Afghanistan: Kriegsziel Krankenhaus
Seite 7: "So etwas darf sich nicht wiederholen"
In der Bundesregierung ist man offenbar nicht gewillt, eine Aufklärung weiter zu forcieren. So verlautbarte Martin Schäfer, der Sprecher des Auswärtigen Amtes auf der Bundespressekonferenz vom 5. Oktober, dass sich so etwas "nicht wiederholen [darf]. Was man daraus lernen kann, muss gelernt werden."
Aber während man nicht genügend Informationen über den Luftangriff hat, um diesen deutlich zu verurteilen, reicht die Informationslage eines Orts- und Häuserkampfes allemal aus, um festzustellen, was die Taliban in Kunduz angerichtet haben: "das Massakrieren von Leuten, das Aufhängen, das Umbringen." Kein Wissen ist hingegen kein Grund für kein Gewissen: die Relativierung und Rechtfertigung des Bombardements, durch nachgeschobene Bemerkungen über das Terrorregime der Taliban sollte sich verbieten, zumal für die Bundesregierung.
Und damit soll der Vorfall zu den Akten gelegt werden. Fakt ist aber, dass es immer wieder zu Bombardierungen von Krankenhäusern kommt. Und offensichtlich kann daraus nicht gelernt werden. Am 16. Oktober 2001 kurz nach dem Beginn der Operation Enduring Freedom bombardierte das US-Militär ein Gebäude in dem sich das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) befand. Damit sich solch ein "tragischer" Vorfall nicht wiederholen könne, wurden zwischen den USA und dem IKRK eingehende Gespräche über die Lage aller Einrichtungen der Organisation geführt. Kurz darauf bombardierten zwei B-52-Bomber der Air Force und zwei US-Navy-Kampfflugzeuge dieselbe Einrichtung noch einmal. Früh am Morgen des 26. Oktober und ein paar Stunden später gegen Mittag wurde die Anlage des IKRK von mehreren Bomben getroffen und vollständig zerstört. In den Lagerhäusern des IKRK wurden Tonnen an Lebensmittel vernichtet, die 55.000 Flüchtlinge dringend benötigt hätten.
Ebenfalls im Oktober 2001 bombardierten die USA ein Krankenhaus in Herat, Afghanistan, mit vermutlich 100 Toten. Im April 2003 bombardierten US Kampfflugzeuge ein Krankenhaus unter der Schirmherrschaft des Roten Halbmondes in Bagdad. Im November 2004 wurde ein Krankenhaus in Falludscha dem Erdboden gleich gemacht. Das kleine Notfallkrankenhaus wurde von 155mm Granaten der Artillerie und mehreren Luftangriffen bis auf die Grundmauern zerstört.
Im Mai 1999 bombardierten NATO Kampflugzeuge ein Krankenhaus in Belgrad. Drei Patienten starben bei dem Einschlag von mehreren Präzisionsbomben. Im Oktober 1983 http://www.nytimes.com/1983/11/01/world/us-concedes-bombing-hospital-in-grenada-killing-at-least-12.html bombardierte die US Navy ein Krankenhaus in Grenada. 12 Menschen wurden getötet. Am 22. Dezember 1972 wurde das Bach Mai Krankenhaus in Hanoi von zahlreichen Bomben vollständig zerstört. 28 Mitarbeiter wurden getötet.
Man muss natürlich nicht so weit gehen hinter den Angriffen auf Krankenhäuser Absicht zu vermuten, aber auch das ist schon vorgekommen. Greg Grandin berichtet in The Nation, dass das Bombardieren von medizinischen Einrichtungen in Vietnam zur Routine gehörte. "Je größer das Krankenhaus war, desto besser", gestand Alan Stevenson 1973 bei einer Anhörung zum verdeckten Luftkrieg gegen Laos und Kambodscha vor dem US Kongress.
