Allianzen, Almosen, Massaker

Seite 2: Friedhofsruhe und Ordnung

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Daneben ist es schlicht die Kriegsmüdigkeit in vielen Regionen Syriens und des Irak, die den Islamisten die Errichtung ihrer archaischen Herrschaftsform erleichtert. Die Friedhofsruhe, die im Kernland des IS herrscht, bringt für die kriegsgeschundene Bevölkerung eine Verschnaufpause vom jahrelangen Chaos des Bürgerkrieges.

In der Hochburg des IS, im ostsyrischen Raqqa, ist das urbane Leben nahezu erloschen. Der größte Platz der Stadt, auf dem sich früher Jugendliche trafen, ist mit Zäunen und Fahnen des IS abgesperrt. Die meisten Kaffees der Stadt haben geschlossen, nachdem die Islamisten den Konsum von Zigaretten und Wasserpfeifen verboten haben. Frauen müssen sich voll verschleiern. Eine Religionspolizei wacht über die Einhaltung aller vom IS aufgestellten Verbote und Gebote.

Bei öffentlichen Hinrichtungen werden Delinquenten, denen Verstöße gegen die Scharia vorgeworfen wurden, geköpft oder gekreuzigt und deren Körper öffentlich aufgehängt. Dieben werden Hände abgehackt. Christen müssen eine Sondersteuer zahlen, während christliche Kirchen zerstört oder zweckentfremdet werden. Verstöße gegen die Fasten- oder die Verschleierungsvorschriften bei öffentlichen Auspeitschungen bestraft. Jüngst wurde eine des "Ehebruchs" verdächtigte Frau in Raqqa von einem Mob zu Tode gesteinigt.

Es scheint, als ob mit dem islamistischen Raqqa ein Stück Afghanistan mitten nach Syrien verpflanzt wurde. Und dennoch bestehen Unterschiede, da der IS diese archaische Diktatur mit dem Aufbau einer funktionierenden Verwaltung und den Bemühungen um die Instandsetzung der städtischen Infrastruktur koppelt. In der 500.000-Einwohner-Stadt gebe es kaum Kriminalität, die Verkehrspolizei arbeite genauso wie eine Steuerbehörde, und die unter dem Assad-Regime weitverbreitete Korruption sei eingedämmt worden, berichtete ein Reporter der New York Times (NYT), der über sechs Tage in der Islamistenhochburg recherchieren konnte. Die Versorgung mit Lebensmitteln auf den Märkten sei gewährleistet, doch stehen Wasser und Elektrizität der Bevölkerung nur vier Stunden täglich zur Verfügung. Auch in Mosul seien die Islamisten gleich nach der Einnahme dieser Millionenstadt bestrebt gewesen, die städtische Infrastruktur möglichst schnell wiederherzustellen, berichtete die Washington Post.

Die Angestellten in der städtischen Verwaltung von Raqqa erhalten vom IS Gehälter; im weitaus größeren Mosul ist dies aber bislang trotz anderslautender Versprechen nicht der Fall. Der Islamische Staat bemüht sich auch um ein investitionsfreundliches Klima in seiner Tugenddiktatur. Steuern in Höhe von 20 US-Dollar müssen von den lokalen Unternehmen und Geschäftsinhabern alle zwei Monate erbracht werden, um für "Elektrizität, Wasser und Sicherheit" zu bezahlen. Hierfür gibt es inzwischen auch Quittungen des IS. Die NYT berichtete von einem Unternehmer aus dem kriegszerstörten Aleppo, der seine Geschäftstätigkeit nach Raqqa verlagerte und dort nun eine Fabrik für Kinderbekleidung betreibt.

Einen Teil seiner milliardenschweren Kriegsbeute verwendet der IS für Almosen. In Raqqua, Mosul und etlichen anderen Regionen verteilten die Dschihadisten Essenspakete und Geld an Bedürftige, die hierfür eigens angefertigte Formulare in den lokalen Moscheen auszufüllen haben. Zudem ging der IS in Mosul dazu über, Wohnungen von vertriebenen oder ermordeten Christen, Schiiten oder sonstigen Minderheiten an Sunniten zu verteilen. Damit sollen Loyalitäten und Abhängigkeiten zwischen Bevölkerung und IS geschaffen werden. Kämpfer des Islamischen Staates durchkämmen inzwischen Mosul systematisch, um "Häuser von Christen" zu beschlagnahmen.

