An der nationalreligiösen Kette

Mit dem Rücken zur Wand stehend will Israels Premierminister Ariel Scharon trotz des heftigen Widerstandes der Siedler und der Rechten gegen seinen Trennungsplan weiter machen wie bisher

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Die Behörde ist gegründet, die Pläne für die Entschädigungszahlungen fertig: Auf Hochdruck arbeitet Israels Verwaltung an der Räumung von 21 Siedlungen im Gazastreifen und vier weiteren im nördlichen Westjordanland. Doch Israels Rechte ist fest entschlossen, dies nicht ohne Gegenwehr hinzunehmen, und lässt ihre Muskeln spielen: Am Sonntag bildeten mehr als 100.000 Menschen eine Kette von Jerusalem nach Gaza, bevor sich am gleichen Abend 1.000 Likud-Mitglieder zu einer Protestveranstaltung trafen - unter ihnen auch fast die Hälfte der Parlamentsfraktion. So aufgeheizt ist die Stimmung mittlerweile, dass Sicherheitsexperten befürchten, die Extremisten im rechten Lager könnten zur Gewalt greifen, wenn Scharon seinen Plan nicht aufgibt.

Tischa B'Aw ist ein Fastentag, der von den meisten Israelis normalerweise nur als Ärgernis wahrgenommen wird: Restaurants, Kneipen, Kinos müssen per Gesetz geschlossen bleiben, während der Rest des öffentlichen Lebens wie gewohnt weiter geht. Die Stimmung wird meist von einer Mischung aus Desinteresse und desperater Langeweile geprägt.

Dass dieser Tag, an dem religiöse Juden Katastrophen und Verfolgungen gedenken, in diesem Jahr auch von der säkularen Öffentlichkeit mit gespannter Erwartung erlebt wurde, ist ein Ergebnis des Trennungsplanes, den Israels Regierungschef Ariel Scharon forciert. Im Laufe der monatelangen Debatte über die geplanten Siedlungsräumungen haben die rechten Gegner Gaza zu einem integralen Bestandteil Israels und die Räumung zu einer Vertreibung von ureigenstem jüdischen Land hochdiskutiert. Irgendwann ist daraus ein aufkommender Holocaust geworden, haben die ersten nationalreligiösen Rabbiner entschieden, dass es die Pflicht eines jeden Juden ist, dies zu verhindern, und damit bei Politikern und Sicherheitsorganen die Befürchtung geweckt, einige der Abzugsgegner könnten die Argumentationskette weiter führen - bis zu jenem Punkt, an dem man zur Waffe greift. Im Glauben, es sei erlaubt, wenn man damit Schlimmeres verhindert - wie im November 1995, als der religiöse Jigal Amir den damaligen Premierminister Jitzhak Rabin tötete, weil er den Truppenabzug aus den palästinensischen Gebieten genehmigt hatte.

"Wir haben die Menschen, wir haben die Logistik, wir haben die Wahrheit auf unserer Seite"

So war die Atmosphäre gespannt, als die religiösen Juden am Dienstag zu Zehntausenden an die Klagemauer zogen, um dort den Tischa B'Aw des Jahres 5764 zu begehen. Aus Furcht, jüdische Extremisten könnten den Tag dazu nutzen, einen ebenso symbolträchtigen wie blutigen Punkt zu machen, hatte die Regierung rund um den Tempelberg mehrere Tausend Soldaten und Polizisten aufmarschieren lassen, die dem Geschehen einen unwirklichen Charakter verliehen. Als die Menschen an der Mauer ihre Gebete sprachen, ersetzte oft Wut die stille Trauer, die sonst diesen Tag dominiert. Die Bitte um Bewahrung vor einer nahenden Katastrophe wurde dabei auch von Angehörigen ultra-orthodoxer Sekten geäußert, die das Konzept eines jüdischen Staates ablehnen: Das religiöse Verbot der Aufgabe von Land ist universal. Und hat, heute, die sonst stark zersplitterten und oft verfeindeten orthodoxen Strömungen des Judentums vereint.

Doch die Organisatoren des Widerstandes brauchen mehr als dies - um Erfolg zu haben, benötigen sie auch die Unterstützung möglichst vieler säkularer Israelis. Hart arbeitet der Siedlerrat Jescha deshalb daran, Brücken zur israelischen Gesellschaft zu bauen, in der die Siedler oft als eine Minderheit gesehen werden, die viele Forderungen stellt und wenig beiträgt.

