AMANDA: Durchbruch auf der Jagd nach unsichtbaren Phantomen

Internationales Forscherteam spürte am Südpol erstmals hochenergetische kosmische Neutrinos auf

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Das wohl absonderlichste Teleskop der Moderne operiert in zwei Kilometer Tiefe im ewigen Eis des Südpols. Dort jagt es nach Neutrinos, jenen seltsamen, unsichtbaren, fast masselosen Elementarteilchen, die annähernd mit Lichtgeschwindigkeit durch das Weltall flitzen und dort scheinbar keine Barriere kennen. Mit Hilfe dieser Geisterteilchen könnten einige Geheimnisse des Kosmos gelüftet werden.

Konnten die Forscher bislang nur energiearme solare und "irdische" Neutrinos nachweisen, so hat nunmehr eine aus 119 Physikern und Astronomen bestehende internationale Forschergruppe am anderen Ende der Welt erstmals mit dem Neutrino-Observatorium AMANDA hochenergetische Neutrinos entdeckt, die aus den Tiefen des Alls stammen. Solche Geisterteilchen, die bei großen kosmischen Katastrophen entstehen, verbergen unschätzbare Informationen über das Universum

Wenn Astronomen mitunter bis ans Ende der Welt reisen und die im ewigen Eis des Südpols dahintreibende amerikanische Amundsen-Scott-Station aufsuchen, dann kommt diese Mobilität nicht von ungefähr. Wer 3000 Meter über den Meeresspiegel bei einer Höchsttemperatur von minus dreißig Grad eine solche Strapaze in Kauf nimmt, den treibt keine Fernweh oder irgendwelche Abenteuerlust in die Kälte und Öde der Antarktis. Wen es als Astronom dorthin verschlägt, sucht nach einem Ort mit optimalen Beobachtungsbedingungen. Am Südpol herrschen diese vor. Hier, in frostigen Gefilden, wo die Sonne gleich ein halbes Jahr lang rund um die Uhr scheint, ist die Luft noch sauber und kristallklar.

AMANDA-Detektor - Eine lichtempfindliche Glaskugel

Für die ebenfalls am Südpol ansässigen Astronomen des AMANDA-Projekts (Antarctic Muon And Neutrino Detector Array) haben derlei Kriterien jedoch keinerlei Bedeutung. Gute und konstante Sichtbedingungen oder irgendwelche kristallklare Luft haben ganz gewiss nicht den Ausschlag dafür gegeben, dass sie seit 1990 in der Antarktis unweit der Amundsen-Scott-Station mit dem Neutrino-Detektor AMANDA nach Neutrinos jagen. Dass sie im Eis der Antarktis in einer Tiefe von zwei Kilometer ein Netz von Detektoren vergraben haben, hat indes einen praktischen Hintergrund. Denn AMANDA soll nicht etwa jene Neutrinos aufstöbern, die vom Weltraum auf den Südpol einströmen. Vielmehr soll es diejenigen ausmachen, die auf der nördlichen Hemisphäre "eintreffen".

