"Am Anfang war die Information…"

Der Wissenssoziologe Robert Feustel über die religiösen Tendenzen der Digitalisierung?

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Robert Feustel hat im Verbrecher Verlag ein Buch veröffentlicht, in dem er religiösen Tendenzen in der Digitalisierung kritisch nachgeht. Die These: Aus dem Konzept "Information" wird im Zuge der Digitalisierung ein Kult gebaut, der zuweilen religiöse Züge annimmt. Manche Autoren und Theoretiker entkoppeln das Thema auf eine Art und Weise, dass beinahe heilsbringende Erwartungen an die heutige Informationsgesellschaft geweckt werden. Anders gesagt: Die Digitalisierung wird zum Allheilmittel, da ihre Grundlagen anscheinend präzise und eindeutig sind. Information ist immer schon da und braucht nicht besonders hinterfragt werden.

Dr. Robert Feustel, der an der Universität Jena im Arbeitsbereich Wissenssoziologie und Gesellschaftstheorie forscht, analysiert diesen Diskurs und stellt die Frage nach Original und Fälschung, Fakt und Fake sowie Wahrheit und Lüge.

Hinter dem Wort "Information" schillern viele Begriffe. Woran liegt diese begriffliche Unschärfe?

Robert Feustel: Wörter und ihre Bedeutung hängen immer vom Kontext ab, in dem sie stehen oder gesagt werden. Da ist Information zunächst keine Ausnahme. Das Besondere ist eher, dass irgendwann im 20. Jahrhundert gerade dieses Wort eine besondere Kontur bekam, weil es für neutral und objektiv, also unabhängig vom Kontext gehalten wurde. Information galt als das, was der immerzu missverständlichen Sprache vorauszugehen scheint, die Objektivität von Null und Eins. Tatsächlich allerdings bliebt das Wort Information immer "nur" ein Signifikant, ein Begriff, der gedeutet und verstanden werden muss. Die Differenz zwischen angenommener Objektivität und tatsächlicher Vieldeutigkeit macht den Unterschied zu anderen Begriffen aus.

Dieser wenig scharf konturierte Begriff wirkt sich auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche aus. Kann man sagen, dass er für die fortschreitende Digitalisierung zentral ist?

Robert Feustel: Ja, aber auf schräge Weise. Computer und alles, was an ihnen hängt, kommen sehr gut ohne das Wort aus, sie prozessieren digital kodierte Daten, also letztlich Nullen und Einsen. Zentral ist das Wort eher, weil es gewissermaßen im Zentrum des Wissens der Gegenwart steht. Zugespitzt formuliert: Weil mittlerweile fast überall verbaute Rechenmaschinen sehr gut funktionieren und vieles ändern, hat sich die Vorstellung etabliert, dass letztlich alles, also auch der Mensch selbst, als Informationssystem gedacht werden muss. Alles scheint in Informationen übersetzbar (was übrigens den Unterschied zwischen Gerücht und Tatsache aus den Angeln hebt). Für die Digitalisierung als technischer Prozess ist Information also unerheblich, als quasireligiöser Baustein des zeitgenössischen Wissens hält er eine ganze Ordnung des Wissens zusammen.

Wie wird der Unterschied zwischen Gerücht und Tatsache genau ausgehebelt?

Robert Feustel: Der entscheidende Faktor ist die Zeit. Wissen braucht Latenz, also Dauer. Einerseits dauert es, bis etwas als Wissen gelten kann, es muss abgesichert oder geprüft werden. Andererseits überdauert Wissen eine Weile. Wenn es das nicht tun würde, wäre es kein Wissen, sondern eine Ahnung, eine Vermutung oder ein Gerücht. Eine Information dagegen ist etwas, das blitzschnell zirkuliert (ein Tweet zum Beispiel). Ob sie stimmt oder nicht, stellt sich erst später heraus.

Im Kontext von permanenter Beschleunigung, von News-Tickern etc., jagt jedoch eine Nachricht die andere, und die Frage, ob ein Tweet etwa nur ein falsches Gerücht oder doch eine Tatsache zirkulieren ließ, rückt in den Hintergrund, weil der nächste Zyklus, die nächsten Nachrichten schon über den Äther laufen.

"Es gibt kein Anderes der Information"

Die Information scheint in den Mittelpunkt einer Religion gerückt zu sein. Wie kann man diese Religion beschreiben?

