"Ab ins Obdachlosenwohnheim - denn das hält die Politik für 'zumutbar'"

Seite 2: "Bereits förmlich bewilligte Leistungen werden nicht gezahlt"

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Was halten Sie von Plänen der Regierung, wegen der Vielzahl der Klagen von den Harz-IV-Beziehern nun Gerichtsgebühren zu verlangen?

Brigitte Vallenthin: Das ist einerseits ein unglaublich dreister Versuch, die Hartz-IV-, also SGB-II-Berechtigten - ebenso wie die Rentner und arbeitsunfähig Erkrankten im SGB-XII-Bezug jeglicher Möglichkeit zu berauben, wenigstens vor den Sozialgerichten noch ihre Rechte erkämpfen zu können, die ihnen die Verwaltung systematisch vorenthält.

Gleichzeitig ist es aber die logische Konsequenz der eigentlichen Ziele eines mehr als 300-seitigen so genannten Arbeitsmarktreform-Werkes namens Agenda 2010 , das Ex-VW-Vorstand Peter Hartz bei einer pompösen Inszenierung im Französischen Dom zu Berlin an Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder - auf eine kleine blaue CD-Rom gepresst - medienwirksam übergeben hat.

Damals wie heute hatte Hartz etwas mit Wahlkampf zu tun - damals im Dienste der rot-grünen Bundesregierung. Die Auswirkungen dieses Rundumschlages gegen soziale Gerechtigkeit - von Hartz mit dem giftigen Versprechen "Ein schöner Tag für die Arbeitslosen in Deutschland" angekündigt - haben seit dem 1. Januar 2005 eine wachsende Anzahl von einzelnen Menschen und ganzen Familien ruiniert.

"Prozessflut wäre einfach einzudämmen"

Dabei könnte man - wenn tatsächlich der Gesetzgeber guten Willens gegenüber seinen Bürgern wäre - die Hartz IV-Prozessflut, die man mit nicht aus dem Regelsatz finanzierbaren Gerichtsgebühren verhindern möchte, doch ganz einfach eindämmen, nämlich so: Die Jobcenter müssen - wie alle anderen Sozialleistungserbringer, beispielsweise Renten- und Krankenkassen auch - die pauschale Gerichtsgebühr von 150 Euro tragen.

Denn nur wegen der Befreiung der Hartz-IV-Ämter von dieser Gerichtsgebührenpflicht können die Sachbearbeiter einem immer wieder frech ins Gesicht sagen: "Ist mir egal, ob Sie meinen Bescheid in Ordnung finden oder nicht - gehen sie doch zum Sozialgericht - das ist mir egal." Müssten sie Verantwortung für ihre systematisch rechtswidrigen Leistungsverweigerungen tragen und hätten sie pro Klage die 150 € zu zahlen, so wären bei ca. 200.000 Klagen schon jetzt seit 2005 von ihnen rund 30 Millionen zu berappen gewesen.

Diese Planspiele, die Gerichtskosten denen weiterhin zu erlassen, die sie verursachen, und denen anzuhängen, die sie weder verursachen noch überhaupt bezahlen können, prangerte Anfang dieses Jahres auch die Berliner Sozialgerichtspräsidentin, Sabine Schudoma, an. Sie hält das für "völlig unverständlich," und stellt fest: "Der freie Zugang zur Justiz ist wichtiger denn je."

Sie hatten ja nicht nur Probleme damit, bestimmte Leistungen bewilligt zu bekommen. Wie Sie in Ihrem Buch schreiben, wurden zudem bewilligte Leistungen zum Teil nicht zuverlässig erbracht. Welche, und was waren die Folgen? Wissen Sie, ob so etwas häufiger passiert - Sie sind ja Sprecherin der Wiesbadener Hartz-IV-Plattform.

