Abgründig hündisch

Wie jede gute Geschichte über Hunde muss auch diese mit dem Wolf beginnen - Tom Appleton glaubt, dass die Vorfahren der heutigen Haustiere auch als Nahrungsspeicher und Müllbeseitiger domestiziert wurden

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Lupus, der Wolf. Genetisch fast identisch mit dem Hund, und doch völlig anders.

Eigentlich ist es ein bisschen arg blöd, aber als Illustration zur Einstimmung brauchte ich hier ein Bild-Zitat, und dazu bietet sich der Titel dieser australischen Medizinerzeitschrift als durchaus tauglich an. Die Grafik-Firma, die das Heft produziert, sollte eine Story über die Auto-Immun-Erkrankung "Lupus" illustrieren. Also wanderte man in den Zoo, vermutlich in Sydney, fotografierte den nächstbesten amerikanischen Wolf, und mit etwas Photoshopping stand das Tier auch schon im Phantasie-Schnee und blickte — leicht dusselig — in die Welt hinaus.

Doch für meine Zwecke reicht es. So sieht er eben aus — der Wolf, von dem der heutige Hund, in all seiner Vielgestaltigkeit, abstammt.

Darüber hinaus kann uns dieses Bild nun aber auch beim Google-Test helfen. Man gibt die Wörter "North", "American", "Indian", "Dog" ein, und es erscheinen genügend Beispiele für einen Hund — mit den gleichen, aufgestellten, dreieckigen Ohren und dem senkrecht nach unten zeigenden Schwanz, wie dieser Wolf — und mit zudem einer leicht gelblichen Färbung des dicken Pelzes.

Das Interessante an diesem gelben Hund ist nun, dass er genau so aussieht wie der einheimische Hund der Maori in Neuseeland, der unter dem Namen "Kuri" bis 1830 überlebte.

"Kuri", das sollte man noch hinzufügen, ist ein schwedisches Wort - für "Hund". Das schottische Wort "cur" für "Hund" — ausgesprochen "kör" — stammt von den Norwegern, die dort einst als Wikinger eingefallen waren. Insofern mag der englische Entdecker Neuseelands, Captain James Cook, im Jahr 1769 gemeint haben, es sei wohl ganz natürlich, dass ein Hund eben "Kuri" hieße.

Andererseits gibt es in der Maori-Sprache noch ein zweites Wort für das gleiche Tier, "Pero". Das spanische Wort für "Hund" schreibt sich "Perro", mit Doppel-R. Ist ansonsten aber identisch.

Das hat in der offiziellen Geschichtsschreibung Neuseelands noch nie eine Augenbraue zur Fragezeichenform hochschnellen lassen - vielleicht, weil man die Rechtmäßigkeit des Anspruchs der britischen Krone auf diese Kolonie nicht in Zweifel ziehen wollte.

Und auch heute noch tun sich die Neuseeländer ein bisschen schwer damit, die Geschichte des Kuri zu untersuchen. So stellte die Internetseite stuff.co.nz beispielsweise in einer Story zum Thema "Warum starb der Kuri aus?" fest, der Maori-Hund sei "aus ungeklärten Gründen […] irgendwann im 19. Jahrhundert" ausgestorben. Die Frage, warum das passiert sei, werde nun von zwei Genetikerinnen anhand von Haaren aus Museumspelzen untersucht.

Dabei kann man aus historischen Quellen erfahren, dass der letzte Kuri oder die letzten seiner Art um 1830 zu einer rituellen Mahlzeit verarbeitet wurden.

Obwohl das flauschige Fell dieses Hundes gern als prestigeträchtige Kleidung der Maori-Häuptlinge diente, haben sich — wenn überhaupt — nur wenige ausgestopfte Ganzkörperpräparate erhalten. Im Wellingtoner Te Papa Museum befindet sich ein lächerliches Objekt, das so wirkt, als hätte man ein Tierfell mit etlichen Sofakissen vollgestopft, und dann den Schwanz in Marsupilami-Form hintendran durch die Luft schweben lassen wollen.

Die oben verlinkte stuff-Seite zeigt ein weiteres Tierpräparat, das dem Kuri ähnlich sieht, aber keineswegs echt zu sein braucht. Dafür, dass es an die 200 Jahre alt ist, oder sein müsste, befindet es sich in einem geradezu "unglaublichen" Zustand. Ohne eine genetische Probe hätte ich für dieses Versteigerungsobjekt keinen Pfifferling geboten.

