"An der Oberfläche eine sozialdemokratische Deutungshoheit"

Seite 2: Besuch bei der Uni Witten-Herdecke

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In Witten wurde ich von zwei Marketing/PR-Leuten sowie zwei Studierenden aus der "Studierenden Gesellschaft" empfangen. Es war eine gewisse Anspannung zu spüren, nachdem ich in meinem Artikel sehr unversöhnlich und klar gegen die Privatuni geschrieben hatte. Mein Artikel habe, gelinde gesagt, "Irritationen" ausgelöst, hieß es.

Man fragt, was mich denn überhaupt bewogen habe, den Artikel im Dezember zu schreiben. Man erscheint erstaunt zu sein darüber, dass jemand grundsätzlich in Opposition geht zur Existenz ihrer Universität und der Art und Weise ihrer Ausgestaltung. Ich erkläre den Artikel mit meinem Engagement gegen die Ökonomisierung aller Gesellschaftsbereiche und der Bildung - insbesondere der Hochschulbildung.

Sehr deutlich ist von Beginn an die extrem hohe Identifikation der Anwesenden mit der Hochschule und dem starken Widerspruch zu meiner Darstellung - wie er etwa im Dezember auch bereits im Forum exemplarisch geäußert worden ist.

Studiengebühren

Zunächst tut man sich im Gespräch schwer, mein Wort von den "Studiengebühren" anzuerkennen. An der Uni Witten-Herdecke spricht man lieber vom "Umgekehrten Generationenvertrag", wohl eine Erfindung der Wittener Studierenden selber. Interessanterweise decken die Studiengebühren nur einen kleineren Teil der Gesamtkosten der Universität ab. Man spricht von etwa 25%.

Die nachgelagerten Studiengebühren der Uni Witten-Herdecke verkauft man unter dem Slogan "Frei studieren, frei finanzieren". Dass individuell zu zahlende Gebühren, fallen sie nun während oder nach dem Studium an, die Freiheit einschränken, möchte man hier nicht so sehen. Auch das Wort Kredit lehnt man vehement ab, da man beim nachgelagerten Modell ja nicht zahlen müsse, wenn man eine bestimmte Gehaltsgrenze unterschreite.

Die liegt bei einem "maßgeblichen Einkommen" von 21.000 Jahresbrutto, was real laut Uni Witten-Herdecke etwa 30.000 Euro brutto entspricht. Kaum ein Absolvent dürfte darunter liegen. Man findet, die nachträgliche Zahlung habe keinerlei Einfluss auf die Wahl des Studienfaches - und habe auch keinerlei abschreckende Wirkung.

Die zu zahlenden 14% des Einkommens über einen Zeitraum von 10 Jahren (und bis 25 Jahre, wenn man zwischenzeitlich nicht genug verdient und daher befreit ist, bis also die 10 Gehaltsjahre voll gezahlt wurden) sind aus meiner Sicht kein so kleiner Anteil des Lohns, gerade wenn man eine Familie hat und obendrein Alleinverdiener ist.

Bei Vielverdienern kommen bei einem Anteil von 14% dann in der Summe natürlich noch höhere Studiengebühren zusammen. Die Studiengebühren für die Sofortzahlung orientieren sich am jeweiligen Durchschnitt derjenigen ehemaligen Studierenden, die nachträglich zahlen.

Nachträglich sind derzeit 14% des Nettogehalts zu entrichten, was für die Sofortzahler wiederum auf die Semester hochgerechnet wird. Das Verhältnis von Direktzahlern und nachgelagerten Zahlern betrage etwa 50-50.

Mein Einwand, die wohlhabenden Eltern würden bei Direktzahlung wohl einspringen, wird abgelehnt. Eine Direktzahlung sei möglich, etwa, wenn man mehrere lukrative Nebenjobs und mehrere Stipendien habe. Ob das die Regel ist, darf aber wohl bezweifelt werden. Es handelt sich um monatliche Kosten bei der Direktzahlung immerhin in Höhe von ca. 464 bis 1.100 Euro.

Für mich wäre das als Student, ohne BAföG und aus der recht abgesicherten Mittelschicht stammend, nicht finanzierbar gewesen. Zum Anteil von BAföG-Empfängern kann man mir im Gespräch nichts sagen, weshalb ich auch nicht überprüfen kann, ob die behauptete soziale Durchmischung der Studierendenschaft etwas mit der Realität zu tun hat. Ich habe Zweifel daran.

Trotz der generellen Skepsis gegenüber Studiengebühren, die man auch auf Seiten der Uni Witten-Herdecke nachvollziehen könne, ist man sich nicht zu schade, ein Zitat von Karl Marx hervorzukramen. Dieser notierte 1875 in seiner Kritik am sog. Gothaer Programm der SPD:

Wenn in einigen Staaten höhere Unterrichtsanstalten unentgeltlich sind, so heißt das faktisch nur, den höheren Klassen ihre Erziehungskosten aus dem allgemeinen Steuersäckel zu bestreiten.

