Hauptstadt soll eine Straße verbreitert werden. Für 25.000 Menschen könnte dies den Ruin bedeuten. Und für Damaskus die Registrierung als "bedrohtes Welterbe".

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Fast schüchtern schiebt Maruan einen kleinen Zettel über den Tisch. Darauf steht: „1780 mein Ur-ur-Großvater. 1820 mein Ur-Großvater. 1863 mein Großvater. 1925 mein Vater.“ Und seit 1971 betreibt er, Maruan Ayoubi, gemeinsam mit seinem Bruder Bassam, den kleinen Haushaltswaren zu Beginn des Souk’s al-Manachilieh, dem Siebhersteller-Markt in der König Faissal Straße in Damaskus. Die nunmehr 227 Jahre währende Familientradition könnte jäh enden. Denn die 1,4 km lange Strasse soll verbreitert werden. Dafür müssten die Souks, die sie beidseitig umsäumen, abgerissen werden. Der Souk al-Manachilieh ist einer davon.

Händler Ayoubi

Eine kleine Ankündigung der Stadtverwaltung am 7. März in der staatlichen Zeitung „Thaura“ informierte die Händler und Anwohner von dem Vorhaben. Wer Einspruch erheben wolle, habe 30 Tage Zeit. Allein das sei eine Frechheit: „Wer von uns liest schon Zeitung?“ fragt Mohammad Arfan Tabbaa, Besitzer eines Elektrik-Ladens. Das wüssten „die“ ganz genau. Gemeint sind die Beamten in der Stadtverwaltung. Dass die Händler dennoch von dem Vorhaben erfuhren, war reiner Zufall. Alle Betroffenen - bei rund 5000 Händlerfamilien sind dies letztlich 25.000 Menschen – erhoben Einspruch.

Allerdings war es mehr der Zeitpunkt denn der Inhalt der Ankündigung, der sie überrumpelte. Seit 1968 liegen Pläne für die Neuanordnung der Innenstadt vor, die auch die Grundlage für das nun in Gang gebrachte König-Faissal-Projekt bilden. Entworfen hat sie Michel Ecochard, ein Architekt, der der Damaszener Stadtverwaltung aus französischen Mandatszeiten gut bekannt war.

In den Sechzigern beauftragte sie ihn, einen Generalplan wider das ungebremste urbane Wachstum zu erstellen. Das Ergebnis verübeln ihm die Damaszener bis heute. Er habe in „typisch imperialistischer“ Weise auf die orientalisch-islamische Bauweise mit ihren verwinkelten Gassen und verschachtelten Häusern geblickt, bemerkt Tabbaa wütend.

Aus unserem Damaskus wollte er ein zweites Paris machen, mit breiten, schnurgeraden Boulevards, die unsere Kultur missachten.

Haussmannisierung von Damaskus?

Geprägt von den Vorstellungen des Stadtplaners Georges-Eugène Haussmann, der Paris in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sein großzügig-grandioses Stadtbild verlieh, schwebten Ecochard für Damaskus bis zu 20 Meter breite Plätze vor sowie eine neue Autobahn mit Anschluss an alle wichtigen Ausfallstraßen, um den Verkehr aus der Stadt herauszuleiten. Zu deren Bau kam es zwar nicht, dafür aber zu dem der stadtautobahnähnlichen Straßen Al-Thaura und Al-Ittihad, die die Altstadt extra muros (außerhalb der Stadtmauern) durchschneiden.

Angesichts der bereits Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzenden Bevölkerungs- und Verkehrsexplosion keine schlechte Idee. Mittlerweile jedoch zählt Damaskus bei einer Fläche von 118 km2 über 3 Millionen Einwohner mit einem überdurchschnittlichen Bevölkerungswachstum von über 3%. 17000 Minibusse drängeln sich täglich durch die Stadt. Dass die Tendenz auf allen Ebenen steigt, impliziert, dass der bloße Bau von Schnellstraßen langfristig keine Lösung ist: Al-Thaura und Al-Ittihad erliegen dem verkehrstechnischen Dauerkollaps, eine verbreiterte König Faissal Straße würde kaum Abhilfe schaffen.

Veto der Unesco

Das größte Problem aber reflektieren Ecochards dem westlichen Fortschrittsglauben des 19. und 20. Jahrhunderts verpflichtete Pläne kaum: Die Schnellstraßen durchkreuzen eine Jahrtausende alte Stadt. Die möglicherweise älteste, kontinuierlich bewohnte Stadt der Welt. Morphologisch gewachsene Viertel, wie etwa das von der Al-Thaura-Schnellstraße zertrennte Sarouja-Viertel, werden so zerstört.

Obgleich es extra muros liegt, datiert es aus dem frühen 14. Jahrhundert. Eine solch historische Stätte mit dem Wunsch nach einer „autogerechten“ Innenstadt kombinieren zu wollen, bedeutet nicht nur einen bauästhetischen Spagat, sondern einen unwiderruflichen Bruch mit der traditionellen orientalischen Baukultur – und somit mit der Identität von Damaskus. Das meint auch die Unesco, die sich jüngst massiv in das Ausbausprojekt der König Faissal Straße einschaltete.

