Ägypten: "Day of Departure"

Brutalität abseits der Scheinwerfer und Zuckerstücke für die Öffentlichkeit

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"Day of Departure" steht unter den al-Jazeera-TV-Bildern von riesigen Menschenmassen in Kairo, am Tahrirplatz und auf Alexandrias Straßen. Die Stimmung ist friedlich, was Reporter bestätigen, Fahnen werden geschwenkt, die Nationalhymne gesungen und immer wieder "Irhal, irhal" (Geh! Verschwinde!) skandiert; ein Volksfest, so der Eindruck, beinahe wie bei einem Fußballspiel.

Mehr Menschen als an den Tagen zuvor demonstrieren heute auf den Straßen gegen Mubarak und sein Regime. Die vom Sicherheitsapparat, von Beamten, Parteimitgliedern und Bonzen bezahlten Schlägertrupps bleiben, soweit die aktuelle Nachrichtenlage das wiedergibt, heute noch im Hintergrund. Dafür zeigt sich der Verteidigungsminister den internationalen TV-Kameras am Tahrirplatz: Seht her, wie wir friedliche Demonstrationen zulassen können. Nicht zulassen kann das Regime offensichtlich, dass Mubarak geht.

Es gebe eine generelle Regel, schreibt der ägyptische Blogger Sandmonkey, die für Herrscher im Nahen Osten gelte: "Glaube nie ihren Worten, achtet sehr genau, auf das, was sie tun. Demonstranten, rettet meinen Arsch!"

Sandmonkey wurde gestern "verhaftet", von Schlägertruppen überfallen und drei Stunden festgehalten, in denen er nicht wusste, was ihm bevorstand. Gerettet wurde er, weil er bekannt ist und Druck ausgeübt wurde. Gestern gab es eine ganze Serie von Nachrichten, die davon berichteten, dass Journalisten, Menschenrechtler, Mitglieder der Bewegung 6.April und Blogger verprügelt oder verschleppt wurden.

Dass es heute friedlich zugeht, ist dem Druck zuzuschreiben, dem die ägyptische Regierung in der internationalen Öffentlichkeit ausgesetzt ist. Und die Bilder, welche die Hatz der Schläger auf die Demonstranten und auch deren Gewalt geliefert hatten, waren keine Postkarten für das Land, das wesentlich vom Tourismus lebt. Heute ist der Tahrirplatz zum Schaufenster geworden, der das Image wieder gerade rücken soll.

Auch Amr Moussa, Chef der Arabischen Liga, lässt sich dort gerne blicken. Außerhalb der Kamerablickfelder gibt es weiterhin Unschönes zu melden. So berichtet al-Jazeera, dass man das Büro des Senders in Kairo verwüstet habe. Am Morgen hieß es noch, dass sich die Schläger außerhalb des Platzes verstecken würden, um, wenn die Lichter ausgehen, erneut zuzuschlagen. Dass die Situation immer kippen könnte, ist jedem O-Ton aus Kairo anzuhören – verantwortlich dafür ist der Schock der letzten Tage:

Tweets from #Tahrir say Mubarak govt set to launch another onslaught against pro-democracy movement. (....) Every time I think things couldn't get worse here.....I'm praying this is the dark before the dawn. #Egypt #Jan25 #Tahrir.

Ben Wedeman von CNN, auf Twitter

Die Protestbewegung ist weit gekommen, sie hat sich gegen einen der stärksten Sicherheitsapparate der Welt durchgesetzt, wie sie heute demonstriert. Ägypten hat sich auf eine Art verändert, wie man das vor wenigen Wochen noch für völlig unmöglich gehalten hätte. Inwieweit sich das nun in tatsächliche politische Veränderungen und Reformen umsetzt, wird sich zum einem guten Teil auch unter der Beobachtung der internationalen Öffentlichkeit vollziehen, selbst wenn die Regierung eine Art Militärjunta ist, die ihre Hebeln und Strippen im Dunkeln zu betätigen weiß, unbemerkt von der Öffentlichkeit. Ihre bevorzugte Taktik, Sonntagsreden mit Diskreditierung der Proteste und Brutalität abseits der Scheinwerfer und Zuckerstücke für die Öffentlichkeit, zelebriert sie schon seit Tagen, aktuell damit, dass sie Untersuchungen der Vorfälle mit den Schergen und Prozesse verspricht. Wer glaubt ihnen?

Sie verweigert sich grundlegenden Änderungen, davon kann man ausgehen und das zeigt sich allein schon daran, dass sie Mubarak weiter auf seinem Präsidentenstuhl lässt. Ob die Demonstranten bzw. die Protestbewegung, die vereinte Anti-Mubarak-Opposition in Millionenstärke, ihn zum Abdanken bringen kann, ist zur Stunde ungewiss. Die Führung hält an ihm fest, trotz Druck aus den USA, soweit man entsprechenden Berichten Glauben schenken kann. Die Frage ist, wie die Demonstranten überhaupt ihn zum letzten Schritt nötigen könnten. Durch einen Marsch zum Präsidentenpalast?