Kosmische Katastrophen als Geburtshelfer

Neutrinos entstehen in Hülle und Fülle bei nuklearen Reaktionen, wie beispielsweise in unserer Sonne. Die energiereichen Neutrinos, die AMANDA hingegen im Visier hat, sind kosmische vom Rande des Universums einströmende Teilchen, die bei gewaltigen Katastrophen im Universum entstehen. Wenn Kerne von Galaxien brodeln, Schwarze Löcher (Vgl.Gefräßige Bestien im Weltall) zusammenstossen und Supernovae sich ereignen, schlägt die Geburts-Millisekunde dieser extravaganten Teilchen. Dann sind sie durch nichts mehr aufzuhalten. Alles, was sich ihnen in den Weg stellt, wird von ihnen glattweg durchflogen: Monde, Planeten, Sterne oder Galaxienhaufen. Fänden die Forscher einige dieser Partikel, die mit Vorliebe ungebremst und geradlinig durch jegliche Materie rasen, könnten sie anhand ihrer Flugbahnen zugleich die Quelle ihrer Herkunft berechnen. Damit aber die ungeladenen, unsichtbaren und fast masselosen subatomaren Partikel Zeugnis von den Geheimnissen des Kosmos ablegen und etwas über jene kosmischen Tragödien verraten, aus denen sie hervorgegangen sind, müssen die Elementarteilchen-Forscher einen vergleichsweise großen Aufwand treiben. Nicht zuletzt deshalb, da Neutrinos - dem Standardmodell zufolge existieren drei verschiedene Unterarten - aufgrund ihrer ungewöhnlichen Eigenschaften äußerst schwer zu entdecken sind. Kein Wunder, beträgt doch die Masse eines einzelnen Neutrinos höchstens Millionstel-Bruchteile der Masse eines Elektrons. Da aber bereits das Elektronengewicht sich bloß auf gerade mal den Millionsten Teil eines Trilliardstel Gramms beläuft, sind die Neutrinos nur geringfügig schwerer als das Nichts. Um just dieses geringe Etwas im Nichts aufzuspüren, nutzen die Wissenschaftler das Eis über dem Südpol quasi als Medium und die Masse der Erde sozusagen als Filter. Dabei messen sie nur jene Myonen, die sich aufwärts bewegen und daher von Neutrinos stammen, die auf der Nordhalbkugel in die Erde eingedrungen sind und den ganzen Erdball durchquert haben. Auf diese Weise können alle "unerwünschte" Myonen, die beispielsweise in der Erdatmosphäre entstanden sind, aber auch andere potenzielle Störfaktoren herausgesiebt werden: Am Ende bleiben dann tatsächlich nur noch jene Neutrinos übrig, die irgendwo in den Tiefen des Alls "geboren" wurden.

2000 Meter unter dem Eis

Genau deshalb steckt AMANDA kopfüber im kristallklaren Polareis, damit es am Südpol die Lichtblitze der aus Richtung Nordpol kommenden Neutrinos registrieren kann. Eigentlich ist AMANDA weniger ein Teleskop als vielmehr ein Detektor-Feld, das aus vielen lichtempfindlichen Glaskugeln besteht, so genannten Photomultipliern. Um die Anlage im Polareis verankern zu können, legten die Forscher als Basis 80 Schächte an. Mit heißem Wasser bohrten sie für jede Kugel eine zweitausend Meter lange, senkrechte Röhre ins Eis. Insgesamt 80 medizinballgroßen Detektoren wurden dann vorsichtig hinab gelassen.

Nur wenige Stunden danach schließt sich das Eis in der Regel und die Kugel friert ein, bleibt dabei aber über ein Kabel mit dem Messrechner verbunden. "Der dicke Eispanzer schirmt Störungen von oben, aus der kosmischen Strahlung, weitgehend ab. Die Standortwahl erlaubt uns sogar, die Herkunftsrichtung der Partikel zu bestimmen", erklärt Christian Spiering vom DESY Zeuthen.

Mittlerweile kann AMANDA auf 677 optische Module verweisen, die in einem Zylinder von 500 Meter Höhe und 120 Meter Durchmesser angeordnet sind. Bis zum Jahr 2008 sollen mehr als viertausend Kugeln hinzukommen.

Das ganze Projekt steht und fällt mit der Empfindlichkeit der Lichtsensoren, die in den druckfesten Detektor-Kugeln sitzen. Deren Aufgabe ist es, die Neutrinos, die auf der Nordhalbkugel der Erde auftreffen und den antarktischen Kontinent von unten durchtunneln, zu registrieren. Stoßen Neutrinos auf ihrem Weg durch die Eisschicht mit einem Atomkern zusammen, verwandeln sie sich mitunter in ein anderes subatomares Teilchen, dem bereits erwähnten Myon. Dieses gibt sich durch einen schwachen bläulichen Lichtkegel zu erkennen. Sobald die Sensoren im durchsichtigen Eis das Ereignis registrieren, errechnet ein Hochleistungscomputer die Flugbahn des Neutrinos. Ähnlich wie aus der Bugwelle eines Schiffs auf dessen Fahrtrichtung geschlossen werden kann, rekonstruiert der Rechner aus dem Verlauf des Lichtkegels den Einflugwinkel der Neutrinos.