Merkwürdig aber, dass man die Tatsache, dass der Kuri einst so gschmackig auf dem Speisezettel figurierte, heute so gschamig unter den Teppich kehren will. Als Jäger oder Jagdgehilfe diente dieser Hund nicht, denn es gab nichts zu jagen in Neuseeland. Jedenfalls nicht in der Tierwelt.

Er diente in erster Linie als Haustier und Spielgefährte, und, (in kastrierter Form, um ihn leichter aufzupäppeln), als Objekt der Maori Cuisine.

Auch Captain Cook wurde bereits bei seiner ersten Umrundung des Landes zu einem Kuri-Feinschmecker, was übrigens, wiederum historisch belegt, dazu führte, dass sein Temperament zusehends knurriger und bissiger wurde.

Zuletzt, Ironie der Geschichte, wurde Cook auf Hawaii ermordet und sein Körper gewissermaßen für ein rituelles Festessen schlachtermäßig zerteilt. Bis zum nächsten Tag war es den hawaiianischen Häuptlingen dann aber doch zum Bewusstsein gekommen, dass sie hier wohl einen Fehler begangen hatten, und sie ersannen die Mär, dass zwei hungrige Kinder in der Nacht Cooks Herz — im Glauben, es handele sich um ein Hundeherz — roh verspeist hätten. Dem verbliebenen Leichnam bereiteten sie dann auf alle Fälle noch ein ehrenhaftes Begräbnis.

Als "Moral aus der G’schicht" könnte man anmerken: Iss nie ein Tier, das ebenso gut dich fressen könnte.

Die relevante Einsicht hier ist aber die, dass der Hund auf der Speisekarte sowohl in Neuseeland wie in Hawaii zu finden war.

Die Gepflogenheiten aus der Küche der Maori und dito der Hawaiianer kommen aus Ostasien. Ebenso wie die Maori und die Hawaiianer. Bei den Maori wurde der genetische Anhaltspunkt erst vor 20 Jahren geliefert: sie stammen wahrscheinlich aus Taiwan, haben unterwegs aber auch noch melanesisches Genmaterial zwischengetankt.

Sogar in prähistorischer Zeit — als asiatische Wanderer nach Nordamerika zogen und von dort den eisigen Temperaturen schleunigst in Richtung Süden entwichen kam ebenfalls der Hund mit und blieb auch dort auf dem Speisenplan.

Um das noch einmal zu fixieren. In Ostasien etabliert sich der Hund als Speisetier, er wird als solches bis nach Südamerika exportiert — dorthin bereits als echtes, domestiziertes Haustier vor knapp 15.000 Jahren! — und kommt endlich auch vor etwa 750 Jahren als Speisetier nach Neuseeland.

Der Hund, als fertiger Hausgenosse, reist seit Jahrtausenden mit dem Menschen um die halbe Welt, und endet auf dem Bratspieß oder im Erdofen seines "besten Freundes". Er dient ihm als "Kühlschrank" oder "Frischhaltepackung auf Beinen".

Herkunft — nicht aus der Küche?

"Keinerlei Anzeichen dafür, dass der Hund ursprünglich als Speisetier gehalten wurde …"

Zu diesem Thema lese ich in dem Buch Dog Sense von John Bradshaw nur diesen einen Satz: "Since there is no indication that dogs were initially domesticated as food animals — ". Bradshaw meint, das sei beim Schwein anders gewesen als beim Hund. - Ganz ohne jeden Zweifel!

Aber meiner Meinung nach hat es sehr wohl eine Tradition gegeben, den Hund als Speisetier zu halten - und sie war vor mindestens 10.000 Jahren soweit etabliert, dass sie bei Reisen um den halben Globus nicht verloren ging.

In Europa war der Hund nur selten mal im Tagesmenu vorgesehen - und dann eher im spaßigen Sinne, wie hier bei Edith Hancke mit dem kleinen fetten Köter der Prillwitzens.

"Nee, fett iss ooch jefährlich!"