So schuf Jescha am Sonntag in einer organisatorischen Meisterleistung eine rund 90 Kilometer lange Menschenkette vom Tempelberg in Jerusalem bis hin zum Siedlungsblock Gusch Katif im Gazastreifen, nahezu lückenlos gebildet von mehr als 100.000 konservativen und rechten Israelis, die, vereint in ihrer Ablehnung der geplanten Räumung Gazas, um Punkt 19 Uhr die Nationalhymne HaTikwah (Die Hoffnung) sangen.

"Wir haben die Menschen, wir haben die Logistik, wir haben die Wahrheit auf unserer Seite: Gaza ist ebenso Teil der Nation wie Jerusalem", sagte der Jescha-Vorsitzende Bentzi Liberman und vermied in seiner Äußerung jene hebräischen Worte für Wahrheit und Nation, die eine religiöse oder nationalistische Konnotation beinhalten. Aus gutem Grund, sagt Uri Glickman von der Zeitung Ma'ariv:

Diese Aktion war mehr an die Bevölkerung als an die Adresse der Regierung gerichtet. Bislang ist die Front der Ablehnung nahezu vollständig auf die Rechte beschränkt. Um dauerhaft tragfähig zu sein, muss daraus eine echte Volksbewegung werden.

Denkbar sei das durchaus: Als Israels konservativer Premier Menachem Begin Ende der 70er Jahre einer Rückgabe der Sinai-Halbinsel an Ägypten zustimmte, hatten auch viele Sozialdemokraten diesen Schritt abgelehnt.

Die Entstehung der nationalreligiösen Politik

Doch damals war die Ausgangssituation eine Andere gewesen: Begin, der 1977 als erster Konservativer in der Geschichte des Staates Regierungschef wurde, war ein glühender Anhänger der Idee Groß-Israels, das auf der Grundlage eines Vorschlags, den der Zionistische Weltkongress 1918 der britischen Mandatsmacht unterbreitet hatte, neben dem heutigen israelischen Staatsgebiet, der Westbank und dem Gazastreifen auch fast genau die Hälfte von Jordanien, sowie Teile von Syrien und des Libanon umfassen sollte. Diese Vorlage beruhte wohlgemerkt allein auf wirtschaftlichen Motiven - die Grenzen des Heiligen Landes im biblischen Sinne sind bis heute weitgehend unbekannt.

Sicher ist aber, dass in keinem von beiden Gebieten der Sinai enthalten ist, den Israel seit 1956 besetzt hielt. Die Aufgabe der Halbinsel bereitete also weder Begin noch den meisten Rechten großes Kopfzerbrechen. Widerstand auf dieser Seite des politischen Spektrums gab es nur von jenen Israelis, die in der Siedlung Jamit im Nordosten des Sinai lebten - und auch der war schnell gebrochen: Ariel Scharon, damals Verteidigungsminister, ließ kurzerhand die Synagoge der Ortschaft sprengen. Bei der Arbeiterpartei wurde damals hingegen kritisiert, der bis dahin als enfant terrible der israelischen Politik bekannte Begin setze in seinem Streben, als Staatsmann anerkannt zu werden, die Sicherheit des Staates aufs Spiel.

Gaza hingegen ist für die Rechte mit Sicherheit Teil Groß-Israels und war wahrscheinlich zumindest teilweise Bestandteil des Heiligen Landes. Der Likud-Block hatte zwar schon kurz nach seiner Gründung 1973 das Konzept Groß-Israel, das in der Gesellschaft nie Konsens war, aus seiner Plattform gestrichen, etablierte sich aber damals bei einer breiten Wählerschaft schnell als Hüter des im Sechs Tage-Krieg geschaffenen Status Quo, während sich, ursprünglich gefördert von der regierenden Arbeiterpartei, die Siedlerbewegung formierte und ihren eigenen ideologischen Unterbau formulierte.

