Als die Daten reisen lernten

Seite 2: Information wants to be free

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Die Aufgabe von Medien ist, wie geschrieben, das Verarbeiten, Speichern und Übertragen von Informationen. Der Computer, auf dem dieses Diskmag ausgeführt wird, verarbeitet dessen Programm und Daten (intern speichert er sie dazu auch kurzfristig und überträgt sie über kurze Distanzen). Datenträger, wie die Diskette auf der sich das Diskmag befindet, speichern die Informationen langfristig. Fehlt also nur noch die Übertragung über größere Distanzen. Vor der flächendeckenden Vernetzung der Computer im Internet kamen dafür nur zwei Möglichkeiten in Frage: die Datenfernübertragung über das Telefon mit Hilfe eines Modems/Akustikkopplers oder die Übermittlung über bestehende "analoge" Netze. Beide Varianten haben denselben Ursprung.

In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre entstand am Bostoner MIT der erste so genannte Hackerspace. Für die Studenten, die die Großrechner, welche von den System-Operatoren bewacht wurden, endlich selbst einmal bedienen wollten, wurde mit der Anschaffung des TX-0-Computers der Traum wahr. Schon bald begannen sie eigene Programme für diesen Rechner in Maschinensprache zu schreiben. Aus Stolz und zum Wettbewerb "veröffentlichten" sie ihre Werke, die auf Lochstreifen gestanzt wurden, indem sie sie in eine unverschlossene Schublade eines im Computerraum stehenden Schrankes hinterlegten. Von dort konnten Kommilitonen sie herausnehmen, in den TX-0 laden, verändern/verbessern, abermals auf Lochband speichern und zurück in die Schublade legen, damit die nächsten damit arbeiten konnten.

Dieses frühe "File Sharing"-System war ganz ungeplant entstanden, etablierte aber bald unausgesprochene Regeln, an die sich jeder hielt (und die später als Hacker-Ethik bekannt wurden). Eine davon lautete: "All information should be free." Diesem Credo war jede Software, die von dieser Community entwickelt wurde, verpflichtet - von kleinen Zahlenkonvertierungsroutinen bis hin zu kompletten Betriebssystemen.

Der TX-0 besaß einen eingebauten Lautsprecher, der dazu verwendet wurde, Leitungen des Systembusses abzuhören, um so herauszufinden, ob sich der Computer aufgehängt hatte (was an rhythmischen Wiederholungen hörbar gewesen wäre). Bald schon kam einer der Hacker auf die Idee, diesen Lautsprecher nicht nur für musikalische Zwecke (um)zunutzen, sondern mit ihm Signale zu erzeugen, mit denen sich das Campus-Telefonsystem so manipulieren ließ, dass man damit kostenlos telefonieren konnte.

Was kurz zuvor bereits von von Militärforschern im Geheimen konzipiert worden war (Radardaten über das Telefonnetz an Rechenzentren zu übertragen), wiederholte sich hier quasi als ganz natürliches Anwendungsfrage von Hobbyisten: Computer untereinander zu vernetzen. Von hier ab war es nur noch eine Frage der Zeit, bis übers Telefonnetz auch private Computersignale zwischen Rechnern ausgetauscht wurden. Die so genannte "Phreaker"-Szene (Leute, die sich ins Telefonsystem hacken) vernetzte ab den 1970er-Jahren Rechner über eigentlich kostenpflichtige Telefonleitungen zum Nulltarif miteinander.

Die Verdatung der Netze

Das Subversive an diesen Ideen der MIT-Studenten lag aber weniger im Austausch von Daten oder dem Freischalten kostenpflichtiger Telefondienste (denn diese Funktion war im Telefonsystem ja vorgesehen), als im "Missbrauch" bereits bestehender Netz-Infrastrukturen zum Zwecke der Datenfernübertragung. Zuerst wurde eine Schublade zum "FTP-Archiv", anschließend das für die Sprachkommunikation ausgelegte Telefonsystem zum Datennetz umfunktioniert. Dieses Prinzip hat sich über die folgenden Jahrzehnte weiter entwickelt und wurde auf ganz unterschiedliche Netze ausgedehnt. Daten wurden über den Rundfunk (audiokodiert) versendet, über die Austastlücken des Fernsehsignals (etwa der Videotext), über die Stromleitungen (auf die Netzspannung aufmoduliert), ja, selbst über die Gleise des Schienennetz.

Solche Technologien waren aber zum einen für Privatleute, die sich ab Mitte der 1970er-Jahre Computer bauten oder kauften, noch kaum erreichbar oder gar erschwinglich. Zum Anderen war diese Kommunikation ja auch bloß unidirektional. Die zumeist jungen Benutzer von Homecomputern wollte sich aber austauschen und mussten sich daher mit anderen Mitteln vernetzen.