Robert Feustel: Ich würde das etwas anders formulieren. Seit den 1950er Jahren hat sich die Vorstellung in den Vordergrund gedrängt, dass in letzter Instanz alles als Informationszirkulation gedeutet und bestenfalls gesteuert werden kann. Das Materielle gilt dann nur noch als basaler Ausdruck bestimmter Schaltlogiken und die Zukunft wird berechenbar. Wenn das Wissen einen letzten Grund, eine eigentliche Wahrheit oder die substanzlose Substanz hinter allem erkannt zu haben glaubt, kippt es fast unweigerlich ins Religiöse.

Letztbegründungen waren kulturgeschichtlich der Religion vorbehalten. Dass am Anfang nicht das Wort, sondern die Information war, habe ich mir nicht ausgedacht. In den Debatten zur Digitalisierung kommt diese Volte mehrfach vor, ganz ohne Ironie übrigens.

Ein Zitat: "Die heutige sogenannte Informationsgesellschaft basiert also nicht nur auf einer markanten technischen Neuerung, mit der es möglich ist, Nachrichten, Wissen oder was auch immer flexibel und blitzschnell durch Kanäle und durch die Luft zu schicken. Sie erwächst auch aus einem euphorischen Denken, das von sich behauptet, ein Mittel gegen das entropische Übel der Welt gefunden zu haben. Die Rede von Informationen zahlt also immer schon auf ein philosophisches, weltgeschichtliches Konto ein. Sie gleicht einer Weltformel und ermöglicht scheinbar eine wissenschaftliche Perspektive, mit der die Transzendenz kassiert und die Zukunft berechnet werden kann." (S. 65) Das unterstützt sicher auch die wirtschaftliche Ausbeutung der Welt, indem Zahlen eine logische Abfolge von Handlungen begründen können?

Robert Feustel: Ja, schon. Das, was heute Digitalisierung heißt, verändert die politische Ökonomie heftig. Die globalen Kapitalströme verändern sich, das kapitalistische Spiel aus Überproduktion und Armut macht vor den "smart factories" nicht halt. Mir geht es im Buch aber eher um eine wissensgeschichtliche Aufarbeitung dessen, was heute Digitalisierung heißt. Beides, also die politische Ökonomie und die Wissensgeschichte, haben ihre Berechtigung, würde ich sagen.

Eine genauere Arbeit an dem Thema "Information" würde die Ambivalenz offen legen. Können das aber zum Beispiel die Netzkultur, das Internet, die Global Players des WorldWideWeb leisten?

Robert Feustel: Schwer zu sagen. Die Wissensgeschichte (in den Unis heißt das gern auch Epistemologie) nimmt eher langfristige Veränderungen in den Blick. Allerdings ist ja an vielen Stellen zu erkennen, dass das allgemeine Maß "Information" nicht die Lösung aller Probleme mitliefert, ganz im Gegenteil.

Information scheint sauber zu sein. Wer mit Information arbeitet oder mit ihr handelt, handelt zukunftsgewandt und wissenschaftlich. Menschen, die mit Information arbeiten, scheinen daher einen besonderen Status zu genießen?

Robert Feustel: Irgendwie arbeiten ja alle beständig nur mit Informationen. Das ist ja das Drama dieses ganzen Diskurses: Es gibt kein Anderes der Information. Aber ja, Informationen gelten irgendwie als umstandslos objektiv, als neutral und sauber. Sie werden als vor jeder Deutung oder politischen Färbung wahrgenommen. Das stimmt aber nicht.

"Informationstheoretisch ist ein Gerücht auch eine Information"

Ist der Umgang mit Information also immer als positiv zu werten? Whistleblower zeigen hingegen, dass Information nicht entkontextualisiert ist. Dass es auch auf den Inhalt ankommt.

Robert Feustel: Ich würde sagen, dass es immer und ausschließlich auf den Inhalt und den Kontext ankommt. Daten ohne Kontext bedeuten buchstäblich nichts. Und am Begriff Information hängt die falsche Vorstellung, sie seien einfach so und objektiv da, ohne deutendes Subjekt und ohne Kontext.

An die Stelle von Fakten rücken Informationen, die ihren Ursprung in einer Art Hyperrealität haben, wie Sie schreiben. Welche Auswirkungen hat das auf die Berichterstattung in der Presse zum Beispiel?

Robert Feustel: Das ist ein Riesenproblem, das die politische Landschaft verändert. Informationstheoretisch ist ein Gerücht auch eine Information. Donald Trump etwa twittert jeden Tag Dinge, die sich als haltloses Gerücht oder glatte Lüge erweisen. Im Kontext massenmedialer Zirkulation sind es dennoch zunächst Informationen, die im Moment ihrer Verbreitung einen Machteffekt auslösen (mindestens bei seiner Basis).