Ihre politische Heimat fanden die Siedler in der Nationalreligiösen Partei, die Jahrzehnte lang treuer Koalitionspartner der Sozialdemokraten war, bis es 1976 zum Bruch über eine Affäre kam, die bis heute als "Schlaues Unternehmen" bekannt ist: Jitzhak Rabin, der damals zum ersten Mal Regierungschef war, hatte am Samstag eine Lieferung amerikanischer Kampfflugzeuge in Empfang genommen und der NRP auf ihren Protest gegen die Verletzung der Schabbat-Ruhe geantwortet, sie könne hingehen, "wo der Pfeffer wächst". Das tat die Partei dann auch, half dem Likud 1977 an die Macht und sorgte dafür, dass er dort bis 1991 blieb. Durch diese Symbiose erhielt das Streben nach Bewahrung des Status Quo einen nationalreligiösen Unterbau, der recht schnell darin resultierte, dass sich die Grenzen von Groß-Israel und die des heiligen Landes im Denken der Rechten zu decken begannen.

Dies hatte auch Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Siedlerbewegung: Viele derjenigen, die einst nach Gaza oder in die Westbank gezogen waren, um dort mit ihren meist strategisch günstig platzierten Siedlungen für Sicherheit im Kernland zu sorgen, begannen, angespornt durch den Zuzug religiöser Fanatiker, ihre eigene Rolle umzudefinieren: Aus der Fremde wurde Heimat, aus der zeitweiligen Anwesenheit in besetztem Gebiet die ewige Präsenz im Stammland.

In der Politik begann derweil in den 70er Jahren eine Phase der Zersplitterung, die bis heute andauert: In die Knesseth zogen immer mehr Fraktionen mit immer weniger Sitzen ein und machten die Volksparteien, die sich meist auf eine nur knappe Mehrheit stützen konnten, abhängig von den Forderungen ihrer oft nur ein oder zwei Sitze starken Koalitionspartner. Seit 1977 gab es kaum eine Regierung, an der nicht zumindest eine rechte oder religiöse Fraktion beteiligt war. Premierminister, die Land aufgaben, scheiterten meist früher als später: Benjamin Netanjahu (Likud), der dem Truppenabzug aus Hebron zugestimmt hatte, musste 1999 seinen Sitz vorzeitig räumen; Ehud Barak (Arbeiterpartei), der den Palästinensern bis dahin ungekannte Zugeständnisse gemacht hatte, trat Ende 2000 zurück, nachdem er fast sechs Monate lang ohne feste Mehrheit regiert hatte.

Scharon in Nöten

Auch Regierungschef Ariel Scharon weht der Wind mit voller Kraft ins Gesicht: Kaum hatte sich die Menschenkette am Sonntag aufgelöst, trafen sich im Konferenzraum eines Jerusalemer Hotels 1.000 Likud-Mitglieder, um ihre Ablehnung von Trennungsplan und Regierungseintritt der Arbeiterpartei, über den Scharon gerade verhandelt, auszudrücken - auf Einladung von Außenminister Silvan Schalom, der auch gleich zwei seiner Ministerkollegen und 15 Abgeordnete, also insgesamt fast die Hälfte der 40 Abgeordnete starken Parlamentsfraktion, mitgebracht hatte: "Wir müssen den Likud retten, indem wir seine Grundlagen, seinen traditionellen Weg bewahren", rief Schalom in Anspielung auf die traditionelle Likud-Rolle als Hüter des Status Quo.

Der Premierminister selber gab sich jedoch am späten Sonntag Abend unbeeindruckt: "Ich werde weiterhin an der Umsetzung des Trennungsplanes arbeiten, weil es klar ist, dass Israel seine Präsenz in Gaza nicht auf Dauer aufrecht erhalten kann", sagt er vor Armeeoffizieren. Es gebe keinen einzigen tragfähigen politischen Plan, der vorsieht, die Kontrolle über alle palästinensischen Gebiete zu behalten:

Alles was meine Regierung bisher erreicht hat, ist ein Ergebnis meines Planes.

Dennoch hat die Likud-Versammlung direkte Auswirkungen auf Scharons politische Optionen. Nachdem der Premierminister seinen Trennungsplan nur durch das Kabinett hatte boxen können, indem er seine rechten Koalitionspartner aus der Regierung warf, muss er nun nach einer neuen Mehrheit suchen. Am Liebsten wäre dem Regierungschef eine Große Koalition aus Likud, Arbeiterpartei und der liberalen Schinui. Doch wegen der Likud-Abweichler würden Scharon dann immer noch vier Stimmen zur Mehrheit fehlen. Ähnlich sähe es aus, wenn Arbeiterpartei und die religiöse Schas-Fraktion am Kabinettstisch Platz nähmen: Schinui würde dann dauerhaft den Raum verlassen und die 18 Likud-Abgeordneten dem Regierungschef immer noch die Gefolgschaft versagen.

