"Abendland": Angela Merkel hat ein Identitätsproblem
Angie trifft Merkel – Omer Fasts Film spielt mit knallig-schrillem und doch subtilem Witz. Die Ex-Kanzlerin und Bestsellerautorin als Projektionsfläche für alles und jedes.
"Sprachlich schlecht", "schlicht", "wie ein Schulkind" las man über Angela Merkels Memoiren. Das Infantile und die Kanzlerin, das waren nun wirklich überraschende Verbindungen.
"Abendland" umgekehrt ist ein bedeutungsschwerer Begriff aus der Welt der Urgroßväter. "Abendland" ist auch der Titel des dritten Spielfilms des weltweit renommierten Videokünstlers Omer Fast.
Er beginnt wie eine Abenteuergeschichte und entpuppt sich dann als stellenweise witzige, nachdenkliche Reflexion über Identitäten und Masken im Alltag. Aber bis zum Ende des Films fragt man sich, warum der Film so heißt, wie er heißt – ohne auch nur die Ahnung einer Antwort darauf.
Vorwärts in die Vergangenheit
Ein Wald, Sonnenschein, Zeitlupenbilder, eine deutsche Vorstadtsiedlung in Nebellandschaft, typische Bundesrepublik, darunter sphärische Musik gelegt, märchenhafte Stimmung, ein Baum wird gefällt, das Bild dazu läuft rückwärts, vorwärts in die Vergangenheit, zurück in jene Tage als das Wünschen noch geholfen hat.
Zurück in jene Tage, als Deutschland von einer Kanzlerin regiert wurde, einer Frau, mit der, wenn wir den jetzigen Rezensenten ihrer Memoiren glauben wollen, die Historiker weniger gnädig sein werden als die Menschen der Gegenwart.
Wir hören ihre Worte in einer berühmten Ansprache aus dem Off:
Liebe Mitbürger, es ist ernst. Nehmen sie es auch ernst!
Corona! Goldene ruhige Jahre, getaucht in milden Sonnenschein, so nahe und doch so fern.
Kennen wir Angela Merkel?
"Sie kennen mich!" So lautete ihr sehr erfolgreiches Motto beim Wahlkampf 2013 und tatsächlich war dieser Satz von Angela Merkel auch sehr wirkungsvoll – Vertrauen versprechend, auf den alltagskonservativen Wunsch nach Fortsetzung des Bestehenden setzend.
Zutreffend war er schon damals nicht, denn schon direkt danach brachte Merkel überraschend ihren Koalitionspartner SPD zur Weißglut – heute vergessen wir gerne, dass auch die Große Koalition 2013 bis 2017 eine Koalition des Streites war und derart ungeliebt, dass die SPD mit dem Versprechen in den Wahlkampf zog, es werde mit ihr jedenfalls keine Neuauflage dieser Koalition geben – mit dem Ergebnis, dass die SPD dann noch schlechter abschnitt, als zuvor.
Trotzdem hielt sich die SPD an ihr Versprechen, und wurde erst in eine Große Koalition gezwungen, als die geplante "Jamaika-Koalition" wider Erwarten doch nicht zustande kam – schon damals war Christian Lindner der Tullius Destructivus und Zwietrachtsäher der Verhandlungen.
Spätestens die folgenden politischen Umwälzungen im Zuge von Willkommenskultur, AfD-Aufstieg und Pandemie führten zu der Einsicht: Wir kennen Angela Merkel nicht wirklich.
"Angela Merkel": eine Projektionsfläche
Das wird nicht besser, wenn wir nun in diesem Kinofilm gleich zwei von ihnen im Wald begegnen, genau gesagt zwei Angela Merkels sich treffen, auch wenn die eine von ihnen "Angie" heißt und die andere "Merkel", und wenn sich das, was wir von Merkel wissen, als Maskenspiel, als Charaktermaske entpuppt.
Es ist eine der in den eindrucksvollen Bildern liegenden Thesen dieses Films, dass es Angela Merkel nicht gibt. Es gibt natürlich den Menschen; und es gibt die öffentliche Persona. Das weiß auch Regisseur Omer Fast, der zugleich erkennbar davon ausgeht, dass beide nicht miteinander identisch sind, dass also Angela Merkel selbst ein Identitätsproblem hat – was als psychologischer Befund ohne Frage nicht korrekt ist, aber um Psychologie geht es hier am allerwenigsten.
Mehr noch als das aber vertritt oder entwickelt Omer Fast in seinem Film "Abendland" die These, dass Angela Merkel eigentlich in Anführungsstrichen geschrieben werden muss, und dass diese "Angela Merkel" eine Projektionsfläche ist für alles und jedes.
Merkel orientierungslos tief im Wald
Vor der Polizei durch einen tiefen Wald, einen deutschen Märchenwald, fliehend wird sie in ein von der Zivilisation unabhängiges Dorf von Aktivisten verschlagen, das jenem "Hambi" im Hambacher Forst zum Verwechseln ähnlich sieht.
Baumhäuser wie bei Naturvölkern im brasilianischen Regenwald, Rituale wie in einem kalifornischen Esoterik-Zentrum der Hippies und ein Demokratieverständnis, wie aus der Steinzeit der Studentenbewegung Westdeutschlands.
