Afghanistan: Kriegsziel Krankenhaus
Seite 3: Wechselnde Geschichten - wechselnde Verantwortlichkeiten
- Afghanistan: Kriegsziel Krankenhaus
- Das (zweite) Massaker von Kundus
- Wechselnde Geschichten - wechselnde Verantwortlichkeiten
- "Fog of war" - Nebel des Krieges
- Nach bestem Wissen und Gewissen
- Zivile Begleitschäden oder Kriegsverbrechen?
- "So etwas darf sich nicht wiederholen"
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Am Morgen des 3. Oktober ließ die US-Armee verkünden, dass man gegen Aufständische in der Nähe des Krankenhauses Luftschläge ausgeführt hätte. Notwendig sei der Granatenbeschuss gewesen, weil sich afghanische Sicherheitskräfte mit 10-15 Taliban in einem Feuergefecht befunden hätten. Das Hospital sei aber auf keinen Fall direkt getroffen worden, sondern lediglich umherfliegende Schrapnell könnten möglicherweise Kollateralschäden verursacht haben.
Das US Militär und der US-Präsident Barack Obama kündigten unverzüglich Untersuchungen an, wie es zu dem Beschuss kommen konnte. Das Ergebnis nahmen sie freilich vorweg. Es sei eine "Tragödie" und ein "tragischer Unfall" gewesen (Kunduz: Kriegsverbrechen oder Kollateralschaden?).
Am 4. Oktober schloss die US-Luftwaffe nicht mehr aus, dass die Klinik vielleicht doch direkt getroffen worden sei. Währenddessen verkündete die afghanische Regierung bereits, dass das Gebäude gezielt attackiert wurde, da Taliban das Krankenhaus als Basis genutzt hätten. Der stellvertretende Sprecher des Verteidigungsministeriums, Dawlat Wasiri, berichtete gegenüber der Nachrichtenagentur AP, dass sich bewaffnete Terroristen im Krankenhaus verschanzt hätten und "die Gebäude und die Menschen im Innern als Schutzschild" benutzen würden. Eine Behauptung, der MSF aufs Schärfste widersprach. Man sei "angewidert", ob der infamen Behauptung, Ärzte ohne Grenzen habe mit Talibankämpfern kollaboriert.
Recherchen des WDR-Magazins Monitor legen zudem nahe, dass die Behauptung Terroristen seien im Krankenhaus gewesen, eine bloße Schutzbehauptung ist. So berichtete ein Krankenpfleger gegenüber Monitor, dass an dem Abend zwar ein verletzter Taliban eingeliefert wurde, dieser jedoch kurz darauf das Hospital auch wieder verließ. "Nachdem wir ihn versorgt hatten, haben sie ihn wieder mitgenommen. Die Taliban wollten ihre Kämpfer nie bei uns lassen. Als dann der Luftangriff begann, waren keine Taliban mehr im Krankenhaus." Er habe auch "nie einen Bewaffneten in diesem Krankenhaus" gesehen: "Jeder, der in das Krankenhaus kam, musste vorher seine Waffen abgeben."
Florian Westphal, Geschäftsführer von MSF, erklärte gegenüber Monitor, "dass gezielt das Hauptgebäude des Krankenhauses angegriffen wurde. Also dass es nicht so war, dass man auf ein anderes, nahegelegenes Ziel fokussiert hätte und sich geirrt hätte."
Zeit Online ließ es sich währenddessen nicht nehmen, eine offensichtliche Desinformation zu verbreiten.
Hubschrauber hätten die Kämpfer beschossen und Schäden an den Gebäuden verursacht. Innenministeriumssprecher Sedik Sedikki sagte: ‚Alle Terroristen wurden getötet, aber wir haben auch Ärzte verloren.‘ Dieser Darstellung widerspricht die Sprecherin von MSF, Kate Stegeman. Sie sagte, zum Zeitpunkt des Angriffs seien keine Aufständischen im Gebäude gewesen. Das behaupten auch die Taliban. Auf Videobildern der Nachrichtenagentur AP sind allerdings automatische Waffen - darunter mindestens ein Maschinengewehr - in Fensterhöhlen des ausgebrannten Gebäudes zu sehen. Nicht auszuschließen, dass diese von Talibankämpfern stammen.
Zeit Online
Nicht nur, dass die Fehlinformation von Kampfhubschraubern aufgenommen wurde, die sich ansonsten in den Meldungen nirgends wiederfindet. Auch die nachweisbar falsche Behauptung des Vorhandenseins "automatischen Waffen" wird einfach übernommen. Ein schwerwiegender Vorwurf und Fehler, denn in allen Einrichtungen von MSF herrscht ein striktes Waffenverbot. Ein Blick in das auf Videoplattformen im Internet reichlich zur Verfügung stehende Videomaterial von AP hätte diese Behauptung entkräftet. AP hat mittlerweile eine entsprechend lautende Meldung wieder gelöscht mit dem Hinweis, dass es erhebliche Zweifel gibt und es sich bei den vermeintlichen Waffen wohl nur um Trümmerteile des Gebäudes handelt. Zeit Online hält es hingegen nicht für nötig eine Korrektur vorzunehmen.
Mittlerweile sicherte der amerikanische Verteidigungsminister Ashton Carter eine "vollständige und transparente Untersuchung" zu. Die Lage sei aber "durcheinander und kompliziert". Was mag bei einer militärischen Befehlskette wohl so durcheinander und kompliziert sein, dass man es nicht innerhalb weniger Stunden oder zumindest Tage aufklären kann? Inzwischen sind drei Untersuchungen angekündigt von den USA, der NATO und der afghanischen Regierung.
Die Präsidentin von MSF, Dr. Joanne Liu, fordert hingegen eine "unabhängige Untersuchung nach den Genfer Konventionen und eine internationale Ermittlungskommission". Die widersprüchlichen Aussagen der US-Regierung in den letzten Tagen ließen erhebliche Zweifel daran aufkommen, ob eine beteiligte Partei überhaupt eine angemessene Untersuchung anstrengen könne.
Es darf jedoch bezweifelt werden, ob es jemals zu einer unabhängigen Untersuchung kommt. Denn sowohl bei amerikanischen als auch deutschen Politikern scheint ein Bild vorzuherrschen, welches John McCain verdeutlicht hat:
Ich finde es lächerlich und beleidigend, dass die Leute sagen, dass wegen diesem schrecklichen Unfall irgendwie ein Kriegsverbrechen begangen wurde. Die Taliban machen diese Dinge mit Absicht und mit einem Plan. Dies war ein schrecklicher Unfall. Es nennt sich Nebel des Krieges.
John McCain