Admiral Pulvertaft und das Internet

Britische Regierung schafft sich ihren "Fall Radikal".

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Update, Freitag 14.05.1999: Immer noch hohe Wellen schlägt die Veröffentlichung von Informationen über Grossbritanniens geheimen Nachrichtendienst MI6 im Internet. Im Zentrum der Kontroverse steht eine Liste, von der es inzwischen nicht einmal mehr klar ist, ob sie wirklich brandheisse Namen von Auslandsagenten enthält, da ähnliche Listen nach Angaben verschiedener Quellen bereits in gedruckter Form vor Jahren erschienen sind. Außenminister Robin Cook verdammte gestern Abend die Veröffentlichung der ominösen Liste als "unverantwortlichen und gefährlichen Schritt", zugleich versuchte er ihre Bedeutung herunterzuspielen. Nicht bewiesen ist auch, ob wirklich Ex-MI6-Mitarbeiter Richard Tomlinson die Namensliste veröffentlicht hat. Der Journalist Duncan Campbell, der mit ihm in Email-Kontakt stand, gab bei einem Interview für Channel 4 News an, dass die Liste zwar Merkmale von Tomlinsons Arbeitsstil aufweise, aber genausogut von jeder anderen Person zusammengestellt worden sein könnte, die mit den Arbeitsweisen und Codes des Dienstes vertraut ist.

Story von gestern, mit Hintergrundinformation zu Richard Tomlinson: Agenten-Outing
Immer aktuell ist die Berichterstattung über diesen Fall auch im neuen ORF-News-Channel Futurezone.

Da inzwischen die sozusagen natürliche Vervielfältigung des Materials im Internet voranschreitet (HTML-Fassung der Liste), wird es immer deutlicher, dass die britische Regierung nun im Begriff ist, ihre "Fall Radikal"-Erfahrung zu machen. Das Äquivalent zum Generalbundesanwalt tritt uns in Gestalt von Reserveadmiral David Pulvertaft entgegen, der als Sekretär des Presse- und Rundfunkrats mit seiner Warnung an die Nachrichtenagentur der britischen Press Association die Presse mit der Nase auf den Fall gestossen hatte. Wenn es irgendetwas gebraucht hatte, um die Affäre an die große Glocke zu hängen, dann war der Aufruf, der weiteren Verbreitung der Liste Einhalt zu gebieten, geradezu ideal.

Liberale Medien, wie The Guardian, die von der schwelenden Affäre sicher gewußt hatten, konnten sich freudig auf einen Aufhänger für einen Aufdeckungs-Sonderbericht stürzen. Aber auch bei allen anderen News-Medien, ob Presse oder elektronisch, schaffte es die "Liste" in die Headline News, nicht zuletzt, da sich soviele hochrangige Politiker und Ministerialbeamte eilig zu Wort meldeten, als ob sie dem Fall nur noch mehr Prominenz geben wollten.

Nun gehen also auch hier die Diskussionen um den "rechtsfreien Raum" Internet los, mit den üblichen verwirrten Äußerungen und ebenso verwirrenden Analysen in Medien, die bizarre Versionen von Netztheorie verbreiten: "Jeder kann Informationen ins Internet stellen. Im Internet sind alle Informationen ungeprüft" - Worte, die einen seltsamen Klang annehmen, wenn sie von einem Channel 5 News-Präsentator gesprochen werden.

Die Regierungsanwälte versuchen nun weiterhin, jeden Zentimeter rechtlichen Spielraums zu nutzen, um Mirror-Sites zu verhindern. Aber eigentlich müsste es auch ihnen klar sein, dass der Geist aus der Flasche ist, dass die gerichtlichen Verfügungen unweigerlich langsamer sein werden als gespiegelte IP-Pakete.

Die weitere Diskussion wird sich nun wieder einmal mit dem dunklen Zentrum der britischen Staatsordnung beschäftigen müssen, dem "Official Secrets Act" im Widerspruch zu "Freedom of Information" und modernen, transparenten Regierungsformen. Im Moment aber ist es auf jeden Fall bequemer, das Internet zum Sündenbock zu machen. Das ist nämlich "voll von politischem Extremismus, Bombenbastelanleitungen, Pornographie"... Echos deutscher Netzzensurdiskussionen von 1996 und US-Diskussionen von 1994 kommen hier zum Vorschein.

Im Kern geht es dabei um die Achillesferse der jeweiligen Verfassungsordnung: in Deutschland die Möglichkeiten der Zensur gegen politisch gefährliche und extremistische Veröffentlichungen, in Grossbritannien der "Official Secrets Act". In beiden Ländern wurde eine potentielle oder imaginäre Bedrohung der staatlichen Sicherheit zum Anlass für einen Zensurversuch, auf den das Internet in geeigneter Form reagieren würde. Das Erstaunliche ist also nur, daß Admiral Pulvertaft und allen, die seitens der Regierung nach ihm sprachen, scheinbar nicht klar war, dass diese Reaktion eines gewissen Teils der Netz-Community kommen würde. Was soll man dazu noch sagen ...