Alle 45 Tage müsste ein Atomreaktor ans Netz

Glaubt man dem neuen Weltatom-Bericht, kann von einer Renaissance der Kernenergie keine Rede sein

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Ende Oktober hatte das Europäische Parlament gute Nachrichten für die Befürworter der Kernenergie. Mit dem Initiativbericht Konventionelle Energiequellen und Energietechnologien verabschiedete das Gremium auch die Feststellung, dass die Kernenergie für die Gewährleistung der Grundlast „mittelfristig in Europa unverzichtbar ist“, weil sie in 15 von 27 Mitgliedsstaaten die „bedeutendste Komponente der Stromversorgung“ darstellt.

Für die Europäische Union, die rund 30 Prozent ihres Strombedarfs durch Kernenergie deckt, ist die umstrittene Technologie einerseits ein veritabler Wirtschaftsfaktor. Da gleich mehrere europäische Länder neue Kernkraftwerke planen oder bereits bauen, plädiert Berichtsautor Herbert Reul (CDU) schon aus „industriestrategischer Sicht“ für den weiteren Ausbau der Kernenergie, der dann aber auch dem Umweltschutz zugute kommen soll. Immerhin handele es sich um die „derzeit größte kohlenstoffarme Energiequelle“, so das Europaparlament mit einer Mehrheit von 509 zu 183 Stimmen, die als solche einen „potentiellen Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels“ liefern könne.

Bei so viel segensreichen Haupt- und Nebenwirkungen fassten die Abgeordneten prophylaktisch schon einen Technologieexport in die wichtigsten Schwellenländer ins Auge.

Die Kommission müsse gemeinsam mit China "einen Fahrplan zum Ausbau von Technologien für saubere Energie" ausarbeiten und die "wichtigsten Maßnahmen und Ecksteine für die Entwicklung und den Einsatz solcher Technologien" festlegen. Ähnliche Beziehungen sollten auch mit Brasilien und Indien aufgebaut werden.

Pressebericht des Europäischen Parlaments zur Plenarsitzung am 24.10.2007 in Straßburg

Die deutsche Atomlobby feierte die Annahme des Berichts postwendend als „beeindruckendes und deutliches Signal“. Der politisch gewollte „Ausstieg“, da war sich Walter Hohlefelder, Präsident des Deutschen Atomforums, sicher, führe das Land „international in die Isolation.“

Schulterschluss auf Ministerebene

Ein wirkliches Horrorszenario konnte Hohlefelder damit freilich nicht an die Wand malen, denn der deutsche Umweltminister hatte sich bereits Anfang Oktober mit seinen Kollegen aus Österreich, Irland, Italien, Lettland und Norwegen getroffen, um einen Anfang des Jahres in Dublin begonnenen Dialog fortzusetzen. In einer Ministererklärung sprachen sich die Teilnehmer auch im Namen Luxemburgs und Islands „angesichts der grenzüberschreitenden Risiken der Kernenergie“ in den Bereichen Unfallgefahr, Proliferation und Entsorgung für einen baldigen Ausstieg aus. Der globale Anstieg der zivilen Nutzung erhöhe auch die Gefahr einer Weiterverbreitung von Atomwaffen. Überdies waren die Minister überzeugt,

dass eine Steigerung von Energieeinsparungen und Energieeffizienz verbunden mit einer Umstellung auf erneuerbare Energien sowie abgestimmte Anstrengungen zu einer Reduzierung der Entwaldung und der Entwicklung umweltfreundlicher nicht-nuklearer und treibhausgasarmer Technologien der nachhaltigere Weg ist, den Herausforderungen in den Bereichen Klima und Energie zu begegnen.

Weltweiter Bedeutungsverlust

Die Europagruppe Die Grünen im Europäischen Parlament sieht das im Ergebnis zweifellos ähnlich, wartet nun aber mit einer ganz anderen Argumentationsstrategie auf.

Olkiluoto-3 in Finnland

In dem Mitte dieser Woche vorgestellten World Nuclear Industry Status Report 2007, den der Energieberater Mycle Schneider drei Jahre nach dem ersten Weltatom-Bericht verfasst hat, wird die immer wieder vermutete Renaissance der Kernenergie vehement bestritten. Von einem Aufschwung der Technologie, der die Internationale Atomenergieorganisation in den 70er Jahren Kapazitäten von 4.450.000 Megawatt zugetraut hatte, könne keine Rede sein. Tatsächlich produzierten die derzeit aktiven 439 Atomkraftwerke insgesamt 371.000 Megawatt und lieferten damit lediglich 16 Prozent der Elektrizität, 6 Prozent der kommerziellen Primärenergie und 2, allenfalls 3 Prozent der Endenergie weltweit.

Nach der Berechnung von Schneider ist das Durchschnittsalter der noch laufenden Reaktoren mittlerweile auf 23 Jahre angewachsen. Ausgehend von einer durchschnittlichen Laufzeit von 40 Jahren lässt sich so in etwa abschätzen, wie viele Kraftwerke neu in Betrieb genommen müssen, um die aktuelle Stückzahl konstant zu halten.

Zusätzlich zu den geplanten Reaktoren, die ein Datum für die Inbetriebnahme aufweisen, müssten 69 Reaktoren (42.000 MW) bis zum Jahre 2015 geplant, gebaut und in Betrieb genommen werden – das entspricht einem Reaktor alle 1 ½ Monate. In den darauf folgenden 10 Jahren müssten 192 zusätzliche Reaktoren fertig gestellt werden – alle 18 Tage einer.

World Nuclear Industry Status Report 2007, Deutsche Kurzfassung

Auf die Atomindustrie kommt also eine Menge Arbeit zu, doch ein Blick auf die aktuelle Situation lässt kaum erwarten, dass europa- oder gar weltweit so nachgerüstet werden kann, wie es die gerade angestellten Berechnungen vorsehen. Allein der als Prestigeprojekt geplante Druckwasserreaktor Olkiluoto-3 in Finnland ist schon zwei Jahre überfällig und hat den ursprünglichen Finanzplan bereits um beachtliche 1,5 Milliarden Euro überzogen.

Weltweite Baupläne

Der verblüffenden, in sich schlüssigen Analyse zum Trotz zeigt ein Blick auf die baulichen Aktivitäten, dass sich zahlreiche Länder die Zukunft ihrer Energieversorgung ohne Kernenergie nicht vorstellen können. Die Internationale Atomenergieorganisation weiß von insgesamt 32 Atomkraftwerken, die sich derzeit im Bau befinden, sieben von ihnen werden in Russland, je sechs in China und Indien stehen. Aber auch Bulgarien, die Ukraine, Argentinien, Iran oder Pakistan setzen weiter auf Atomstrom, und das gilt natürlich auch für Frankreich, dass schon jetzt rund 80 Prozent seiner Stromversorgung aus Kernenergie bezieht.

Hinzu kommen zahlreiche Länder, in denen entsprechende Planungen diskutiert werden oder kurz vor dem Abschluss stehen. So will die Türkei bis 2012 drei Kernkraftwerke mit einer Gesamtkapazität von 5.000 MW ans Netz bringen, und die „Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen“ beschäftigt sich gerade mit konkreten Vorschlägen, den „allfälligen Neubau eines Kernkraftwerks in der Schweiz“ zu realisieren.

Ob sich die Kernenergie auch mittelfristig auf dem Rückzug befindet, bleibt also noch abzuwarten. Unabhängig davon deuten die neuesten Zahlen darauf hin, dass sie für den Energiemix der Gegenwart und Zukunft nicht so unverzichtbar ist, wie es manche Äußerungen der Atomindustrie glauben machen wollen.