Afghanistan: Kriegsziel Krankenhaus

Seite 6: Zivile Begleitschäden oder Kriegsverbrechen?

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Auch wenn dies am Ende die Verteidigungsstrategie der Verantwortlichen sein wird, bleiben einige Fragen offen. So muss gefragt werden, warum sich die Besatzung der AC-130 nicht an das Kriegsvölkerrecht gehalten hat. Demnach wäre es zwingend erforderlich gewesen, erst eine Warnung abzugeben, um den Zivilisten die Möglichkeit zur Flucht zu geben. Und zwar auch wenn ein Krankenhaus von feindlichen Kämpfern genutzt wird und es damit seinen besonderen völkerrechtlichen Schutz verliert.

MSF hat bereits früh von einem Kriegsverbrechen gesprochen. Der entsprechende Paragraf im Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) lautet:

Wer im Zusammenhang mit einem internationalen oder nichtinternationalen bewaffneten Konflikt (…) (2) mit militärischen Mitteln einen Angriff gegen zivile Objekte richtet, solange sie durch das humanitäre Völkerrecht als solche geschützt sind, namentlich (…),Krankenhäuser und Sammelplätze für Kranke und Verwundete, (…), (3) mit militärischen Mitteln einen Angriff durchführt und dabei als sicher erwartet, dass der Angriff die Tötung oder Verletzung von Zivilpersonen (…) in einem Ausmaß verursachen wird, das außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil steht, (…) wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft.

§ 11 VStGB I

Eine Schwierigkeit, die sich bei der Strafverfolgung ergibt, hat schon das erste Massaker in Kundus, der Luftangriff auf die Tanklastfahrzeuge im September 2009 gezeigt: Es muss nachgewiesen werden, was die Absicht des Befehlshabenden war und auf welcher Informationsgrundlage er seine Entscheidungen getroffen hat. Tatsächlich kann selbst ein Angriff auf ein Krankenhaus als militärisch gerechtfertigt erscheinen. Dies hängt davon ab, ob sich zum Beispiel tatsächlich feindliche Kämpfer im Gebäude aufhielten und von dort aus Kampfhandlungen vornahmen. Denn entscheidend ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung. So könnten bei einem hochwertigen militärischen Ziel durchaus "zivile Begleitschäden", wie die Opfer euphemistisch genannt werden, einkalkuliert werden.

Was zählt, sind also die Informationen, die zur Entscheidungsfindung geführt haben. Andreas Schüller, Koordinator des Programmbereichs Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung des European Center for Constitutional and Human Rights e.V. (ECCHR), sieht bei Luftangriffen ein grundlegendes Problem. "Luftangriffe sind eine Art schwarzes Loch der Rechtsprechung, weil es schwierig ist nachzuweisen, was jemand wusste. Man müsste die Absicht und den Kenntnisstand nachweisen. Also auch ob die Entscheidungsträger genügend Informationen eingeholt haben."

Demnach würde im Bereich von möglichen Kriegsverbrechen gelten, was ansonsten kaum denkbar wäre: Nichtwissen schützt vor Strafe. Wenn der Befehlshaber eines Luftangriffes nicht wissen konnte, dass die Ausgangsinformationen falsch oder unstimmig waren, dann ist eine Verurteilung nicht zu erwarten.

"Bei Oberst Klein hatten laut ermittelnder Bundesanwaltschaft zwei Quellen ausgereicht, was vielfach, unter anderem vom Bundestagsuntersuchungsausschuss und vom ECCHR, kritisiert wurde. Eine menschliche Quelle und Luftaufnahmen als 2. Quelle. Es geht also darum, was der Kommandeur dachte und was er denken durfte", so Schüller gegenüber Telepolis. Im vorliegenden Falle wären das vermutlich die Bodentruppen und die Bordcrew als zwei voneinander "unabhängige" Quellen.

Einen möglichen Ansatz sieht der Vertreter des ECCHR allerdings darin, dass es vier bis fünf Angriffswellen gab. "Eigentlich ist jeder Angriff ein Angriff mit neuem Kenntnisstand." Insofern müssten die Ermittlungen erklären, wie in den Phasen zwischen den Angriffen aufgeklärt wurde. Allerdings ist Schüller angesichts der engen rechtlichen Rahmen skeptisch, was sowohl die Ermittlungsarbeiten als auch die Verurteilungsmöglichkeiten wegen eines möglichen Kriegsverbrechens betreffen. "Es müsste vor allem erst einmal unabhängige Ermittlungen nach internationalen Standards geben. Und zusätzlich sollten grundlegend die Gesetze für Luftangriffe geändert werden", resümiert der Menschenrechtler.

Auch einer der führenden Experten im Bereich des Völkerstrafrechts, Mahmoud Cherif Bassiouni, glaubt nicht, dass jemand für den Luftangriff zur Rechenschaft gezogen wird. Die ganze Welt halte sich an Regeln und Normen und die USA seien die einzigen, die mit allem was sie tun wollen auch davon kommen. Auch dies sei Ausdruck des amerikanischen Exzeptionalismus.

Das Ergebnis des Bombardements ist nicht nur, dass 30 Menschen brutal getötet und 37 Menschen verletzt wurden. Das Krankenhaus wurde vollständig zerstört und MSF hat sich aus Kundus zurückgezogen. Dort gibt es nun keine Einrichtung mehr, die chirurgische Eingriffe vornehmen kann. 2014 wurden laut Ärzte ohne Grenzen "mehr als 22.000 Patienten in diesem Krankenhaus behandelt und mehr als 5.900 chirurgische Eingriffe durchgeführ.." Menschenleben haben bei dem Luftangriff ganz offensichtlich keine Rolle gespielt, weder direkt noch indirekt.

MSF fordern eine Untersuchung des Angriffs in Kundus durch die Internationale Humanitäre Ermittlungskommission: "Diese Kommission wurde im Ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen geschaffen und ist die permanente Instanz, die speziell zur Untersuchung von Verletzungen des humanitären Völkerrechts eingeführt wurde."

Aufgabe einer unabhängigen internationalen Untersuchung müsste es sein, herauszufinden, was Ziel und Auftrag des Beschusses waren. Wer hat den Angriff angeordnet? Und vor allem, warum wurde eine Stunde lang das Gebäude beschossen, trotz Hilferufen? Und auch unabhängig der Hilferufe muss die Frage geklärt werden: Wozu beschießt man ein Gebäude eine Stunde lang, in vier oder fünf Intervallen?

Auch in Richtung Deutschland bzw. der Bundeswehr müssen Fragen gestellt werden. Waren deutsche Spezialeinsatzkräfte bei der Bombardierung vor Ort?

Das Presselagezentrum des Bundesministeriums der Verteidigung gibt gegenüber Telepolis eine eindeutige Antwort: "In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober waren keine deutschen Soldaten in Kunduz." Auch habe man "keine eigenen Erkenntnisse zu den Ereignissen im Zusammenhang mit dem Beschuss des Trauma Centers der Organisation 'Ärzte ohne Grenzen', da sich die Bundeswehr gemäß Mandat des Deutschen Bundestags für Resolute Support nicht unmittelbar an Operationen der afghanischen Sicherheitskräfte beteiligt."