20 Jahre WWW: Prinzipienschwemme im Cyberspace

Seite 3: Das neue magische Viereck

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Der Teufel liegt natürlich aber im Detail. Und selbst der Soft Law-Ansatz ist voller Landminen, da Regierungen und Organisationen ziemlich unterschiedliche Vorstellungen haben, wie die Architektur einer globalen Internet-Prinzipien Deklaration aussehen sollte. Für die einen - z.B. die USA und NATO - steht die Sicherheit des Internet an oberster Stelle, für die anderen - der Europarat - die Menschenrechte und die individuellen Freiheiten. Die Gruppe der 77 sieht Entwicklung als oberstes Prinzip und die OECD hat die Entwicklung der Internetwirtschaft und der Schutz des geistigen Eigentums ganz oben auf ihrer Prioritätenliste.

Das Problem ist, dass in einem Konfliktfall, bei dem legitime Interessen aber unterschiedliche Wertvorstellungen aufeinanderprallen, unterschiedliche Institutionen zu sich widersprechenden Lösungen für das gleiche Problem kommen.

Dabei bedeutet die Menschenrechts-Priorisierung des Europarates ja keineswegs, dass der Europarat Sicherheit, Wirtschaftlichkeit und Entwicklung als Nebensächlichkeit ansieht. Und die OECD und die US-Regierung ignorieren nicht Menschenrechte und Entwicklung wenn sie der Sicherheit und der Wirtschaftlichkeit Vorrang geben. Und wenn die G 77 Entwicklung in den Vordergrund stellt, ist das ja kein Plädoyer gegen die Internetsicherheit .

Die Schwierigkeit ist, die im Einzelfall konfligierenden Interessen und Werte fair gegeneinander abzuwägen. Niemand wird da einen Schlüssel für eine Patentlösung haben oder den Königsweg kennen. Das Risiko ist auch hier die Extremlösung. Wer der Cybersicherheit individuelle Menschenrechte und Freiheiten opfert unterminiert genauso die Stabilität und das weitere Wachstum das Internet wie derjenige, der unter Berufung auf individuelle Freiheiten die Strafverfolgung von Kriminellen oder den Schutz von geistigem Eigentum im Internet ablehnt.

Den Mittelweg zu finden, ist eine außerordentlich komplizierte Herausforderung, die an Komplexität kaum zu übertreffen ist. Wir werden in der Zukunft sehen, dass es bei der Internet-Kontroverse nicht nur um einen Kampf zwischen (demokratischen und weniger demokratischen) Regierungen geht oder zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, sondern dass dies eine grundlegende Auseinandersetzung ist zwischen Sicherheits-, Wirtschafts- und Menschenrechts- und Entwicklungsaktivisten in Regierungen, Unternehmen und in der Zivilgesellschaft. Es entsteht praktisch ein magisches Viereck, in dem Menschenrechte, Sicherheit, Wirtschaftswachstum und Entwicklung im Cyberspace neu gegen- und miteinander ausgewogen werden müssen. Das ist viel Stoff für neue politische Konflikte deren Ausgang noch ziemlich offen ist.

Die Verhandlungen um die OECD-Grundsätze waren eine erstes Beispiel dafür, wie schwierig es ist, in einer Multistakeholder-Umgebung einen Konsensus zu finden. Die OECD, eine zwischenstaatliche Organisation, hatte sich bei ihrer Ministerkonferenz 2007 in Seoul diesem Multi-Stakeholder-Modell geöffnet und Privatsektor, technische Gemeinschaft und Zivilgesellschaft eingeladen, beratende Ausschüssen zu bilden, um die OECD bei der Entwicklung von Internetpolitiken zu beraten. In der letzten Phase der OECD-Verhandlungen im Juli 2011 widersprach nun der Beratungsausschuss der Zivilgesellschaft (CSISAC) zwei Prinzipien. CSISAC, die rund 100 NGOs und Nutzerorganisationen vertritt, war der Ansicht, dass die OECD-Grundsätze den Wirtschaftsinteressen von Unternehmen zu Lasten der Menschenrechte individueller Nutzer Vorrang geben, insbesondere im Hinblick auf zwei der 15e OECD-Grundsätze, und zwar die zum Schutz geistigen Eigentums und der Haftung für Internet Service Provider. Die OECD-Regierungen, einschließlich der US-Regierung, unternahmen große Anstrengungen, um CSISAC zum Einlenken zu bewegen. Der Konflikt war aber nicht überbrückbar und CSISAC entschied, der OECD-Deklaration die Unterstützung zu verweigern.

Der Europarat hat noch keinen internen Multi-Stakeholder-Mechanismus. Er organisierte aber im April 2011 in Strasbourg eine hochrangige Multi-Stakeholder-Konferenz vor der Ausarbeitung der endgültigen Fassung seiner Internet-Prinzipienerklärung. Während dieser Konferenz wurde deutlich, dass die nicht-staatlichen Akteure eine Menge der Ideen des Europarates unterstützen. Sie verwarfen aber die Idee, ein Dokument, das von Regierungen angenommen wurde, lediglich zu unterzeichnen. Sie forderten eine gleichberechtigte Partnerschaft in einem offenen und transparenten Bottom-up-Prozess bei der endgültigen Formulierung von Internet-Softlaw. Der Europarat, der sehr offen für das Multi-Stakeholder-Modell ist, erwägt nun die Fortsetzung der Diskussion im Jahr 2012 und überlegt, wie er die zwischenstaatlichen "Internet Governance Prinzipien-Erklärung" in ein Multi-Stakeholder "Framework of Commitments" (FOC) bewerkstelligen kann.

Aufbruch in politisches Neuland

Die Komplexität wird noch komplizierter, denn selbst dort, wo es Übereinstimmung in der Wortwahl gibt, gibt es tiefen Unterschiede im Verständnis. Das trifft insbesondere auf das vage definierte Grundprinzip "Multistakeholder Governance" zu. Einige Regierungen haben erkannt, dass dieses Prinzip weit über die etablierten Verfahren politischen Entscheidungsfindung zwischen Regierungen hinausgehen, für andere Regierungen aber ist Multistakeholderismus lediglich ein Lippenbekenntnis, ein schöner aktueller Slogan der den Kernbereich traditioneller staatlicher Politikentwicklung nicht berührt.

Das wird nicht funktionieren. In der WGIG-Definition, die mehr als 150 Regierungschefs als Grundlage für Internet Governance 2005 akzeptiert haben, wird ausdrücklich festgeschrieben, dass Politikentwicklung (auch zur Erarbeitung von Normen und Prinzipien) sowie Entscheidungsfindung als gemeinsame Aufgabe aller Stakeholder gesehen wird. Die nichtstaatlichen Stakeholder also auszusperren, wenn Entscheidungen gefällt werden, kann da nicht angehen. Internet Governance ist keine "Master-Slave-Beziehung", in der die Regierungen diktieren, was die technische Community, der Privatsektor und die Zivilgesellschaft zu machen haben. Multistakeholder ist nicht Diktat, sondern Dialog, eine neue Partnerschaft, in der alle Interessengruppen, einschließlich der Regierungen, auf gleicher Augenhöhe und in ihren jeweiligen Rollen miteinander kommunizieren, koordinieren und kollaborieren.

Mit anderen Worten: Die Werkzeuge der Diplomatie des 20. Jahrhunderts, wo Regierungen hinter verschlossenen Türen Deals aushandelten, die allenfalls noch von individuellen Lobbyinteressen großer Unternehmen beeinflusst waren, sind nicht mehr hinreichend, um die Probleme der Internetwelt des 21. Jahrhunderts zu meistern. Was gebraucht wird, ist eine neue Internetdiplomatie des 21. Jahrhunderts. Und das braucht neue Instrumente und Formen der Interaktion zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren.

Keine Frage, das ist schwierig. Für Regierungen ist es sicherlich neu, dass sie sich bemühen müssen, um eine zivilgesellschaftliche Gruppe wie CSISAC an Bord zu holen (wie im OECD-Fall) oder dass sie mit Entscheidungen, die sie nicht mögen (wie in Fall von ICANNs Entscheidung zu neuen gTLDs) leben müssen.

Aber einen Weg zurück zu einer klassischen Politik von oben ist weitgehend versperrt oder nur um den Preis einer Zerstörung des Internet zu haben. Es gibt keinen anderen Weg, als sich vorwärts in ein noch unerschlossenes politisches Terrain zu bewegen. Was wir brauchen, ist Innovation und Kreativität nicht nur bei der Entwicklung neuer Internet-Anwendung und Dienstleistungen, sondern auch in der Internetpolitik.

Es ist wahr, das Multistakeholder-Prinzip ist noch nicht definiert. Und auch das Verfahren, wie die Stakeholder bei der Entwicklung von Politiken, ihrer Verabschiedung und ihrer Exekution zusammenarbeiten, ist noch nicht geschrieben. Multi-Stakeholder-Governance ist ein Schritt in politisches Neuland.

Man braucht keine prophetischen Gaben um vorauszusehen, dass Internet Governance eines der wichtigsten politischen Schlachtfelder in den 2010er Jahren wird. Bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 2011 wird die Auseinandersetzung fortgesetzt: Im September 2011 findet der 6. IGF in Nairobi statt, im Oktober 2011 startet der 2. Ausschuss der 66. UN-Generalversammlung seine Internetdiskussion in New York und im November 2011 treffen sich die Führer der G20, darunter auch China, Brasilien, Indien, Südafrika und andere G77-Mitglieder, in Cannes.

Wolfgang Kleinwächter ist Professor für Internetpolitik und -regulierung an der Universität Aarhus. Er war Mitglied der UN Working Group on Internet Governance (WGIG) und leitet die Cross-Border Internet Expert Group des Europarates. Er äußert hier seine persönlichen Ansichten.