Haben Sie ein Beispiel?

Robert Feustel: Man konnte das gut sehen, als er behauptete, es gäbe ein Handelsabkommen mit China. Die Börsen reagierten unmittelbar auf diese Information. Als sich der Tweet als haltloses Gerücht entpuppte, stürzte der Dow Jones ab. Und bis eine solche Information geprüft und als Lüge überführt werden kann, vergeht Zeit, und das mediale Spektakel ist bereits in eine neue Runde eingetreten. So kommen dann "alternative Fakten" ins Spiel. Sie stimmen zwar nicht, beeinflussen als Informationen aber dennoch das politische Geschehen.

Der Unterschied zwischen geprüften Tatsachen und "alternativen Fakten", zwischen News und Fake News wird im allgemeinen Maß zirkulierender Informationen aufgehoben. Das führt zu endlosen Fiktionalisierungen, die es ermöglichen, dass die Leute an das glauben können, woran sie glauben wollen.

Dies hat wiederum reale politische Folgen. Wenn ich an den Fake illegaler Masseneinwanderung glaube, wird das meinen Wirklichkeitsbezug ändern. Der Begriff hyperreal meint gerade diese komplexen Verwicklungen von Wirklichkeit und Fiktion, die sich gegenseitig beeinflussen.

Die Digitalisierung als Religion zielt auf die "Entstofflichung" ab, aber jede Religion braucht auch ihre Tempel. Wo sammeln sich die Gläubigen bei dieser Religion?

Robert Feustel: Ganz so wörtlich würde ich das mit der Religion nicht nehmen. Außerdem gibt es ja den bekannten Unterschied zwischen religiösen Institutionen und dem Glauben. Ich kann glauben, ohne etwa einer Kirche anzugehören. Es geht mir eher darum, dass vermeintlich technisch-neutrales, sachliches Wissen in gewisser Weise unbemerkt religiöse Konturen bekommen hat, weil es sich anmaßt, alles erklären zu können. Aber, wenn Sie so wollen, die Produktpräsentationen von Apple sind ziemlich offenkundig Prozessionen und das Gerät ist eine Art Sakrament.

Stichwort Religion: Ken Wilber schreibt in seinem Roman "Boomeritis": "Der Quantensprung von Kohlenstoff zu Silizium würde schließlich zum wahren Himmel auf Erden führen. The Pearly Gates of Cyberspace versprach ein Buch. Tech-Gnosis hieß ein anderes. CyberGrace offerierte sogar noch mehr." (S. 15) Die Buchtitel sprechen Bände von einer durch Technologie vermittelten religiösen Erweckung. Gnosis spricht als Begriff ein gewisses Erkenntnismoment an, ein ketzerisches auch. Gibt es im "Rechnermessianismus" (Dietmar Dath) auch Häresie?

Robert Feustel: Der Netzaktivist und Autor Evgeny Morozov etwa bezeichnet sich selbst als Häretiker, also ja, in gewisser Weise schon. Es ist allerdings Vorsicht angezeigt, weil Häresie ein starkes Wort ist. Kritik scheint mir passender, schließlich ist Digitalisierung keine religiöse Institution, sondern hat "nur" bisweilen religiöse Konturen.

"Was funktioniert, gilt meist als richtig"

Robotik und Künstliche Intelligenz tauchen heute vermehrt als Thema auf. Roboter drängen zunehmend in den Alltag. Wurde dies durch die metaphysische Überhöhung von Information vorbereitet?

Robert Feustel: Roboter, etwa in Fabriken, sind Tatsache, für solche Dinge braucht es die metaphysische Überhöhung nicht. Das sieht bei Künstlicher Intelligenz ganz anders aus. Zwei Bedingungen sind wichtig, um überhaupt von KI und ihrer praktischen Umsetzung reden zu können. Einerseits muss die menschliche Intelligenz sich selbst restlos verstanden und vermessen haben, um ernsthaft annehmen zu können, dass sie sich adäquat nachbilden kann. Schon das darf bezweifelt werden. Andererseits müssten Rechenmaschinen ein genaues Abbild menschlicher Intelligenz sein, damit das eine das andere nachbildet.