Die lustige Pointe ist die, dass Angela Merkel da nun irgendwann sich selbst begegnet und ins Gesicht schaut. Das Spiegelstadium ist, wie wir aus der Psychoanalyse wissen, eine sehr frühe infantile Phase, eine Phase der Kindheitsentwicklung, an deren Ende so etwas wie eine Identitätsherausbildung steht. Sie erlebt Angel Merkel nun in diesem Film – ein knallig-schriller und doch subtiler Witz
War Merkel eine Marionette?
Dabei ist "Abendland" kein Film, schon gar kein Dokumentarfilm über Angela Merkel. Es ist vielmehr ein Spiel mit Referenzen und Verweisen, und der Zeichencharakter Angela Merkels ist in diesem Film ganz offenkundig.
Denn eigentlich geht es um zwei Menschen, die den ganzen Film über Masken tragen – wie überhaupt alle Menschen in diesem Film Masken tragen. Auch die Polizisten, bloß haben sie ihre eigenen Masken.
Die Masken tragen auch Filme in sich: "King Kong und die weiße Frau"; "V for Vendetta"; "Aladdin" und anderer Disney-Kram, also überhaupt die plastikhafte Pop-Kultur der US-Amerikaner.
Masken bedeuten natürlich auch Verstellung, Gesichtslosigkeit, Individualitätsabstreifung. Dazu kommen Verweise auf Kleist: auf sein "Marionettentheater". Aber war Merkel eine Marionette? Wessen?
Das Aufsetzen einer Maske bedeutet immer das Betreten einer besonderen Zone, einer sozialen Dimension, in der normale Regeln außer Kraft gesetzt sind, in der man sich vorübergehend von der eigenen Identität abkoppelt, um sie zu übertreten oder zu überschreiten.
Omer Fast
Filmkritik ist ratlos
Die Filmkritik steht ratlos vor diesem Film: "Ein doppelbödiges filmisches Maskenspiel", formuliert die Woche der Kritik nur einen beliebigen Gemeinplatz. Und Crossing Europe in Linz behauptete, der Film sei "voller metaphorischer Gesellschaftskritik und unbequemer Fragen, die unser Weltbild und die uns eigenen Glaubenssätze in Frage stellen".
Mag sein, aber könnte man eine dieser Fragen oder Kritik-Sätze einmal benennen?
Ähnlich in Cargo, wo davon die Rede war, Omer Fast habe "ein Faible für Situationen, die auf den ersten Blick Eindeutigkeiten versprechen, denen er aber einen doppelten oder dreifachen Boden einzieht."
Unter der Maske liegt das Nichts
Nüchtern erzählt handelt "Abendland" von zwei Frauen, die auf unterschiedliche Weise aktivistisch sind und überhaupt von den Nachteilen, Abgründen und den vielen Brüchen des politischen Aktivismus.
Man kann sich fragen, ob die These des Films nicht auch die ist, dass die Maske unser wahres Gesicht ist und dass ein Abnehmen der Maske uns gar nicht mehr möglich ist.
Insofern ist Omer Fast' Szenario auch die schreckenhafte Negation der liberalen, individualistischen Gesellschaft, in der wir noch (?) leben.
Die Memoiren der Exkanzlerin
Für ihre Memoiren recycelte die Exkanzlerin den Buchtitel Joachim Gaucks, der gegen ihren Willen Bundespräsident wurde: "Freiheit". Der Verkaufsstart war, so hieß es zunächst, relativ verhalten.
Für ihre ärgsten Kritiker sei vermutlich schon der Titel "Freiheit" eine Provokation, meinte die FAZ in einer Besprechung zur neuen Merkel-Autobiografie. 736 Seiten "Banalitäten" urteilte Die Welt, "ebenso öde wie kleinteilig, (...) so blutleer und pointenarm (...) wie die Vorlage eines Unterabteilungsleiters im Finanzministerium", meinte der Spiegel.
Gerade mal verkaufte 35.046 Exemplare am ersten Verkaufstag. 42 Euro kostet das backsteinfette, freiheitsblaue Stück, also gut 5,7 Cent pro Seite in Inflations- und Krisenzeiten wohl einfach zu hoch?
Nicht unbedingt, wie die Nachrichten heute melden. Im Advent entwickelt sich das Buch anscheinend zur Erfolgsgeschichte.
Angela Merkels Buch "Freiheit" ist das bislang erfolgreichste Buch des Jahres.
In der ersten Verkaufswoche seien die Memoiren der früheren Kanzlerin "mehr als 200.000 Mal verkauft" worden. Das ermittelte laut Nachrichtenmagazin eine Analyse des Unternehmens Media Control, das Buchverkäufe in Deutschland erfasst.
Selbstbeschreibung und Zukunftsversprechen
Es kann jedenfalls kein Zufall sein, dass dieser Film genau eine Woche nach Erscheinen von Angela Merkels Memoiren herauskommt. "Freiheit" – das ist bei Angela Merkel ein Befund und eine Selbstverständlichkeit und eine Selbstbeschreibung, aber auch ein Zukunftsversprechen.
In diesem nicht-narrativen, experimentellen, sehr anregenden, aber auch etwas diffusen Film ist Freiheit einerseits die künstlerische Freiheit des Regisseurs und Autoren Omer Fast.
Und andererseits, wie bei Merkels Memoiren, ein Schreibfehler: Es müsste "Freizeit" heißen.
Angela Merkel: Freiheit. Erinnerungen 1954 – 2021. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 736 Seiten
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