Am 27. Oktober 2015, keine vier Wochen nach dem Luftangriff in Kundus, bombardierte die von dem US-Verbündeten Saudi-Arabien angeführte Koalition im Norden des Jemen ein kleines Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen. Das Krankenhaus wurde über zwei Stunden angegriffen und dabei vollständig zerstört.
Der Mythos von Präzisionsschlägen hält sich hartnäckig und wird von interessierter Seite auch stetig wiederholt. Dabei liegt die Erfolgsrate des Joint Special Operations Command, der "Privatarmee des US-Präsidenten", die richtigen Häuser, die richtigen Organisationen oder Individuen zu treffen bei gerade einmal 50 Prozent. Anders ausgedrückt bedeutet das, dass jedes zweite Bombardement und jeder zweite Kampfeinsatz von Spezialeinsatzkräften vollkommen Unbeteiligte und Unschuldige trifft. Eine Quote, die führende US-Militärs für gut erachten.
Die Regeln des Krieges sind die Regeln der Krieger
Festzuhalten bleibt, dass sowohl afghanische Spezialeinheiten als auch die Taliban Krankenhäuser in Kundus durchsucht haben. US-Special-Operations-Analysten haben darüber hinaus Tage vor dem Luftangriff Nachrichten über das Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen gesammelt. Es gab vor dem Angriff Gespräche zwischen US-Spezialeinheiten und Vertretern von MSF. Fakt ist auch, dass die Aufklärung des Bombardements seitens den USA, der NATO und afghanischen Behörden überraschend lang dauert. Dabei ist hier kein klandestines Verbrechen aufzuklären, sondern eine eindeutige militärische Operation mit definierten Hierarchien, Befehls- und Kommunikationswegen.
Brigadier General Wilson Shoffner, Vizestabschef für Kommunikation der Resolute Support Mission, verwies auf die laufenden Untersuchungen, die unabhängig voneinander seien. Aber es dauere alles etwas länger, da man korrekt und gründlich vorgehen wolle. Dennoch wurde auch hier das Ergebnis wieder vorweggenommen: "Beide Untersuchungen deuten darauf hin, dass es eine Reihe von möglichen menschlichen Fehlern, Verfahrensfehlern und technischen Fehlfunktionen gegeben hat, die zu dem irrtümlichen Luftschlag geführt haben."
Dabei dürfte es ein Einfaches sein, die Videoaufzeichnungen des Beschusses von der "gun camera" der AC-130 zu sichten und freizugeben. Schließlich wolle man ja eine transparente Untersuchung. Auf den Videos sollte dann auch zu erkennen sein, ob aus dem Gebäude oder von dem Gelände geschossen wurde.
Aufgrund der Abläufe nach heutigem Kenntnisstand kann man berechtigt schlussfolgern, dass das US-Militär gezielt und absichtlich ein Krankenhaus beschossen hat. Es war kein Versehen, sondern die Abwägung, die Verhältnismäßigkeitsprüfung, ist zuungunsten der Zivilisten, der "Begleitschäden", ausgefallen.
MSF wirbt aktuell für eine unabhängige Untersuchung mit dem Slogan "Selbst im Krieg gibt es Regeln". Das ist so richtig wie unzureichend. Denn am Ende könnte sich, vor allem bedingt durch die parteilichen Ermittlungen, herausstellen, dass sich die Befehlshaber und die direkten Täter an die "Regeln des Krieges" gehalten haben. Sollte dies der Fall sein, kann die Forderung nur heißen: Die Regeln und Gesetze müssen geändert werden.
Die Kriegsregeln dürfen nicht von den Kriegern selbst gemacht werden. Und in demokratischen Rechtsstaaten darf die Ermittlung und Beurteilung von Verbrechen nicht den Verbrechern obliegen. Hier ist eine dringende Korrektur notwendig. Solange es keine, wie von MSF gefordert, unabhängige Untersuchung des Luftangriffes gibt, ist die Annahme gerechtfertigt, von einem Kriegsverbrechen auszugehen.