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Wie der Islamische Staat die Errichtung seines "Kalifats" im Zweistromland betreibt
Syrien erlebte Mitte Juli die blutigsten Kämpfe seit Beginn des Bürgerkrieges 2011, meldete die Nichtregierungsorganisation Syrian Observatory for Human Rights auf ihrer Internetpräsenz. Binnen 48 Stunden sind bei Auseinandersetzungen zwischen der Dschihadistischen Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) und Armee-Einheiten des syrischen Regimes von Präsident Asssad mehr als 700 Menschen zu Tode gekommen.
Ein Großteil dieser Kriegstoten ist auf ein Massaker zurückzuführen, das der IS nach der Eroberung eines Gasfeldes in Zentralsyrien beging. Mindestens 270 Regierungssoldaten, Wachmannschaften und Arbeiter sind bei der Einnahme des östlich von Homs gelegenen Shaar-Gasfeldes von den Gotteskriegern massakriert worden. Gegenangriffe der syrischen Armee, die eine Rückeroberung des Gasfeldes zu Ziel hatten, konnten vom IS zurückgeschlagen werden. Die Serie militärischer Erfolge der Dschihadisten gegen die Regierungskräfte scheint auch weiterhin anzuhalten. Am 25. Juli konnten Truppen des IS eine Armeebasis in der der Nähe des ostsyrischen Raqqa erobern, das als eine inoffizielle Hauptstadt ihres islamischen "Kalifats" fungiert. Rund 50 Regimesoldaten sind dabei umgekommen.
Auch im Irak scheinen die Islamisten weitere Geländegewinne verzeichnet zu haben, nachdem die Gegenoffensive irakischer Regierungseinheiten und schiitischer Milizen in Tikrit spektakulär zusammengebrochen ist. Hunderte von Regierungssoldaten wurden nach der Eroberung einer ehemaligen US-Armeebasis "Camp Speicher" in der unmittelbaren Nähe von Tikrit von den Gotteskriegern niedergemacht, wodurch die Bemühungen Bagdads zur Rückeroberung der von IS gehaltenen Gebiete vorerst gescheitert sind. Augenzeugen berichten von bis zu 850 toten Soldaten und schiitischen Milizionären.
Der Islamische Staat kontrolliert somit einen Flickenteppich von Städten und Regionen im ehemaligen Syrien und Irak, der vom östlichen Stadtrand Aleppos bis nach Mosul, und von Tal Afar im Nordirak bis nach Falludscha im Zentralirak reicht. Bei einer Lageeinschätzung gegenüber dem Komitee für auswärtige Angelegenheiten des US-Repräsentantenhauses erklärten amerikanischen Außenpolitiker den Islamischen Staat zu einer "größeren Gefahr als Al-Qaida", da die Terrorgruppe nun über eine "ausgewachsene Armee" verfüge. Der Vorsitzende des Ausschusses, der Republikaner Ed Royce, warnte:
Niemals zuvor hat eine terroristische Organisation solch einen großen, ressourcenreichen Rückzugsraum kontrolliert wie derzeit ISIS. Niemals hat eine terroristische Organisation solch eine schwere Bewaffnung, dermaßen viel Geld und Personal besessen wie derzeit ISIS - worunter Tausende von Besitzern ausländischer Reisepässe fallen.
Der kometenhafte Aufstieg des Islamischen Staates ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Zum einen ist es selbstverständlich die Schwäche der in Auflösung befindlichen Staaten in der bürgerkriegsverseuchten Region. Sowohl der Irak wie auch Syrien befinden sich in einem Prozess des Staatszerfalls, der die Effektivität der überdehnten Streitkräfte beider Rumpfstaaten stark verringerte. Die von der Minderheit der Alewiten dominierte syrische Armee, in der kaum noch Sunniten zu finden sind, ist durch einen jahrelangen Mehrfrontenkrieg geschwächt, der es ihr nicht mehr ermöglicht, mit einer groß angelegten Mobilisierung gegen IS vorzugehen. Im Irak befinden sich die Streitkräfte ebenfalls in einer desolaten Lage und in offensichtlicher Demoralisierung, da die religiösen und ethnischen Bande der Soldaten weitaus stärker wiegen als die Loyalität zum erodierenden irakischen Staatskörper. Die Mehrheit der irakischen Brigaden sei "entweder durch sunnitische Extremisten oder schiitische Milizen unterwandert", berichteten die von der Obama-Administration gen Irak entsandten Militärberater ernüchtert.
Terrorkonzern gegen "Gescheiterte Staaten"
Die Konstellation für den Ausbruch eines offenen, religiös motivierten Bürgerkrieges im Irak ist somit bereits gegeben. Folglich waren bei der gescheiterten "Regierungsoffensive" gegen den Islamischen Staat in Tikrit viele unterfahrene schiitische Milizionäre beteiligt, die kaum ausgebildet waren und sich mitunter in Eigenregie mit Waffen und Munition versorgen mussten. Eine Kugel koste schon 1,60 US-Dollar, berichtete ein irakischer "Regierungssoldat" gegenüber der New York Times, und die Preise befänden sich weiter im Höhenflug. Manchmal müssten die Soldaten und Milizionäre auch zur Bezahlung der Stromrechnungen beitragen, damit ihre Militärbasen nachts nicht unbeleuchtet blieben.
Diese offensichtlichen Auflösungserscheinungen der Staaten im Nahen und Mittleren Osten gehen mit einer Interventionsmüdigkeit der USA - die eine imperiale Überdehnung ihrer Möglichkeiten erleiden - im Irak einher. Das Weiße Haus strebt sogar die Rücknahme der Autorisierung zur Anwendung militärischer Gewalt im Irak an, die der US-Kongress dem damaligen Präsidenten George W. Bush 2002 ausstellte.
Den erodierenden Staatsapparaten setzt der Islamische Staat eine "moderne", straffe Organisationsstruktur entgegen, die an die Funktionsweise transnationaler Konzerne erinnert (Der Terrorkonzern). Der internationale Charakter dieser auf Staatsbildung fokussierten Terrorgruppe kommt vor allem in ihrer Mitgliederstruktur zu Ausdruck. Rund 10.000 Ausländer sollen inzwischen in den Reihen der Islamisten im Irak und in Syrien kämpfen, von denen in etwa 3.000 aus westlichen Ländern in das Bürgerkriegsgebiet einreisten. Seit dem vergangenen Februar ist die Zahl dieser ausländischen Kämpfer um ein Drittel angestiegen. Die meisten dieser Dschihad-Touristen schließen sich dem IS an, der in diesen Kreisen inzwischen weitaus größeres Ansehen als al-Qaida mit ihrem lokalen Ableger - die Al Nusra Front - genießt.
Anstatt die Macht in den Händen des "Führers" al-Bagdadi zu konzentrieren, setzt der IS auf Dezentralisierung. Ein "Kabinett" von Stellvertretern ist mit spezifischen Aufgabenbereichen - Militär, Finanzen, Terroroperationen, Wohlfahrt, etc. - weitgehend eigenverantwortlich betraut. Zudem wurden "Gouverneure" ernannt, die für die Verwaltung spezifischer, vom IS eroberter Gebiete verantwortlich seien. Den rund 25.000 Männern, die allein im Irak sich dem IS angeschlossen haben, stehen 1.000 "Kommandeure" vor, die technische oder militärische Fähigkeiten aufweisen müssen. Alle Mitglieder dieses globalen Terrorunternehmens würden ein Einkommen beziehen, das - abhängig von der Stellung in der Hierarchie - zwischen 300 und 2.000 US-Dollar liegen soll. Die Bestrebungen des Islamischen Staates, möglichst viele Öl- oder Gaslagerstätten zu erobern, gründen in den Bemühen, diese komplexe und kostspielige organisatorische Struktur vermittels Energieträgerexporten aufrecht zu erhalten und auszubauen (Islamischer Staat auf dem Vormarsch in Syrien).
Brüchige Allianzen
Der kometenhafte Aufstieg des IS ist aber auch dem Pragmatismus geschuldet, mit dem diese Terrortruppe ihre extremistischen Ziele verfolgt. Einerseits gingen die Islamisten im Vorfeld der Offensive im Irak breitwillig Allianzen mit den Überresten der säkular-nationalistischen Baath-Partei des ehemaligen irakischen Diktators Saddam Hussein und vielen sunnitischen Klans im Irak ein, um überhaupt die notwendigen Kräfte für den Aufstand zu mobilisieren. Viele der beteiligten Gruppierungen jenseits des IS sahen den Aufstand vor allem als einen Kampf gegen die schiitische Vorherrschaft im Irak, die die Sunniten immer stärker ausgrenzte. Die Diskriminierung von Sunniten im Irak und die Weigerung von Ministerpräsident al-Maliki, einen Modus der Machtteilung zwischen den Glaubensrichtungen zuzustimmen, dürften somit zu dem Aufstieg des IS maßgeblich beigetragen haben.
Ähnlich pragmatisch gingen die Islamisten anfänglich in den eroberten Gebieten und Städten vor. In Mosul erging zwar kurz nach der Einnahme durch den IS ein Verbot von Zigaretten- und Alkoholkonsum, doch wurde auf die unverzügliche Durchsetzung der extremen Formen der Scharia verzichtet. Die öffentlichen Enthauptungen oder Amputationen von Händen, die in der inoffiziellen Hauptstadt der Islamisten, in Raqqa, üblich sind, finden in Mosul noch nicht statt.
Der IS passt seine Herrschaftsmethoden geschickt den Machtverhältnissen in der betroffenen Region an. Dort, wo die Islamisten die Macht monopolisiert haben wie in Raqqa, kommt der Tugendterror zur vollen Entfaltung. Inzwischen wurden dort Frauenbrigaden aufgestellt, die die rücksichtslose Durchsetzung der Scharia gewährleisten sollen. Eine Haarspange, die unter dem Schleier zum Vorschein kommt, kann schon mal zu 30 Peitschenhieben führen. In umkämpften Regionen hält sich der IS hingegen zurück und geht erst nach der Konsolidierung seiner Machtstellung in die Offensive, wie etwa bei der Vertreibung der Christen aus Mosul offensichtlich wurde. Ein irakischer Aktivist schilderte dies Vorgehen folgendermaßen:
Als sie zuerst Mosul betraten, kamen sie mit der Unterstützung der Baath-Partei. Zuerst zögerten sie, ihr wahres Antlitz zu zeigen, weil sie die Unterstützung der Baath-Partei erhielten. Nun haben sie es nicht mehr nötig, sich unter der Maske von Moderaten zu verstecken.
Die kurzfristige Allianz zwischen Islamismus und arabischem Nationalismus, die dem gemeinsamen Kampf gegen die schiitisch dominierte Zentralregierung dienen sollte, wurde vom ungemein erstarkten IS aufgekündigt, indem die Islamisten zur Liquidierung von ehemaligen Funktionären der Baath-Partei schritten und deren Kämpfer mit gezielten Anschlägen auf Funktionsträger des IS reagierten. Letztendlich war es die Frontstellung gegen die schiitische Regierung in Bagdad, die das Zustandekommen dieser fragilen sunnitischen Allianz überhaupt ermöglichte.