In der westlichen Welt wird der Hund heute als Partner angesehen, manchmal sogar als ein dem Menschen gleichwertiger Freund in Tiergestalt. Die amerikanische Audio-Poetin Laurie Anderson beispielsweise widmete dem Andenken ihres verstorbenen Ehemanns, Lou Reed, eine mit Klangeffekten illustrierte Sammlung von Gedichten über ihren verstorbenen Hund, Lolabelle. Titel: "Heart of a Dog", offenbar ohne ironische Anklänge an den gleichnamigen Titel von Bulgakow. Es gibt dazu auch einen Film. Eigenheiten einer amerikanischen Dichterin, oder Kalkül? Vermutlich wusste Anderson, dass ihr Publikum leichter Empathie mit einem Hund empfinden kann, als mit einem eher schrägen Künstler.

"dedicated to the magnificent spirit of my husband, Lou Reed"

Wieso aber kann ein Wissenschaftler wie Bradshaw ein ganzes Buch über den Hund schreiben, und dabei dessen Herkunft aus der Küche übersehen? Das sind, wie ich meine, die typischen Scheuklappen, die Wissenschaftler in allen Bereichen aufsetzen. Sie sehen, aufgrund eigener kultureller Tabus, einfach nicht, was offensichtlich auf der Hand liegt. Auch Bradshaw müht sich ab, die Herkunft des Hundes vom Wolf mit der so grundsätzlich unähnlichen —- oder ganz andersartigen — Natur des Hundes in Einklang zu bringen. Den Domestikations-Event, wie und wann und wieso er passieren konnte — kriegt er dabei nicht und nicht geregelt.

Immerhin gelingt es ihm, solche präpotenten "Hundeflüsterer" wie den Medien-Star Cesar Millan ein wenig von seinem Podest herunter zu montieren. Aber da hat das Print-Medium natürlich nur eine beschränkte Durchschlagskraft. Wieviel leichter ist es, einfach bei YouTube zuzusehen, wie das Alpha-Männlein einmal so richtig sein Fett abkriegt.

Hundeflüsterer Cesar Millan kriegt sein Fett ab

Der ohnehin schon gestresste Hund sah seine Chance, und —schnapp! Wer weiß, ob die ganze Szene nicht eh gestellt war. Aber genau so kann es Jedem gehen, der sich vor einem Hund als Karate-Meister aufplustern will.

Andererseits ist es schade, dass ich hier nur den Link einsetzen kann für die wunderschönen Zeichnungen von Carl Barks. Wie Donald versucht, mit Liebe und Zutraulichkeit einen jungen Kojoten zu zähmen. Da wusste Barks, der im ländlichen Oregon aufgewachsen war, es besser —- nämlich, dass DAS zu nichts Nütze war.

Es muss in Amerika aber immer wieder Versuche gegeben haben, die anderen Kaniden — die zur Familie der Hunde gehörigen Tiere — zu zähmen, beispielsweise den Fuchs. 1943, als er in Amerika weilte, schrieb Antoine des Saint-Exupery sein berühmtes Märchen "Der Kleine Prinz". Darin begegnet der Außerirdische einem Fuchs, der ihn bittet: "Apprivoise-moi", also: "bitte zähme mich." Das gilt vielen Lesern bis heute als einer der schönsten Momente des Buches.

Aber, wie beim Kojoten, ist es Sense damit. Der russische Genetiker Beljajew versuchte über Jahrzehnte hinweg, Silberfüchse in Käfigen zur Zahmheit zu züchten. Interessante Ergebnisse, Schlappohren, Bellen, Schwanzwedeln, aber kein "Hund", der aus dem Fuchs hervorging. Gegenwärtig versucht ein Team in Oxford1 unter Leitung von Greger Larson, eine ausführliche Datenbasis vorzeitlicher Hunde-DNA zusammenzustellen, um das Wann und Wo der Domestizierung zu lokalisieren. Im Dezember postulierten asiatische Experten anhand des Erbguts von Wölfen und Hunden, dass die Domestizierung vor 33.000 Jahren in Südostasien erfolgte (vgl. Ziemlich beste Freunde).

Dass der Wolf sich durchaus zähmen ließ, kann man aus der fossilen Urkunde immer wieder entnehmen. Ein Hundeschädel aus der belgischen Höhle bei Goyet ist beispielsweise 32.000 Jahre alt. Auch der Dingo kam mit dem Menschen nach Australien, und verwilderte dort wieder. Die erfolgreiche, durchgängige Zähmung und Domestizierung des Wolfes benötigte aber eines Langzeitprojektes, zu dem die alten Sammler und Jäger damals nicht fähig waren.