Karl Marx

Was man nicht zitiert, ist der nächste Absatz von Marx:

Nebenbei gilt dasselbe von der unter A.5 verlangten "unentgeltlichen Rechtspflege". Die Kriminaljustiz ist überall unentgeltlich zu haben; die Ziviljustiz dreht sich fast nur um Eigentumskonflikte, berührt also fast nur die besitzenden Klassen. Sollen sie auf Kosten des Volkssäckels ihre Prozesse führen?

Karl Marx

Man sollte diese Zitate nicht nur oberflächlich hervorholen, sondern versuchen, den Kontext zu verstehen. Die Sätze aus dem Zusammenhang gerissen 150 Jahre später in eine Diskussion in einer anderen Gesellschaft einzuwerfen, reicht nicht aus. Es ging Marx bei seiner Kritik offenbar darum, eine Gesellschaft zu kritisieren, in der ohnehin nur die Eliten studieren konnten.

Nun ist Deutschland von 1875 wenig gut vergleichbar mit dem Deutschland von heute und sowohl soziale Schichten als auch soziale Milieus sind andere als damals. Heute steht bei mittlerer bis höherer intellektueller Fähigkeit praktisch jedem Menschen in der Gesellschaft die höhere Bildung offen.

Das bedeutet, dass Studiengebühren eben gerade aus dem "Volkssäckel" bezahlt werden müssen, damit auch ärmere Menschen oder Kinder von ärmeren Menschen kostenfrei und ohne finanzielle Hürden studieren können. Und überhaupt - beim Bau einer Straße fragt ja auch keiner, wieso sie von den Auto- oder Fahrradlosen mitfinanziert wird.

Das Hervorheben dieses Marx-Zitats ist eine fadenscheinige Argumentationsweise, ganz nach dem Motto, wenn ein Linker etwas sagt, müssen andere Linke ihm 150 Jahre später zustimmen. Die Argumente für Studiengebühren wurden im 21. Jahrhundert auch schon vielfach widerlegt und die Politik ist durch die Wiederabschaffung der Studiengebühren diesen Argumenten gefolgt (wenn auch nur widerwillig und zum Zwecke der eigenen Wiederwahl).

Übrigens hatte schon die Tageszeitung Taz bereits 2012 in einem Artikel das Zitat von Marx hervorgekramt, um Studiengebühren zu legitimieren und als "emanzipatorisches Projekt" zu verklären. Da hatte man wehgeklagt: "Nun überlegt auch Bayern, die Studiengebühren abzuschaffen. Das wäre der Abschied von einem emanzipatorischen Projekt" und "der wahre Grund aber, warum Akademiker das Bezahlstudium bekämpfen, ist sehr einfach: Jeder ist sich selbst der Nächste".

Also glaubt die Taz offenbar an den Menschen als Homo Ökonomikus. Der Tiefpunkt des Taz-Artikels war der folgende abstruse Absatz:

Das Mantra der Allgemeinen Studentenausschüsse, das in etwa "Studium für alle" lautet, ist nichts anderes als Propagandaschwindel. Studentenvertreter betätigen sich als Lobbyisten ihrer Klasseninteressen [...]. Asta-Fritzen kämpfen im Che-Guevara-T-Shirt für ein vermeintlich kostenloses Studium. In Wahrheit aber sind sie die Vorhut reicher Ärzte-, Anwälte- und Redakteurskinder, die Papis Kohle weiter in Skiurlaube statt in die Campus-Maut stecken wollen.

Taz

Diese Argumente für Studiengebühren, die heuchlerisch gesellschaftliche Gerechtigkeit fordern, sind schwach, da wir in Deutschland über progressive Steuersätze verfügen. Das bedeutet, Akademiker, die später viel verdienen, zahlen auch mehr Steuern (und Akademiker wie auch Arbeiter oder prekäre Dienstleister, die wenig verdienen, zahlen wenig Steuern).

Die gefährliche ökonomische Logik, die Studierenden mit Studiengebühren aufgezwungen wird, bleibt unerwähnt. Eine Logik, welche die Beschleunigung des Studiums bei Direktzahlung zur Folge hat oder die Wahl des Studiengangs entsprechend der Verwertungsmöglichkeiten des eigenen "Humankapitals" auf dem Arbeitsmarkt trifft. Das alles steht im Widerspruch zur kritischen und umfänglichen Auseinandersetzung mit Inhalten und einem Studium, das im Humboldschen Sinne der Entfaltung der individuellen Persönlichkeit dient.

Laut Darstellung der Uni Witten-Herdecke wurden die seit 1995 bestehenden Studiengebühren als eine Bedingung des Landes Nordrhein-Westfalen für die weitere staatliche Förderung eingeführt. Damals noch unter der SPD und Johannes Rau als Ministerpräsidenten, in Koalition mit den Grünen. Heute ist man in Witten stolz auf die angeblich "sozialverträgliche Finanzierung".