Das sind zwei sehr großspurige Annahmen. Tatsächlich sind wohl eher zwei andere Prozesse zu beobachten: Die Komplexität des menschlichen Denkens und Fühlens wird zum bloßen Prozessieren umgedeutet und verliert vermeintlich (also nur im Wissen der Zeit) ihre Rätselhaftigkeit. Und wenn Maschinen anfangen, die Parameter ihrer Berechnungen selbstständig anzupassen und umzubauen, entsteht womöglich etwas Eigenes, etwas schwer Greifbares. Was das dann mit Intelligenz zu tun hat, wäre eine offene Frage.

Wenn die Informationstechnologie übernimmt, so vermuten Sie eine Ausrichtung auf die Steuerungsprozesse, ohne ethische Perspektive?

Robert Feustel: Ja. Der ethische Grund der Dinge wird heute oft über das Verfahren selbst abgebildet. Was funktioniert, gilt meist als richtig. Wir erleben das hautnah in der Politik: Was eine Mehrheit will, muss irgendwie richtig sein. Demokratie verkommt dann zum arithmetischen Spiel von Zustimmung und Ablehnung, ohne ethische Reflexion. Allenthalben dominieren Bewertungsverfahren (etwa 5 von 5 Sternen), die über Masse abbilden sollen, was gut und richtig ist. Solche Feedback-Schleifen sind nicht per se böse oder falsch. Aber nur weil viele etwas gut finden, muss es das noch lange nicht sein. Das wohl plakativste Gegenbeispiel wäre der Nationalsozialismus. Da haben fast alle mit Begeisterung mitgemacht, und gut war daran nichts.

Könnte die Kybernetik nicht auch zu einer gerechten Regierungsform führen, die Informationen als wesentliche Mitteilungen über den Zustand vom Gemeinwesen versteht und entsprechend anpasst und korrigiert?

Robert Feustel: Die Hoffnung, dass kybernetisches Regieren gerechter sei und dass das Internet eine bessere Kontrolle von Regierungen ermöglicht, ist weder neu, noch völlig abwegig. Sie hat sich aber als Trugschluss erwiesen. Dafür gibt es mindestens drei Gründe:

1. Die wenn man so will digitale Vermessung der Welt hat ungeheure technokratische Kontrollmöglichkeiten hervorgebracht (Überwachungskameras, Gesundheitsdaten etc.), die von staatlichen Institutionen mittlerweile recht hemmungslos eingesetzt werden. "Make Orwell fiction again", heißt es nicht zufällig immer wieder.

2. Nur, weil wir mittlerweile wissen, was die NSA etwa drauf hat, heißt das noch nicht, dass sich etwas ändert. Dass das Internet vieles sichtbar macht, was vorher in Hinterzimmern beschlossen wurde, hat noch keine bessere oder gerechtere Welt zur Folge.

3. Das große Versprechen des Internets, also die Hoffnung auf mehr Beteiligung und Gerechtigkeit durch neue Kommunikationstechnologien und flache Hierarchien, wurde recht schnell durch rasant wachsende Konzerne zerschlagen. Wenige Big Player haben das Netz monopolisiert.

"Rechner prozessieren und rechnen nur. Menschen verstehen"

Wenn Informationen selbst denken, kann daraus schließlich eine Künstliche Intelligenz entstehen, die ohne menschliches Denken auskommt. Wie nah sind wir an einem solchen Zustand?

Robert Feustel: Wie gesagt, wenn Maschinen anfangen, die Parameter ihrer Berechnungen selbst anzupassen und wir die Verknüpfung von Inputs und Outputs nicht mehr nachvollziehen können, ist das spannend und gefährlich. Spannend, weil etwas Eigenes entsteht, dass man vielleicht als irgendwie intelligent deuten könnte. Menschlich oder dem Menschen gleich ist es deswegen noch nicht. Gefährlich wird es dann, wenn wir uns präventiv gewissermaßen auf solche undurchsichtigen Berechnungen einlassen und sie ohne Weiteres für wahr nehmen. Das passiert gerade im Kontext vorhersagender Polizeiarbeit oder wenn es darum geht, dass Algorithmen die Prognosen für Patienten erstellen. Schließlich sind wir vermutlich nicht so nah an einer menschenähnlichen Künstlichen Intelligenz dran, wie häufig angenommen.

Wieso?

Robert Feustel: Seit den späten 1940er Jahren gibt es Hochrechnungen, wie lange es noch dauern dürfte, bis die Rechenmaschinen tatsächlich intelligent sind, bis sie also den berühmten Turing-Test bestehen. Seither heißt es immer wieder: "In fünf bis zehn Jahren." Dieser Tage erleben wir eine neue Welle dieser Hoffnungen, weil Big Data die Hoffnung nährt, dass es nun endlich klappt. Aber, wie gesagt, Rechner prozessieren und rechnen nur. Menschen verstehen. Das ist ein substanzieller Unterschied.