Die Müllhalden von Dali

Im südlichen China gibt es ein Höhlensystem, das über 400.000 Jahre hinweg praktisch durchgängig von Menschen bewohnt worden ist. Als eine gigantische Nekropole ist Dali — so der leicht surreal anmutende Name — mindestens ebenso beeindruckend wie die Knochenhöhle von Atapuerca, in Spanien, die rund 800.000 Jahre tief in die Vergangenheit hineinragt. Dali wurde aber von lebenden Menschen bewohnt — sie hinterließen dementsprechend Hinweise auf ihr Leben, auf ihr Zusammenleben.

Zunächst einmal gibt es aus dieser Fundstelle einige alte Schädel, die deutlich um die 200.000 Jahre alt sind und dem Typus des Homo heidelbergensis zugeschlagen werden — also dem frühen Homo sapiens. Gleichzeitig weisen sie Merkmale auf, die chinesische Wissenschaftler dem modernen Homo sapiens in China zuweisen wollen. Mit anderen Worten, sie glauben nicht — oder nicht besonders — an die Out-of-Africa-These, derzufolge der moderne Mensch in Afrika entstand und dann seinen Siegeszug rund um die Welt antrat. Das war dem Wolf, der dort gerade dabei war, sich zum Hund zu wandeln, ziemlich schnurz. Sein Ko-Evolutionist wandelte sich eben vom heidelbergensis zum sapiens? So what? Hauptsache, sie blieben Partner in der gleichen Firma.

Wichtig ist, das die Domestizierung — die Ver-Haustier-ung des Menschen, ebenso wie des Wolfs in Richtung Hund — nicht ohne ein festes Zuhause, ein Domizil, hätte stattfinden können. Bradshaw meint, der Mensch habe sich in Gegenwart des Wolfs "lobomorph" entwickelt. So konnte dann der Hund sein Plätzchen in der menschlichen Familie finden, und vielleicht ein Mowgli das seinige bei den Wölfen.

Ich denke eher, dass eine Höhle wie Dali, die kontinuierlich von Menschen bewohnt blieb, nur bewohnt bleiben konnte, wenn diese ihr Müllproblem in den Griff bekamen. Diese Aufgaben übernahmen die "Hauswölfe" — die man auf lange Zeit noch nicht als gezähmte Tiere betrachten sollte, sondern so ähnlich wie die Stadttauben unserer Tage, als Tiere, die sich in die Lebensräume der Menschen einnisten, ohne mit den Menschen selber in engeren Kontakt zu treten.

Die Hauswölfe sorgten dafür, dass die Abfallhaufen im Sommer nicht zu einer Plage mit Gestank und Fliegen ausarteten, und im Winter nicht von anderen Nutznießern überrannt wurden. Die Menschen ihrerseits griffen auf die Hauswölfe als Speisereserve zurück. Und warfen die untauglichen bzw. ungenießbaren Teile wieder ihren kaniden Freunden zu, die keine Scheu vor Kanibalismus kannten. Ebenso wie ihre menschlichen Freunde; in Neuseeland blieb der Kanibalismus bis 1835 virulent, als 1.300 Maori auf zwei Schiffen und mit 780 Behältnissen voll Kartoffeln, zu den 800 Kilometer entfernten Chatham-Inseln segelten und einen Großteil der dortigen Moriori-Bevölkerung ermordeten bzw. auch verspeisten.

Hund und Mensch bildeten an einem Ort wie Dali (oder - sehr gut möglich - in Dali selber) eine liegende Acht, ein ineinander übergreifendes System von Fressen und Gefressenwerden, ein ökologisches Perpetuum mobile. Der Hund blieb zwar genetisch ein Wolf, entwickelte aber Merkmale der Neotenie, d.h,, er wurde einfach nie erwachsen. Er blieb ein ewiger Halbstarker. Ähnlich beim Menschen, der auch mit 80 noch mit einem Rubik Cube spielen kann, was ein erwachsener Schimpanse oder Orang Utan als unter seiner Würde empfindet. Er könnte es aber auch gar nicht.

Der Hund gibt dieRolle des Erwachsenen an den Menschen ab; was ihn nicht daran hindert, einem allzu herrischen "Papa" wie Cesar Millan zu zeigen, was eine Harke ist.

Die evolutionären Vorteile für beide liegen auf der Hand. Der Hund eroberte die Welt und den Weltraum ("Laika") — der Mensch ebenso. Ihre wildlebenden Verwandten, Wolf und Menschenaffe, stehen vor dem Aussterben.

Der Hund heute. Die kleine Mira darf ihm vertrauen.

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