Ihr Standpunkt: Das Areal grenzt unmittelbar an die Stadtmauer. Somit gelte es als Schutzzone der intra muros gelegenen Stätten, die 1979 in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wurden. Seine Zerstörung könnte die Registrierung von Damaskus als „gefährdetes Weltkulturerbe“ zufolge haben, wie Francesco Bandarin, Direktor des Welterbe-Zentrums der Unesco, im April offiziell androhte.

Schandfleck oder Welterbe? Das König Faissal-Areal grenzt an vier der sieben Stadttore

Wie sich die Stadtverwaltung aus dieser Klemme befreien will, ist noch nicht abzusehen. Einerseits will sie Damaskus in 2008 der internationalen Öffentlichkeit als „Hauptstadt der arabischen Kultur“ präsentieren, zu der sie die Alesco, das arabische Äquivalent der Unesco, wählte. Der Zeitpunkt, sich den Makel „gefährdetes Welterbe“ einzuhandeln, ist somit denkbar ungünstig.

Andererseits verfolgt die Regierung das Projekt seit langem. Dreizehn Jahre nach Ecochards Plangrundlegung eignete sie sich einen Teil des für den Ausbaus nötigen Grund an. Der zweite Vorstoß erfolgte im vergangenen Jahr: der Grund zwischen der Moschee Mu’alaq in der König Faissal Straße und dem berühmten Thomas-Tor ging in staatlichen Besitz über. Die Aneignung des Restabschnitts wäre dieser Tage erfolgt, hätten die Händler die diskrete Bekanntmachung von Anfang März nicht mit lautem Protest beantwortet. Für sie geht es um ihre Existenz. In doppelter Hinsicht.

Hohe Zahlungsauflagen bei niedrigen Entschädigungen

„Wissen Sie, wie geringfügig die staatlichen Entschädigungen ausfallen?“ fragt Majed Jamal Eldin, der gemeinsam mit seinen fünf Geschwistern das Geschäft für Trinkwasser-Pumpen in der König Faissal Straße betreibt:

Und wie hoch die Abfindungen sind, die wir wiederum beim Kauf oder der Miete eines neuen Ladens zahlen müssen?

Tatsächlich müssen in Syrien Privatleute – im Gegensatz zum Staat - bei der Übernahme von Gewerbe- oder Büroflächen an die bisherigen Betreiber, ob Eigentümer oder Mieter, eine Abfindung zahlen. Für 700.000 Dollar bekäme Majed zwar ein Objekt, das der Größe seines 140 m2 großen Verkaufsladens entspricht – jedoch in einer infrastrukturell kaum erschlossenen und entsprechend gering frequentierten Vorortlage, die einer maximalen Abfindungszahlung von 75.000 Dollar entspräche.

Wer nicht mehr zahlen will oder kann, darf dorthin ziehen, wo nicht einmal mehr Strom- und Wasserversorgung gewährleistet sind.

Doch nicht die Vernunft, sondern die Nachfrage auf dem Immobilienmarkt diktiert die Preise – ein Problem, das ihn wie nahezu alle Händler verzweifeln lässt.

Zumal unser Grund inmitten der Altstadt Millionen wert ist.

Wie sehr das Damaszener Zentrum boomt, beweisen die wie Pilze aus dem Boden schießenden Restaurants. Allein in der 130 Hektar großen Fläche intra muros sind es beinahe 100, so viele, dass sogar die für gewöhnlich zeitverzögert agierende Stadtverwaltung Anlass zum Durchgreifen sah und einen Stopp für Lizenzvergaben verhängte.

Majed und seinen Mitstreitern nützt dies wenig. Sie sehen sich in die Vororte abgedrängt und zu „fliegenden Händlern“ ohne Verankerung in einem mit ihnen gewachsenen Milieu degradiert. Genau dies aber mache den gesellschaftlichen Aspekt ihrer Existenz aus:

Die Menschen und ihre Gassen hierzulande bilden eine Einheit. Das Besondere an Damaskus ist, dass seine Viertel keine auswärtigen Besucher benötigen, um in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu vibrieren. Sie tun es von selbst, solange die ‚Eltern der Viertel’ darin bleiben. Anderenfalls stirbt alles Leben ab.

Talal Akili, Fakultät für Architektur/Universität Damaskus

Auflösung der Identität

Dass dies nicht nur sinnbildlich zu verstehen ist, beweisen jene Händler, die den Abriss ihrer Souks Al-Assrounieh und Al-Misskieh 1975 nicht überlebten. Und wer Maruan inmitten von Lieferscheinen, Pepsidosen, Zangen und einer denkmalwürdigen Telefonvorrichtung hantieren sieht, dem stellt sich nur eine Frage: 227 Jahre alte Wurzeln verpflanzen?