Dabei bemüht sich der IS um eine "Professionalisierung" seiner Verwaltung. Der Aufruf al-Bagdadis an alle Muslime mit entsprechender professioneller Ausbildung, in sein "Kalifat" einzuwandern, gründet gerade in der Absicht, eine effiziente Staatsmaschine zu errichten. In Raqqa sind Folgen dieser globalen islamistischen Rekrutierungskampagne bereits zu besichtigen. Die Straßensperren in der Stadt seien oft mit Saudis, Ägyptern, Tunesiern oder Libyern bemannt. Der für die Elektrizitätsversorgung verantwortliche "Emir" sei ein Sudanese, und das Krankenhaus werde von einem Jordanier geleitet, der einem ägyptischen Vorgesetzten Rechenschaft ablegen müsse - dies erklärten die Angestellten des Krankenhauses gegenüber der NYT, die unter diesen vom IS eingesetzten und linienkonformen Vorgesetzten nun arbeiten müssen: "Sie können nicht das gesamte Personal des Krankenhauses feuern, deswegen wechseln sie nur die Manager gegen jemanden aus, der ihre Regeln durchsetzt", erläuterte ein Angestellter.

Der Islamische Staat als Besatzungsmacht

Die syrische Einwohnerschaft Raqqas verkommt so zu bloßen Befehlsempfängern und Statisten einer internationalen Dschihadistentruppe, die diese Stadt als ein Experimentierfeld zur Realisierung ihre schwarze Utopie eines islamisch reinen Kalifats nutzt. Der IS stellt somit ein globalisiertes Terrornetzwerk dar, das im Endeffekt als eine klerikal-faschistische Besatzungsmacht in den eroberten Gebieten auftritt. Es ist keine "autochthone" Bewegung wie etwa die Hisbollah, sondern ein der einheimischen Bevölkerung fremder und effizient organisierter Militär- und Machtapparat, der mit einer ausgeklügelten Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche die Expansion und Stabilisierung seiner Herrschaft betreibt.

Es gibt ein historisches Beispiel für eine solche Konstellation in der Region. Al-Qaida im Irak fungierte während der US-Besatzungszeit in weiten Teilen Iraks ebenfalls als eine größtenteils von ausländischen Dschihadisten geführte Aufstandsbewegung, deren extremistische Auslegung des Islams auf immer größeren Widerstand stieß. Ab 2006 griffen viele sunnitische Stämme - mitunter unterstützt von den USA und Bagdad - die al-Qaida großflächig an und vernichteten diese dschihadistische Vorläuferorganisation des IS nahezu vollständig. Und genau eine solche Erhebung fürchten die Strategen des IS auch jetzt. Die Dschihadisten wollten "wie ein Staat funktionieren", erklärte ein Aktivist aus Raqqa, doch hätten sich nur Waffen und Geld, aber keine breite Unterstützung: "Es ist unmöglich, so weiterzumachen, weil die Leute sie hassen."

Deswegen müssen die Gotteskrieger auch immer wieder zu brutalster Gewalt und Massenmord greifen, um ihre Herrschaft zu stabilisieren und jeden Gedanken an Widerstand schon im Keim zu ersticken. Die Angst soll die Bevölkerung der besetzten Gebiete lähmen. Mehrmals haben die Islamisten rebellische Städte und Dörfer, die sich ihrer Kontrolle wiedersetzten, mit Mörsern oder Artillerie beschossen - ohne jedwede Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Das zentralirakische Al Dhuluiya wurde Mitte Juli von 50 bis 60 Mörsereinschlägen erschüttert, die von Kampfverbänden des IS abgefeuert wurden. In der nordirakischen Ortschaft Zowiya, die sich in der Nähe von Tikrit befindet, haben die Anwohner anfangs die Gotteskrieger des IS erfolgreich vertrieben, nachdem diese die ortsansässige Bevölkerung mit immer neuen Forderungen und Bestimmungen übermäßig drangsalierten.

Danach zogen die Dschihadisten erhebliche Einheiten zusammen, um die Ortschaft durch massiven Mörserbeschuss im Endeffekt dem Erdboden gleichzumachen. "Mehr als 500 Einschläge" zählte ein aus Zowiya entkommener Mitarbeiter des Roten Halbmondes allein in der ersten Stunde des Bombardements, "sie haben sich nicht geschert um die Frauen, Kinder und Unschuldigen". Die Überlebenden mussten aus ihrer Ortschaft panikartig unter dem Mörserbeschuss fliehen, ihre toten oder verwundeten Freunde und Verwandten unter den Trümmerbergen zurücklassend. Nach der Massenflucht gingen die Kämpfer des IS dazu über, alle unbeschädigt gebliebenen Häuser im Dorf systematisch zu sprengen. Dutzende von Bewohnern kamen bei dieser Vergeltungsaktion ums Leben, Hunderte wurden verletzt. In einer hiernach publizierten Erklärung rühmte sich der IS dieser "Säuberungsaktion": "All jene, die auch nur daran denken, den Islamischen Staat zu bekämpfen oder gegen das Kalifat zu konspirieren, wissen jetzt, welches Schicksal sie erwartet."