Doch da Partikeln dieser Couleur zu den kontaktscheusten und kleinsten ihres Genres zählen, sind solche Glückstreffer ausgesprochen rar. Von mehr als hundert Milliarden Neutrinos, die pro Sekunde auf jeden Quadratzentimeter der Erdoberfläche prasseln, verfängt sich kaum ein Dutzend in unserem Planeten. Anstatt mit der Umgebung in Kontakt zu treten und zu kommunizieren, flitzt das Gros auf Nimmerwiedersehen mit beinahe Lichtgeschwindigkeit durch den Erdball hindurch.

Hochenergetische Neutrinos aufgespürt

Bis vor kurzem konnte AMANDA nur Neutrinos aus der Erdatmosphäre auflesen. Solche entstehen durch das Einwirken kosmischer Strahlung. Wie die Projektleiter jüngst im Wissenschaftsmagazin Nature www.nature.com berichteten, gelang es einem internationalen Forscherteam am Südpol erstmalig, mit Hilfe der AMANDA-Detektoren Neutrinos aus den Tiefen des Universums aufzufischen. "Unsere einzigartige Sonde hat eine Empfindlichkeit, die jenseits aller bisherigen Experimente liegt. Und die Neutrinos, die wir jetzt sahen, sind energiereicher als alle bisher bekannten", schwärmt Francis Halzen vom Department of Physics der University of Wisconsin-Madison, der gleichzeitig auch als AMANDA-Sprecher fungiert. In der Tat: Die detektierten Partikel sind im Gegensatz zu ihren "irdischen" Verwandten um das 10.000-fache energiereicher.

Prof. Halzen mit einem Detektor in der Hand

Wenngleich den Teilchen-Jägern am Südpol zuvor schon über zweihundert Neutrinos in die Falle gegangen waren, war darunter noch kein erwünschtes extrasolares Geisterteilchen. "Spektakuläre Supernova-Ausbrüche haben sich in letzter Zeit nicht ereignet, und sämtliche anderen Neutrinoquellen im Universum liegen unvorstellbar weit von uns entfernt. Der Teilchenfluss von dort ist deshalb extrem gering", versuchte der Desy-Mitarbeiter Torsten Schmidt letztes Jahr noch das Fernbleiben der kosmischen Neutrinos zu rechtfertigen. Nunmehr hat sich die Geduld aller Astronomen und Physiker ausgezahlt, da die ersten kosmischen Neutrinos geradewegs in die so mühsam aufgebaute antarktische Falle tappten.

IceCube soll Trefferquote erhöhen

Um in Zukunft die Trefferquote weiter zu erhöhen und die seltenen Gäste mit größerer Wahrscheinlichkeit abzufangen, brauchen die Partikel-Forscher ein noch weitaus größeres Detektor-Netz. Daher sind derzeit Planungen im Gange, die ein noch größeres Neutrino-Teleskop mit 4800 optischen Modulen vorsehen, die einen Kubikkilometer Eis füllen sollen. Der oder das IceCube soll das größte Experiment der Welt werden und John Bahcall vom Institute für Advanced Study der Princeton University freut sich schon jetzt, schließlich markiere diese Errungenschaft den Beginn einer neuen Wissenschaft: "Die extragalaktische Astronomie mit Neutrinos".

Wie dem auch sei - für den Entdecker der Neutrinos, den Physiker und Physik-Nobelpreisträger von 1946 Wolfgang Pauli gibt es immerhin einen "verspäteten" Trost. Denn als er erstmals das Problem der Neutrinos in seine Theorie einführte, um damit einige Ungereimtheiten beim Kernzerfall zu erklären, schrieb er im Jahr 1930 noch voller Pessimismus an einen Kollegen: "Ich habe etwas Schreckliches getan. Ich habe ein Teilchen vorausgesagt, das sich nicht nachweisen lässt."