Afghanistan: Kriegsziel Krankenhaus
Seite 4: "Fog of war" - Nebel des Krieges
Eine Stunde lang mit präzisen Luftschlägen ein Krankenhaus den Erdboden gleichmachen, kann wohl kaum als eine Handlung im "fog of war" bezeichnet werden. Der einzige "fog of war" ist das Nebelkerzen werfen der Verantwortlichen (Pentagon: Krankenhaus angeblich unabsichtlich bombardiert, US-Spezialeinheiten waren in Kunduz). Ja, da waren amerikanische Kampflugzeuge im Einsatz, und ja, da wurde wohl auch eine Klinik getroffen - aber wie das im Zusammenhang steht, wisse man noch nicht. Später wurde dann zugegeben, dass es einen Lufteinsatz gegeben hat und möglicherweise auch eine medizinische Einrichtung Kollateralschäden erlitten habe.
Nach Glenn Greenwald ist dieses Vorgehen typisch für US-Offizielle, wenn mal wieder Zivilisten Opfer der eigenen Militärschläge geworden sind. Entscheidend sei es demnach, in den ersten 48 Stunden genügend Zweifel zu säen, damit die Medien ihr Interesse an dem Vorfall verlieren würden. So waren es erst US-Soldaten, die unter Beschuss geraten waren. Dann waren es plötzlich afghanische Streitkräfte, die die Unterstützung angefordert hatten. Und schließlich wurde es zu einem Fehler in der Befehls- und Kommunikationskette innerhalb des US-Militärs und es waren keine US-Soldaten unmittelbar bedroht.
AP konnte in Erfahrung bringen, dass US-amerikanische Special-Operations-Analysten bereits Tage vor dem Luftangriff Informationen über das Krankenhaus eingeholt hatten. Demnach wusste das US-amerikanische Militär, dass es sich bei dem Gebäude um eine medizinische Einrichtung handelte. Die Auswerter hatten ein Dossier angelegt in dem sich Karten des Geländes befinden. Das Krankenhaus wurde auf den Karten markiert.
Angeblich sollte sich dort, laut den Analysten, die Kommandozentrale der Taliban und eines pakistanischen Agenten befinden. Darüber hinaus soll es als Waffenlager für schwere Waffen gedient haben. Meinie Nicolai, Präsidentin von MSF Belgien, versicherte hingegen, dass ausschließlich afghanisches Personal sowie neun internationale Mitarbeiter, und zwar niemand aus Pakistan, im Krankenhaus beschäftigt waren. Es gäbe nicht die geringsten Indizien dafür, dass irgendjemand für den pakistanischen Geheimdienst gearbeitet habe.
Einen Tag vor dem Angriff berieten sich sogar noch ein Offizier der Spezialeinheit und ein Vertreter von MSF darüber, "ob sich Kämpfer der Taliban in der Klinik aufhalten würden". MSF verneinte dies und wies darauf hin, "dass mit beiden Konfliktparteien die Notwendigkeit der Anerkennung medizinischer Einrichtungen geklärt" worden sei, sagte Tim Shenk, Pressesprecher von MSF.
Nach Informationen von AP waren es Green Berets der US-Armee, eine Spezialeinheit für "Militärberatung", asymmetrische Kriegführung und Fernaufklärung, die den Luftschlag angefordert hatte. Ein Aufklärungsflugzeug der Air Force hatte das Gelände zuvor überflogen und das Gebäude als besonders geschützte medizinische Einrichtung erkannt. Die Elite-Soldaten wussten demnach mit Sicherheit, dass es sich um ein Krankenhaus handelte, waren aber davon überzeugt, dass es unter der Kontrolle der Taliban stünde.
Das stützt das Narrativ der afghanischen Offiziellen, wobei die Taliban das Krankenhaus als "safe place" genutzt hätten. So verlautbarte der afghanische Verteidigungsminister, Masoom Stanekzai, dass nicht nur die Taliban dort gewesen wären, sondern auch der pakistanische Geheimdienst ISI. Angeblich sei auch die Talibanfahne an die Wände des Gebäudes gehängt worden. "Dies war ein Platz, den sie als sicheren Standort nutzen wollten, denn jeder weiß, dass unsere Sicherheitskräfte wie auch die internationalen Sicherheitskräfte sehr vorsichtig sein würden im Umgang mit Krankenhäusern." Angesichts der stattgefundenen Bombardierung des Krankenhauses mit 30 Toten eine äußerst zynische Behauptung.
Die von afghanischen Behörden verbreitete Geschichte soll offensichtlich als tatsächliche Geschichte aufgebaut werden. Und damit würden die zuerst geäußerten Erklärungen, nach zahlreichen Wendungen, Desinformationen und Fehlmeldungen, wieder Gültigkeit bekommen. Auf diese Weise soll es sich dann auch nicht um ein Kriegsverbrechen handeln, sondern um einen militärisch notwendigen Angriff, der angesichts der militärischen Bedeutung des ISI-Agenten, der Taliban-Kommandozentrale oder wahlweise der schweren Waffen als gerechtfertigt angesehen werden könnte.
Nach militärischer und damit auch völkerrechtlicher Norm müssen Kollateralschäden in einem angemessenen Verhältnis zum militärischen Nutzen und Erfolg stehen. So bemühte sich auch Abdul Wadud Paiman, Mitglied des Parlaments von Kunduz, den Angriff zu rechtfertigen: "Ich weiß, dass es unter den Opfern Zivilisten gegeben hat, aber es wurden auch viele ranghohe Taliban getötet."
MSF sieht hingegen vor allem bestätigt, dass es sich um einen vorsätzlichen Angriff auf ein völkerrechtlich besonders geschütztes Gebäude handelt. Außerdem zitiert Nicolai eine E-Mail-Korrespondenz mit den Mitarbeitern vor Ort: "Es war eine ruhige Nacht, ohne bewaffnete Kombattanten und ohne Gefechte auf dem Gelände."
Am 15. Oktober schließlich durchbricht ein gepanzertes Fahrzeug die geschlossenen Tore des bombardierten Krankenhauses. Nachdem das Tor zerstört wurde und mögliche Beweise gleich mit, informierten die Eindringlinge MSF, dass es sich um das US/NATO/afghanische Ermittlungsteam handelte. Das Vorgehen der "Ermittler" widersprach allerdings allen Abmachungen mit MSF. Das US-Team hatte die afghanischen Fahrer angewiesen "aus Sicherheitsgründen" durch das Tor zu rammen. Schließlich würde in dem Gebiet noch gekämpft und außerdem wusste man ja gar nicht, dass noch Ärzte anwesend waren. Seltsam nur, dass die Taliban bereits am 13. Oktober aus Kundus abgezogen waren.