Scharon lässt aber keinen Zweifel daran: Ganz gleich ob mit oder ohne feste Mehrheit - freiwillig wird er seinen Stuhl nicht räumen, jedenfalls nicht, bis Gaza geräumt ist. Was den Trennungsplan betrifft, ist ihm eine Mehrheit im Parlament sicher: Die arabischen Parteien und die Linksfraktionen werden dafür stimmen, wenn der Plan der Knesseth voraussichtlich im Oktober zur Ratifizierung vorgelegt werden wird. Dass seine eigene Partei vor der Spaltung steht, scheint dem Regierungschef dabei ziemlich egal zu sein.

Scharon, ein ehemaliger General, war einst Berater für Sicherheitsfragen der ersten Rabin-Regierung, bevor er 1976 in den Likud wechselte - zusammen übrigens mit dem ehemaligen Präsidenten Eser Weizman, der allerdings nur zwei Jahre später reumütig zur Arbeiterpartei zurück kehrte. Dem Premier wird innerhalb und außerhalb seiner Partei nachgesagt, er teile kaum einen Wert oder eine Vision des Likud und habe sich ihm nur wegen dessen sicherheitspolitischer Haltung angeschlossen; er selber hält sich in dieser Frage bedeckt. Möglich sei das aber durchaus, sagt Dr. Colin Shindler, Experte für die israelische Rechte an der School of Oriental and African Studies in London:

Scharon sieht sich selber nach wie vor als Generalstabschef; seine Politik ist von militärischem Denken geprägt. So stützte er zuerst als Militär, später als Politiker, die Besatzungs- und Siedlungspolitik, solange er von ihrem strategischen Nutzen überzeugt war, und schreckte Anfang der 80er Jahre auch nicht davor zurück, einen aberwitzigen Plan zu entwerfen, der die Einsetzung einer Marionettenregierung im Libanon und die Besetzung von Teilen Syriens und Jordaniens vorsah.

Ebenso skrupellos, aber dafür bisher unblutig, setze er nun seinen Trennungsplan um - "weil er zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Besetzung des Gazastreifens keine Sicherheit schafft, sondern im Gegenteil Unsicherheit erzeugt."

Nach Ansicht des Politologen Jonathan Levine, der sich mit der Siedlerbewegung befasst, wurde diese von dieser Entwicklung ebenso überrascht wie seine eigene Partei: Scharon, dem nach den Massakern in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila Anfang der 80er Jahre untersagt wurde, jemals wieder das Amt des Verteidigungsminister auszuüben, habe als Hardliner und sicherer Kantonist in Siedlungsfragen gegolten: "Viele fühlen sich deshalb verraten."

Mit der Erkenntnis, dass Scharon nicht nur nicht aufgehalten werden kann, sondern dass die Pläne für die Räumung nun konkrete Gestalt annehmen, scheint auch die Gewaltbereitschaft zu steigen. "Bis zu 200 Juden", berichtete Avi Dichter, der Direktor des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth, vor zwei Wochen einem Knesseth-Ausschuss, erwarteten "aktiv den Tod des Premierministers". In der vergangenen Woche legte Dichter noch einmal nach: Es gebe Hinweise darauf, dass Extremisten ein Flugzeug über dem Tempelberg abstürzen lassen wollen, um so den Trennungsplan ein für alle Mal aus dem Weg zu schaffen - Äußerungen, die der Siedlerrat Jescha als "billigen Versuch, die Räumungsgegner zu diskreditieren", bezeichnete.

Dennoch gab es bereits erste Übergriffe: In der vergangenen Woche wurde in Jerusalem ein Rabbiner angegriffen, der die Räumung gut geheißen hatte. Der Leiter einer neugeschaffenen Behörde, die die Umsetzung des Planes in geordnete Bahnen lenken soll, bekam seit seiner Ernennung Dutzende Todesdrohungen.

Doch nicht alle Siedler sind über die bevorstehende Räumung unglücklich: Nach offiziellen Angaben haben sich bereits an die hundert Familien nach den Modalitäten für die Entschädigungszahlungen und alternativen Wohnmöglichkeiten im Kernland erkundigt. Rund zwei Dutzend hätten sich bereits fest dafür angemeldet.