Brigitte Vallenthin: Das selbst bereits förmlich bewilligte Leistungen - wie oben berichtet - nicht zuverlässig gezahlt werden, ist absolut keine Ausnahme. Es ist tagtägliche Erfahrung mit den Ämtern. Wir stellen das immer wieder fest bei unserer Arbeit in der Bürgerinitiative Hartz-IV-Plattform, die Betroffenen aus allen Teilen der Republik bei ihren individuellen Problemen mit Behörden und Gerichten zur Seite steht.

Allzu häufig kapitulieren die Leute leider auch, weil sie an den völlig unverständlichen und intransparenten Bescheiden und Berechnungsbögen - von nicht selten 10, 15 Seiten und mehr Umfang - und an davon abweichenden Zahlungseingängen, Rechtsfolgenbelehrungen und Fristsetzungen, mit denen sie in der Form und in diesem Ausmaß nie zuvor in ihrem Leben zu tun hatten, zermürben und schließlich verzweifeln.

Die Sisyphusarbeit, dies alles im Kampf mit den unwilligen Behörden zu entwirren, halten nur wenige durch. Deshalb zeigt auch die Klageflut nur die Spitze des Eisbergs der - beschönigend "fehlerhaft" genannten - massenhaften Leistungs-, Änderungs- und Widerspruchs-Bescheide. Dieser Papierkrieg übertrifft an Arbeit die Erstellung einer Steuererklärung um ein Vielfaches .

Was eine angemessene Wohnung für einen Hartz-IV-Empfänger ist, ist im Gesetz selbst nicht definiert. Was sind die Folgen für Hatz IV-Bezieher? Wie Sie schreiben, wurde bei Ihnen sogar ein Obdachlosenwohnheim als angemessen erachtet...

Brigitte Vallenthin: Ich kenne zwar die Häufigkeit der Klagen nicht, vermute aber mal, dass die so genannte "Angemessenheit" der Wohnung bei den Sozialgerichten ganz oben stehen dürfte. Sie ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass selbst höchstrichterliche Rechtsprechung den Behörden völlig egal ist. Denn die - meines Erachtens logische -Eingrenzung der Gesetzes-Formulierung "angemessen", hat das Bundessozialgericht seit 2005 gleich mehrfach vorgenommen und auf die Pflicht zur Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten anhand des Wohnungsspiegels sowie des verfügbaren Wohnungsangebots verwiesen.

Seitdem sind die Bundessozialrichter auch nicht müde geworden, in immer neuen Urteilen zu wiederholen, dass Wohnkosten-Pauschalierungen nicht rechtmäßig und realitätsgerecht sind. Das alles passt aber nicht in das Sparkonzept der Regierung an den Ärmsten im Lande. Also geht sie her und ändert mal einfach das Gesetz - übrigens nicht zum ersten mal bei Hartz IV - statt die Erfahrungen der Sozialrichter aus zigtausenden von Schicksalen ernst zu nehmen. So hat sie unter anderem kurzerhand in der neuen - noch im Vermittlungsausschuss befindlichen - Hartz-IV-Gesetzesnovelle den Sozialgerichten eine Wohnraumpauschalierung angeordnet. Und sie setzt auch gleich noch eine zusätzliche Einschränkung oben drauf, nämlich die Heizkosten-Pauschale.

So schlägt Ministerin von der Leyen gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe, um zukünftig dem Finanzminister unliebsame, weil nicht ausreichend kostensparende Richtersprüche zu ersparen. Alleine durch diesen Teil der Gesetzesänderung - die übrigens gänzlich vom Auftrag der Verfassungsrichter abweicht - wird es vermutlich einer bedrohlich wachsenden Zahl von Hartz-IV-Antragstellern ergehen wie mir: Verfügbare Wohnungen werden nicht genehmigt, man wird auf die Straße gesetzt - und, wenn nicht Freunde wie in meinem Falle schließlich überbrückend helfen, geht es ab ins Obdachlosenwohnheim. Denn das hält die Politik für "zumutbar".

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