Die Studierenden Gesellschaft, die die Studiengebühren eintreibt, holt sich das nötige Kapital für die nachgelagerten Studiengebühren übrigens über eine Anleihe rein. Man spricht von einer "einmaligen Möglichkeit zum 'Mission Investing' im deutschen Bildungswesen". Was ist Mission Investing?

Es sind Geldanlagen gemeint, bei denen der Anleger neben dem Wunsch nach Rendite auch zusätzliche, weltanschauliche Ziele verfolgt. Es geht also um ideologische Ziele in Bezug den Umbau der Hochschullandschaft. Studiengebühren werden damit quasi als ethische Geldanlage an der Börse Düsseldorf verkauft. Man wirbt: "Durch ein Investment in die Anleihe werden finanzielle 'Bildungshürden' abgebaut und sozialer Selektion entgegengewirkt."

Man setze sich mit seinem Investment somit für "Chancengerechtigkeit" ein.

Also damit wir das mal klar haben: Die staatlichen Hochschulen kosten kein Geld, aber die Uni Witten-Herdecke hat direkte oder nachgelagerte Studiengebühren. Wie soll das sozialer Selektion entgegenwirken?

Studentische Initiativen und die "Studierenden Gesellschaft"

Wie ich bereits im Artikel aus dem Dezember angemerkt habe, gibt es keinerlei studentische Initiativen an der Uni Witten-Herdecke gegen die Ökonomisierung der Bildung und den Einfluss der Wirtschaft. Und vor allem keinerlei Initiativen gegen den Bertelsmann-Einfluss in Form einer eigenen Professur, seinen Mitarbeitern und mehreren Honorarprofessoren.

Alleine schon die Tatsache, dass die Uni zentral die Initiativen in einem Diagramm mit dem Logo der Uni darunter darstellt, zeigt, wie einträchtig Uni und Studierende sich sehen. Hashtags wie #dieweltverändern klingen gut und bedeutend, bleiben aber Worthülsen, wenn es bei vielen Initiativen offenbar primär darum geht, sich mit einem lukrativen Job in die Wirtschaft "einzuheiraten".

Es geht häufig wohl auch um mehr Softskill-Training als darum, die Gesellschaft ihn ihren Grundfesten zu erschüttern. Es dominieren wenig politische Initiativen wie "Englandprojekt" oder "Gründergeist Witten", "WirTanzen", "Music Club" oder "Medical Exchange Program Master".

Auch politische Initiativen wie die Amnesty-International-Gruppe haben nichts mit kontroverser Hochschulpolitik zu tun und so kann es kaum fundamentale und systembezogene Aushandlungsprozesse zwischen Interessengruppen über Richtungsentscheidungen an der Uni Witten-Herdecke geben. Vorherrschend scheint eher eine Art irreal erscheinende Übereinstimmung zwischen Universität, Studierenden, Bertelsmann-Leuten, Familienunternehmern und Professoren zu sein.

Die Erhebung und Eintreibung der Studiengebühren an der Uni Witten-Herdecke liegen in der Hand der studentischen Studierenden Gesellschaft (SG). Die Studierenden Gesellschaft ist ein als gemeinnützig eingetragener Verein, der 1995 von Studierenden gegründet wurde. Stolz heißt es auf der Internetseite: "Die Studierenden der UW/H verwalten ihre Studienbeiträge eigenverantwortlich."

Im Prinzip ist die SG ein Unternehmen innerhalb der Universität. Aus Sicht der Uni Witten-Herdecke ist die Existenz der Studierenden Gesellschaft natürlich ein intelligentes Design; wenn man also die Verantwortung für die Zahlung von Studiengebühren nicht nur auf die einzelnen Studierenden abwälzt, sondern auch noch die gesamte Organisation der Einnahme von Studiengebühren.

So schafft man offenbar erfolgreich Identifikation mit dem ökonomischen System der Finanzierung. Sogar Bemühungen, die Studiengebührenmodelle weiterzuentwickeln, gehen von studentischer Seite aus.

Die Vorstände und das "Team" der Studierendengesellschaft sind natürlich bestens vernetzt in die Wirtschaft und haben bereits mehrere Jobs neben ihrer Tätigkeit für die SG, was der Selbstdarstellung zu entnehmen ist.

Es gibt neben der Studierenden Gesellschaft auch eine Studierendenvertretung entsprechend einem AStA an staatlichen Hochschulen. Aber wenn man nach der im Internet sucht, ist sie im Gegensatz zur Studierenden Gesellschaft kaum sichtbar. Die Internetseite des "Studierendenrats" ist zwar auf der Seite der Uni Witten-Herdecke verlinkt, aber nicht einmal für die Öffentlichkeit einsehbar.

Politische Listen bei Wahlen der Studierendenvertretung gibt es auch nicht und so ist es kein Wunder, dass, obwohl die Studiengebühren seit der Einführung an der Uni WH regelmäßig erhöht wurden, dies ohne von außen sichtbaren Protest vonseiten der Studierenden ablief. Undenkbar an großstädtischen Universitäten in Deutschland.