Hier kam ihnen zunächst eine Eigenschaft ihrer Systeme entgegen, die eines der zentralen Verkaufsargumente für Homecomputer war: Computer sollten sich möglichst problemlos in die heimische Medienlandschaft einfügen lassen. Deshalb wurde den 8-Bit-Systemen von Atari, Commodore, Sinclair und anderen nicht nur gleich eine Schreibmaschinentastatur, die viele Nutzer aus den Büros ihrer Eltern kannten, mitgegeben, sondern auch Schnittstellen, an denen vorhandene "Peripherie" angeschlossen werden konnte.

Neben den alten Atari-VCS-Joysticks konnte man deshalb auch den Fernsehapparat im Wohnzimmer zum Monitor und den Kassettenrecorder aus dem Kinderzimmer zum Datenrecorder umfunktionieren. In Computerzeitschriften konnte man zudem Bauanleitungen finden, um noch mehr Geräte mit dem Rechner zu verbinden - selbst Anleitungen zum Bau eines "Datenklo"-Modems mit Mitteln aus dem Baumarkt.

Kleinanzeigen-Seite in der Zeitschrift "HC - Mein Home-Computer". Scan: Stefan Höltgen

Computerzeitschriften besaßen aber noch eine andere Funktion, die bedeutsam in unserem Zusammenhang ist: Über sie konnten sich die Computernutzer persönlich und maschinell miteinander "vernetzen". In den Kleinanzeigen fanden sich neben Kontaktangeboten auch Tauschanfragen für Datenträger, die eigene und "fremde" Programme enthielten.

Wem diese Vernetzung, deren Rückkanal über den Postweg lief, (urheber)rechtlich zu heikel erschien, der konnte Datenträger auch bei persönlichen Treffen, zum Beispiel auf dem Schulhof, tauschen und von einem Computerveteranen wurde mir berichtet, dass man sogar den Regionalverkehr der Bahn zum "Versand" von Disketten nutze, indem der "Sender" die Diskette in Ort A in einem Waggon versteckte, aus welchem der Empfänger in Ort B sie dann später abholte.

Daten tragen

Informationen, die in einem Computer gespeichert sind, von diesem verarbeitet oder übertragen werden, existieren nicht als reale Objekte. Sie sind lediglich Spannungsdifferenzen, die die Unterscheidung zwischen zweier Zustände erlauben; eine Anzahl von Elektronen, die sich in einem festgelegten Zeitraum durch einen Leiter bewegen. Erst durch die "Interpretation" des Computers und des Nutzers werden Programme oder Daten daraus. Aber nur solange, wie diese Information im Signalzustand sind, lassen sie sich durch Leitungen senden.

Bestimmte Anwendungen und Nutzungsweisen erfordern jedoch eine Materialisierung dieser virtuellen Existenz: Damit Informationen gelesen und archiviert werden können, müssen sie beispielsweise auf Papier ausgedruckt werden. Damit sie auch jenseits elektronischer Netze transportabel sind, müssen sie auf auf Datenträgern gesichert werden. Dadurch wird ihrem vormals "geisterhaften" Zustand Dimension und Gewicht verliehen. Und auf diese Weise können sie auch längere Zeiträume überdauern und nicht nur über Räume, sondern auch Zeiten hinweg "transportiert" werden.

Nicht allein deshalb erinnern die rotierenden, runden Disketten- und Festplattenscheiben an Schallplatten; mit ihnen teilen sich die Datenträger des Computerzeitalters auch jenen Auftrag der "Vergegenwärtigung" des scheinbar längst Verschwundenen und Vergessenen. Wie ein Zauber soll es den Hörern früher Grammophonaufnahmen vorgekommen sein, als sie die Stimmen nicht anwesender (und manchmal sogar bereits verstorbener) Menschen zu hören bekamen, so, als stünden diese im selben Raum. Das Grammophon und die Schallplatte schienen hier zu "Medien" im okkultistischen Sinne zu werden.

Mit den Massenspeichern von/an Computern verhält es sich ganz ähnlich. Der Effekt zeigt sich besonders dann, wenn der Zeitraum zwischen Sendung/Speicherung und Empfang/Laden groß ist. Der Nostalgie-Effekt, den nicht nur historische Computerspiele, sondern auch alte Datenträger mit eigenen Programmierexperimenten und anderen Speicherungen "von damals" auf uns haben, ließe sich auch vielleicht auch hiermit erklären. Die "Vergegenwärtigung" der (alten) Informationen schlägt eine Brücke zwischen uns im Hier und Jetzt zu uns von damals und dort. Analoge und digitale Speicher sind immer auch solche Brücken über die Abgründe von Raum und Zeit.

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