Die letzten Seiten Ihres Essays erinnern mich etwas an das Novalis-Gedicht "Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren", eine romantische Hoffnung, dass die Rechenmaschinen noch nicht alle Teile der Welt ergriffen haben - so gehen Sie etwa auf Derridas Untersuchung des Wortes "vielleicht" ein, als Bastion gegen Absolutkalkulation. Oder auf die Unfähigkeit von Maschinen, Empathie zu fühlen und den Mehrsinn herauszufinden. Wie z.B. Data aus der Star Trek-Serie große Schwierigkeiten als Android hat, menschlichen Humor zu verstehen und selbst anzuwenden. Menschliche Souveränität wäre dann, Humor angesichts der Entwicklungen zu bewahren. Ist Widerstand gegen die Informationsreligion wichtig und wenn ja, speist er sich auch aus romantischen Motiven?

Robert Feustel: Wenn es als romantisch gilt, zwischen Gefühl, Intuition, Gerücht, Lüge und Wahrheit zu unterscheiden, dann unbedingt. Widerstand andererseits ist eine recht harte Vokabel. Gegen eine Ordnung des Wissens lässt sich kein unmittelbarer Widerstand leisten. Vielmehr geht es womöglich darum, auf Widersprüche und Unklarheiten hinzuweisen. Derridas "vielleicht" spielt so schön auf einen offenen Horizont einer unsicheren Zukunft an. Ein Wort, das gewissermaßen das Gegenteil des digitalen Blicks nach vorn darstellt, der immer schon berechnet zu haben glaubt, was kommt.

Kurz vor Schluss möchte ich das Gedicht dann doch noch zitieren:

"Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren/Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,/Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben/Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten/Zu ächter Klarheit werden gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten/Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort/Das ganze verkehrte Wesen fort."

Sie lokalisieren die Entwicklungen zur Informationsgesellschaft in der Kybernetik der 1950er und 1960er Jahre, die bereits in den 1940ern begann, aber geht der Ursprung noch weiter zurück, bis in die Texte der Romantik? Oberflächlich betrachtet scheinen die deutschen Romantiker technologieskeptisch, aber das "Eine geheime Wort", vor dem "Das ganze verkehrte Wesen fort[fliegt]", klingt schon sehr nach einem digitalen Codewort. Oder einer Superintelligenz.

Robert Feustel: Ja und nein. Die Romantik begehrt, vereinfacht gesagt, gegen eine Aufklärung auf, die - gewissermaßen analog zur Digitalisierung - glaubt, die Welt restlos erfassen zu können. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis das letzte Geheimnis gelüftet ist. Gerade diese Vorstellung ist der Romantik ein Grauen (und eine unlautere Überhöhung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit). Es gibt also tatsächlich Verbindungslinien, die sich genauer beschreiben ließen.

Welche Entwicklungen wird der Glaube an die Information noch bringen? Und falls es für den menschlichen Umgang untereinander schlechte Nachrichten sind, hilft es, den Stecker zu ziehen?

Robert Feustel: Gegenwärtig schwankt der digitale Blick nach vorn zwischen Utopie und Dystopie, was vor allem in Filmen und Serien erkennbar wird. Beide teilen allerdings die Annahme, dass die Digitalisierung buchstäblich alles ändert, zum Guten oder zum Schlechten. Dies resultiert, derbe zugespitzt, daher, dass fulminante technische Neuerungen gleichzeitig die Welt und den Menschen selbst gewissermaßen philosophisch erklären sollen.

Können Sie das noch ausführen?

Robert Feustel: Zwei Dinge sind für meine Begriffe wichtig: Einerseits sollten wir betonen, dass das menschliche Sein sich bei weitem nicht im Prozessieren von Informationen erschöpft. Und andererseits sollte uns klar sein, dass es nicht die Maschinen sind, die uns überwachen oder ausbeuten, sondern andere Menschen, die die Maschinen bedienen.

Robert Feustel studierte Politikwissenschaft und Geschichte an der Uni Leipzig. Beschäftigt sich mit politischer Theorie, Stadtsoziologie sowie Wissens- und Wissenschaftsgeschichte. Publizierte u.a. zu Themen wie Drogen und Rausch, LSD, Kybernetik und Derridas Dekonstruktion. Er war Mitherausgeber des Wörterbuchs des besorgten Bürgers und des Handbuchs Drogen aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive.