An einem einsamen Ort: Der American Dream zwischen Humphrey Bogart und Donald Trump
Seite 5: Lesen oder Vorlesen?
Der Abend im "Paul’s" endet mit einem zweideutigen Angebot. Erst setzt sich Fran zu Dix an seinen Tisch. Der Autor und die Schauspielerin hatten früher ein Verhältnis, das Fran gern auffrischen würde. Dix lehnt mit der Begründung ab, dass er ein Buch lesen muss. "Weißt du noch, wie ich dir vorgelesen habe?", fragt Fran. "Ja doch", antwortet Dix. "Seit damals habe ich gelernt, wie man selber liest." Fran hat verstanden und geht weg. Das ist ein typischer Dialog aus dem Hollywood des von reaktionären Katholiken verfassten und vom noch reaktionäreren Joe Breen durchgesetzten Production Code.
Der Moralkodex war mindestens so päpstlich wie der Papst. Sexuelle Betätigungen ohne Trauschein und Zeugungsabsicht waren verboten. Ein Verbot hat aber noch nie etwas aus der Welt geschafft. In Hollywood erfand man unermüdlich Dialoge, mit deren Hilfe die Charaktere über Dinge sprechen konnten, die nicht gesagt werden durften. Beim Vorlesen würde es nicht bleiben, wenn Dix Fran in ihre Wohnung begleiten würde, um von dem Tonic Water zu kosten, das sie anzubieten hat (bestimmt mit viel prickelnder Kohlensäure). Dix aber will selber lesen.
"Siehst du auf alle Frauen herab", fragt Fran beim Gehen, "oder nur auf diejenigen, die du kennst?" Weil Ray solche Szenen gern ironisch umdreht steht sie dabei und blickt auf Dix herab, der an seinem Tisch sitzt und erwidert: "Ich war doch ziemlich nett zu dir." "Nein, nicht zu mir", antwortet Fran. "Aber du warst ziemlich nett. Ich ruf dich an." Sie ist erkennbar verletzt durch das, was Dix gesagt hat. Darum schlägt sie jetzt zurück. Solche vom Production Code erzwungenen Sex-Umgehungsdialoge können von einer schockierenden Brutalität sein.
Der vom Jesuitenpater Daniel A. Lord erstellte Moralkodex ist längst Geschichte, hat aber von den frühen 1930ern bis zu den 1960ern alles verformt, was von der amerikanischen Filmindustrie produziert wurde. Als heutiger Zuschauer versteht man oft nur noch bedingt, was unter der katholisch aufpolierten Oberfläche vor sich geht. Warum ist Fran so verletzt? Warum ist es ein Ausdruck von Verachtung, wenn Dix sich nicht vorlesen lassen will? Antwort: Weil er Fran gesagt hat, dass er lieber masturbiert (selber liest), als mit ihr zu schlafen oder sich - pardon - einen blasen zu lassen. Nett ist das nicht, und "nett" ist auch nicht gemeint, wenn Dix und Fran das Wort (nice im Original) benutzen.
Genauso vitriolhaltig ist Frans Schlussbemerkung, die ich so übersetzen würde: Gefühle waren von deiner Seite aus nicht dabei, sagt sie, als wir unsere Affäre hatten. Für dich sind Frauen nur Objekte. Beim Sex allerdings bin ich auf meine Kosten gekommen, da warst du gar nicht schlecht. Ich melde mich, wenn ich so etwas wieder haben will. Damit lässt sie ihn sitzen. Das ist hohe Dialogkunst in einem in der Endfassung exzellenten Drehbuch und nicht mit dem pubertären Sexualhumor verklemmter Seelen zu verwechseln, die nur kichernd und hinter vorgehaltener Hand über etwas reden können, das tabuisiert und irgendwie peinlich ist.
Mit einigen wenigen Sätzen wird nicht nur gesagt, was eigentlich nicht gesagt werden darf, weil Sex Sünde ist. Es wird auch ein Verhältnis zwischen Männern und Frauen skizziert, das so zerrüttet ist, dass die Parteien mit scharfen Waffen kämpfen, um möglichst viel Schaden anzurichten. Das ist mehr als nur privat. Der Schauplatz des Wortgefechts, an dem sich alles trifft, was in der fiktionalen Welt Rang und Namen hat (das "Paul’s" als ein seiner glitzernden Fassade beraubtes "Romanoff’s"), steckt den gesellschaftlichen Rahmen ab, auf den die Ereignisse zu beziehen sind. Fürwahr ein einsamer Ort, dieses Hollywood des Geldes und der Prominenz als Selbstzweck.
Nach der ernüchternden Exposition wird sich der Rest des Films, um bei der Lese-Metapher zu bleiben, der Frage widmen, ob das Masturbieren nicht wirklich die bessere Lösung wäre. Das klingt prosaisch und nach Fleischbeschau, hat jedoch nicht das Geringste mit Pornographie zu tun. Es geht um all die Dinge, denen Hollywood in seiner Glanzzeit immer wieder nachspürte, und dabei nicht zuletzt um die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, gepaart mit künstlerischer Erfüllung. Ray folgt da einer zutiefst romantischen Konzeption, die meilenweit von jener Gebrauchsromantik entfernt ist, mit der die Werbung ihr Produkt verkauft und die Schnulzensänger in der Samstagabendshow aus Liedern Plastik machen.
Das Lesen/Sex-Thema wird wieder aufgenommen, wenn Dix Pauls Garderobiere bittet, ihn nach Hause zu begleiten. Mildred denkt zuerst das Offensichtliche und ist außerdem mit ihrem Freund verabredet, dann aber Feuer und Flamme, als sie hört, dass sie den Inhalt von Althea Bruce nacherzählen soll, weil Dix zum Lesen zu müde ist. Alle moralischen Bedenken sind sofort vergessen. Für Mildred ist es ihr Teil vom Ruhm, wenn sie später einmal sagen kann, dass sie dem Drehbuchautor von "Alethea Bruce" den Inhalt des Romans erzählt hat. Ihr Freund ist da nicht mehr so wichtig.
Begegnung im Patio
Alles, was wirklich zählt, sagt man, fängt klein an. Bei einer großen Liebe ist das nicht anders. Ray hat Gloria Grahame, mit der er damals noch verheiratet und inzwischen heillos zerstritten war, einen famosen ersten Auftritt spendiert. Dix’ Zuhause sind die "Beverly Patio Apartments", ein um einen Innenhof gruppierter Wohnkomplex in Beverly Hills. Der Hof, der dem Gebäude den Namen gegeben hat, ist der Schauplatz, an dem Gloria alias Laurel Gray den Film betritt. Ray führt sie als Frau mit Geheimnis ein, was sie sofort viel faszinierender macht als Mildred Atkinson, bei der alles an der Oberfläche liegt.
"Was für ein hübscher Ort", sagt Mildred und bleibt vor einer nackten Frauenskulptur stehen, um den Patio zu bewundern. Plötzlich taucht Gloria Grahame auf. Sie trägt einen eleganten hellen Mantel und schwarze Handschuhe, entworfen vom vielfach für den Oscar nominierten Designer Jean Louis, von dem auch die Kleider von Rita Hayworth in Gilda sind. Mit der Andeutung eines Lächelns und einem sinnlich hingehauchten "Excuse me" bahnt sie sich einen Weg zwischen Dix und Mildred, sie und Dix schauen sich kurz in die Augen. Das ist Rays Version von der Liebe auf den ersten Blick. Dix und Mildred sehen Laurel hinterher, wie sie eine Treppe hochgeht und verschwindet.
Das Ganze dauert 15 Sekunden. Von da an ist Laurel Gray das erotisch-romantische Zentrum des Films. Nick erarbeitete die Laurel-Szenen gemeinsam mit Gloria, verwandte besonders viel Mühe auf sie. Bei dieser notierte er in seinem Exemplar des Drehbuchs: "Eindeutiges Interesse - nicht das erste Mal, dass sie ihn gesehen hat - schaut interessant aus - mochte sein Gesicht." Dix sieht die mysteriöse Frau zum ersten Mal. Der Rest von Rays Notiz gilt umgekehrt auch für ihn. Er interessiert sich nun für Laurel und nicht für Mildred, die er eilig zu seiner Wohnung führt, als wäre das zur lästigen Pflicht geworden.
An der Wohnungstür blickt Dix sich noch einmal um, dorthin, wo die Frau im hellen Mantel verschwunden ist. Sie beansprucht jetzt den Platz in seinen Gedanken. "Keiner", notierte Ray an einer anderen Stelle des Drehbuchs, "sagt, was er denkt." Das ist auch nicht nötig. Der Film zeigt es uns. Und er bereitet uns subtil auf Dinge vor, die noch kommen werden. Bei der ersten Begegnung trägt Laurel einen dunklen Schal. Er harmoniert mit den schwarzen Handschuhen, verleiht dem Ensemble eine erotische Komponente und betont die Halspartie. Mildred wird bald tot im Straßengraben liegen. Erwürgt.
Villa Primavera
"Der Innenhof des von Humphrey Bogart in In a Lonely Place bewohnten Hollywood-Gebäudes ist eine der phantasieanregendsten Räumlichkeiten, die ich je in einem Film gesehen habe", schreibt Roger Ebert in einer Kritik. "Der Reihe nach sind kleine Wohnungen angeordnet, rund um einen Hof im spanischen Stil und mit einem Springbrunnen. Jedes Apartment wird von einer einzelnen Person bewohnt. Wenn man durch sein Fenster über den Hof schaut kann man in das Leben seines Nachbarn sehen." Ob klein oder groß ist Ansichtssache. Die Atmosphäre hat Ebert sehr gut getroffen.
Als "Beverly Patio Apartments" ließ Ray im Columbia-Atelier die Villa Primavera nachbauen, in der er selbst seine erste Wohnung bezogen hatte, als er in den 1940ern nach Los Angeles gekommen war. Wir haben es da mit einem der vielen autobiographischen Elemente zu tun, aber nicht nur das. Die Villa Primavera (1300-1308 North Harper Avenue, West Hollywood) ist das erste einer Reihe von teilweise denkmalgeschützten Gebäuden, die das legendäre Architektenpaar Nina und Arthur Zwebell in den 1920ern im Spanish-Revival-Stil entwarf.
Der Spanish-Revival-Style war von den spanischen Missionsstationen in Kalifornien inspiriert. Für eine Wohnanlage wie die Villa Primavera hieß das: dicke Adobe-Wände; ornamentale Steinfliesen; Balkone und Aufgänge mit schmiedeeisernen Gittern; zwei bis maximal drei Stockwerke; Fenster und Türen, die sich zum begrünten Innenhof hin öffnen; in der Mitte ein mit Mosaiken verzierter Brunnen. Viele dieser Apartmentkomplexe wurden in den 1920ern und 1930ern in der Nähe der Filmateliers gebaut und boten damals günstigen Wohnraum für die Studioangestellten.
"So etwas ähnliches wie eine Hacienda, oder?", fragt Mildred Atkinson bewundernd. Nicht nur für sie ist das ein Platz, der sie der Traumfabrik ein Stück näher bringt. Filme wie In a Lonely Place oder später David Lynchs Mulholland Drive haben dazu beigetragen, dass man heute den von den Zwebells populär gemachten Stil mehr als irgendeinen anderen mit Hollywood assoziiert. Die nachgebaute Villa Primavera ist weniger eine Kulisse als ein eigener Charakter, der die Handlung in entscheidenden Momenten prägt, sie vorantreibt und ihr eine Richtung gibt.
Die meisten dieser nach außen gut abgeschirmten, einen Hof umrahmenden Apartmentgebäude sind inzwischen der Stadtentwicklung und der Spekulation zum Opfer gefallen. Sie wurden abgerissen oder in Eigentumswohnungen umgewandelt. Mit den "Courts" ging ein identitätsstiftender Teil der Architektur- und Sozialgeschichte von Los Angeles verloren. Die Villa Primavera steht noch, ist jetzt aber mit einem Tor gesichert und nicht mehr frei zugänglich wie früher.
Notdürftig behelfen kann man sich mit der 20-minütigen Doku auf der alten Columbia-DVD (Region 1, auch im Bonusmaterial der Criterion-DVD enthalten). Der im letzten Jahr verstorbene Curtis Hanson nimmt uns mit in den Innenhof, um dort von In a Lonely Place zu erzählen, der für ihn eine wichtige Inspirationsquelle war, als er L.A. Confidential drehte. Leider gibt es viele Filmausschnitte und wenig Villa Primavera, weil die Macher der Doku offenbar kein Interesse daran hatten, die Atmosphäre einzufangen, ohne die In a Lonely Place ein ganz anderer Film geworden wäre.
Leute, die in einem der noch erhaltenen Courts wohnen, preisen das familiäre Gefühl, das dort herrscht, ohne dass man zur regelmäßigen Interaktion mit den Nachbarn gezwungen wäre. Der Kontakt stellt sich ein wie von selbst. Bei sich zum Innenhof öffnenden Türen und Fenstern kriegt man mit, was passiert, wer kommt und wer geht, ohne viel reden zu müssen. Natürlich hat dieses beinahe spirituelle Gemeinschaftsgefühl seine Schattenseiten. Paranoia und Überwachung sind nicht weit. Der Schauplatz, den er aus eigener Erfahrung bestens kannte, war für Ray und seine Anliegen ideal. Der Zeithintergrund - der McCarthyismus und die Gesinnungsschnüffelei - ist immer mit dabei, ohne direkt angesprochen zu werden.
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