Agenten-Outing

Britischer Ex-Spion entlarvt "Agenten Ihrer Majestät" auf Web-site.

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Grossbritanniens Geheimdienst MI6 erlebte gestern das Alptraumszenario jedes Nachrichtendienstes - die plötzliche Enttarnung von mehr als 100 seiner Agenten. Zunächst auf einer Web-Site in der Schweiz, dann bei Geocities, publizierte der britische Ex-MI6-Mitarbeiter Richard Tomlinson eine Liste mit Namen von MI6-Geheimagenten.

Siehe auch das Update zu "Agenten-Outing": Britische Regierung schafft sich ihren Fall Radikal.

Tomlinson hatte bereits mit der Veröffentlichung von Materialien über MI6 im Internet gedroht. Die Bestätigung, daß er seine Drohung umgesetzt hatte, kam in Gestalt von Reserve Admiral David Pulvertaft, der sich als Sekretär des Presse- und Rundfunkrats an die Nachrichtenagentur der britischen Press Association gewandt hatte, um der weiteren Verbreitung der Liste Einhalt zu gebieten. Die Verbreitung einer solchen Liste kann, wenn dies unter den "Official Secrets Act" fällt, zu hohen Geld- und sogar Haftstrafen für Journalisten und Herausgeber führen. Zugleich gibt es jedoch eine Einschränkung, die besagt, daß wenn geheimes Material einmal einen signifikanten Verbreitungsgrad gefunden hat, auch die britische Presse dieses Material verbreiten darf. Admiral Pulvertafts Intervention diente vor allem dazu, den britischen Herausgebern klarzumachen, dass die bekannt gewordene Veröffentlichung im Internet nicht diesem Verbreitungsgrad entspricht, nach dem die Klausel in Kraft treten würde, d.h. für britische Zeitungen ist die Liste immer noch ein Tabu und selbst die Tageszeitung The Guardian, die der Geschichte Titelstory und mehrere Seiten im Blatt-Inneren widmet, druckt nicht einmal einen Link zur GeoCities Site ab.

Admiral Pulvertaft und eine Armada von Anwälten sind nun dabei, Schaden zu minimieren. Sie haben die undankbare Aufgabe, dafür zu sorgen, daß Provider wie Geocities die Site vom Server nehmen. Mit dem Verweis auf die Verletzung der Nutzervereinbarung hat Geocities dem Wunsch der MI6-Anwälte entsprochen. Doch mit ebensolcher Hartnäckigkeit wie jede Site bekämpft wird, werden Mirrors auftauchen, das ist wohl auch allen Beteiligten klar. Einige Links und Ressourcen zum Thema finden sich z.B. hier jya.com/crypto.htm.

Der Geheimdienst argumentiert, daß mit der Veröffentlichung der Liste nun einige der identifizierten Agenten gefährdet sein könnten. Zugleich versucht man, das Ausmass der Enthüllung herunterszuspielen. Die Informationen Tomlinsons seien eine Mischung aus "Fact and Fiction".

Der beleidigte Ersatz-James Bond

Dabei hätte sich das MI6 die ganze unliebsame Publicity sparen können, wenn sie Tomlinson nur ein wenig besser behandelt hätten. Dieser galt zunächst als "hochbegabter" Auszubildender und konnte als kleiner "James Bond" noch während der Ausbildung an Zentren des Spionagewesens wie Moskau und Bosnien umtriebig werden. 1995 jedoch schien er plötzlich in Ungnade gefallen zu sein und wurde gekündigt. Die Kündigung erfolgte ohne Angabe von Gründen und man verweigerte es ihm, seinen Fall vor ein Arbeitsgericht zu bringen. Damals bereits drohte er damit, das MI6 im Internet zu outen. Die Beziehungen schienen sich aber zu normalisieren, bis Tomlinson 1997 ein 7 Seiten langes Expose an einen potentiellen Verleger schickte. Dafür mußte er, unter dem "Official Secrets Act" beschuldigt und verurteilt, sechs Monate Haft absitzen. Danach kam es aber noch schlimmer. Tomlinson mußte auf Reisen feststellen, daß die Länder, die er aufsuchte, vom MI6 bestens präpariert worden waren und ihm Visas und Aufenthaltsgenehmigungen vorenthielten. Nach England, wo bereits vor dem letzten Skandal neue Anklagen drohten, konnte er nicht mehr zurück, selbst sein zweites Heimatland Neuseeland verweigert ihm die Aufnahme, so dass er derzeit in der Schweiz logiert. Selbst bei einem versuchten Grenzübertritt nach Frankreich für einen Skiurlaub in jüngerer Vergangenheit wurde er an der Grenze verhaftet.

Da scheint Tomlinson der Kragen geplatzt zu sein. In Stellungnahmen von Tomlinsons Anwalt ebenso wie von ihm selbst wird allerdings die Linie gehalten: Nichts sei publiziert worden, was nicht ohnehin schon bekannt gewesen sei. Neben der sensiblen Liste mit Agentennamen ist da noch weiteres Material, das geeignet ist, das MI6 hochgradig in Verlegenheit zu bringen. Auf der Site enthalten sind auch Enthüllungen über ein Mordkomplott gegen Milosevic durch den britischen Geheimdienst im Jahr 1992, sowie die Verbindungen zwischen MI6 und Prinzessin Dianas Auto-Unfall.

Official Secrets Act als Keule gegen Kritiker

Was über die Anekdoten und Verschwörungstheorien im spannenden Agentenmilieu hinaus signifikant an dieser Geschichte ist, ist die Handhabung des "Official Secrets Act" als Keule gegen Kritiker der Geheimdienste. Dies ist eine sehr typische Geste, die nur im spezifischen Umfeld der britischen Verfassung, bzw. des Fehlens einer Verfassung zu verstehen ist, was durch ein Stückwerk aus Absprachen, Traditionen und administrativer Praxis ersetzt wird. Darin genießen die hohen Beamten der Geheimdienste, aber auch des Foreign und des Home Office eine kaum einer weltlichen Überprüfung ausgesetzte Macht, so dass sie nicht zufällig in der Presse "Mandarins" genannt werden - wie die höchsten Beamten des chinesischen Kaisers in der Verfallsphase des Reichs der Mitte. In diese Richtung geht auch Tomlinsons Kritik. Er forderte eine komplett neue politische Handhabung der Geheimdienste, mit einer wesentlich ausgebauten Kontrollfunktion für Parlaments-Komitees. Selbst bei katastrophalen Fehlschlägen würde sich niemand verantwortlich fühlen, die Organisation sei eine "fruchtbare Brutstätte für Korruption". Für die Transparenz-Fanatiker vom "Dritten Weg" ist da noch viel Arbeit. Leider ist auch der "Information Freedom Act" auf die parlamentarische Schleichspur gekommen, hätte dieses Gesetz doch Fragen der Informationsfreiheit in einem verfassungsmässigen Rahmen behandelt. Nach einem schon 1997 erschienen Weissbuch und einer Beratungsfrist war vom Information Freedom Act nichts mehr zu hören, außer daß er in einer "kommenden Parlamentsperiode" behandelt werden wird.

Unterstützende Worte ließ unterdessen der zweite britische Geheimdienst-Abtrünnige David Shayler aus Paris vernehmen. Er denkt, die Regierung habe einen riskanten Kurs eingeschlagen, da "sie Richard Tomlinson auf verschiedene Art und Weise verfolgt" habe.