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Ägypten und die Grundrechte

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Man kann der amerikanischen Führung nicht vorwerfen, dass sie gegen die Falschen aktiv wird. Die Taliban waren vielleicht das schlimmste Regime unserer Zeit, und Saddam ist wirklich der Prototyp des finsteren Diktators. Allerdings wurden beide Regimes erst durch massive amerikanische Hilfe gefestigt. Was man den amerikanischen Regierungen seit Jahrzehnten vorwerfen muss, ist das naive Schwarz-Weiß-Denken: Wer meines Gegners Gegner ist, muss wie ich weiß sein.

Bei den Taliban und Saddam hat das nicht so recht geklappt, und auch bei den derzeitig engsten und wichtigsten Verbündeten im islamischen Lager stellt sich massiv die Frage, ob grundsätzliche Übereinstimmungen zu einer der ältesten und liberalsten Demokratien der Welt bestehen.

Saudi-Arabien ist nach dem Fall der Taliban vermutlich der fundamentalistischte islamische Staat der Erde (in dessen Klima sich 15 von 19 Terrorpiloten rekrutieren ließen), mit restriktiven Internetfilter (ganz im Gegensatz zu so genannten Schurkenstaaten wie Iran oder Libyen (Vgl.Das Internet in Qaddafis Reich)), Körperstrafen und einer bedrückenden Autokratie, deren Joch dank des Ölreichtums nicht hinterfragt wird.

Aber hier soll es uns vor allem um Ägypten gehen. Der Jahrbucheintrag bei Amnesty International ist sehr lang. Das könnte zunächst ein positives Zeichen sein: Aus besonders restriktiven Ländern dringt normalerweise zu wenig Information nach außen, um die einzelnen Menschenrechtsverstöße zu dokumentieren. Jedoch sind die Fälle, die nach außen dringen, besorgniserregend. Da ist zum einen die endemische Anwendung der Folter durch die Polizei, die in Ägypten so illegal sein dürfte wie bei uns. Wenn der Staat sie nicht ausreichend bekämpft (oder sogar duldet, wie Systemkritiker behaupten), dann stellt ihm dies ein Armutszeugnis aus.

Aber fast noch aufschlussreicher sind die Fälle, die im Einklang mit dem ägyptischen Rechtssystem stehen. Sie zeigen, dass es sehr grundsätzliche Unterschiede zwischen der ägyptischen und der westlich-europäisch-amerikanischen Auffassung von Recht gibt.

Da wäre zum Beispiel die ebenso berühmte wie traurige Queen-Boat-Affäre. Am 11. Mai 2001 führte die Polizei eine Razzia des Schiffs Queen Boat durch, als dort eine Homosexuellenparty stattfand. Die Festgenommenen kamen vor ein Sondergericht (das eigentlich der Terrorismusbekämpfung dienen soll) und wurden zu Haftstrafen verurteilt. Später wurden diese Urteile von oberster Stelle aufgehoben, dann kamen die Angeklagten wieder vor ein neues Gericht mit neuen Anklagen.

Das eigentlich Bemerkenswerte an diesem Prozess ist, dass Ägypten kein spezielles Gesetz gegen Homosexualität hat (wie in West-Deutschland bis 1969/1973/1994, in Ost-Deutschland bis 1989 oder Rumänien bis 2001). Daher muss die Anklage sich mit Vorwürfen der gewohnheitsmäßigen Ausschweifung, der Prostitution und der Religionspervertierung behelfen.

À propos Religion. Der Fundamentalismus der Muslimbrüder wird zwar in Ägypten blutig unterdrückt (auch davon hat Amnesty International viel zu berichten), aber das Regime selbst muss als fundamentalistisch und intolerant beschrieben werden. So berichtet AI über die Verfolgung von Baha'i-Anhängern, die mehrere Monate eingesperrt wurden, sich nicht versammeln dürfen und deren religiöse Schriften verbrannt werden. Religionskritische Autoren können in Ägypten zwangsgeschieden werden - da ihre Ehepartner legalerweise nicht mit einem/einer Apostaten/-in verheiratet bleiben können. Grundlage hierfür ist das Hisba-Gesetz.

Man muss dem ägyptischen Regime zu Gute halten, dass 1996, nach der ersten prominenten Zwangsscheidung, das Verfahren für moralwütige Ankläger deutlich erschwert wurde. Das endet aber nichts an der Tatsache, dass die Möglichkeit weiter besteht, von Staats wegen eine Ehe aufgrund von religionskritischen Äußerungen aufzuheben, und dass Gerichte die staatlichen Regelungen nur halb ernst nehmen - sonst wäre der jüngste Fall gar nicht so weit gekommen.

Im Juni 2002 wurde Shohdy Naguib Surur zu einem Jahr Haft verurteilt. Sein Verbrechen: Er hatte ein provokantes Gedicht seines Vaters Naguib Surur, der berüchtigsten und ikonoklastischten Künstler-Persönlichkeit im Ägypten des 20. Jh.s auf einer Website veröffentlicht. Das Gedicht betracht den politischen und gesellschaftlichen Zustand Ägyptens im Sechstagekrieg gegen Israel, verwendet dazu sexuelle Metaphern und deftigen Umgangston und trägt bereits den expliziten Titel "Die Fotze von Naguibs Mutter" - also geradezu ideal, um sich Ärger mit den Bütteln eines politisch restriktiven, islamischen Staats einzuhandeln. Kann durchaus sein, dass es sich um eine gezielte Provokation handelte, um die Grenzen der ägyptischen Gerechtigkeit zu erproben. Den Sinn für Provokationen könnte Shody von seinem Vater ererbt haben. Seine Mutter ist Russin, so dass er auch die russische Staatsbürgerschaft besitzt. Und in Russland verbrachte er die meiste Zeit seines Lebens und wurde dort zu einem der Internetpioniere. Shody konnte sich also von vorneherein darauf verlassen, dass sein Fall auf der ganzen Welt bekannt werden würde. Und außerdem sollte die ägyptische Gesetzgebung keine Handhabe geben ihn besitzen, denn es gibt keine Internetgesetze.

Illustration von Shody

Wie jedoch schon bei den Homosexuellen gesehen, scheint nullum crimen sine lege kein Grundprinzip ägyptischen Rechtsempfindens zu sein. Shody wurde kurzerhand wegen des "Besitzes immoralischer Bücher und Druckwerke" verurteilt. Vermutlich werden ihm weder Prominenz noch fremde Staatsbürgerschatz etwas helfen. Denn vor ihm hat die ägyptische Justiz noch ein wesentlich prominenteres Opfer hinter Gitter gebracht.

Prof. Dr. Saad Eddin Ibrahim ist einer der prominentesten ägyptischen Wissenschaftler. Er besitzt auch die amerikanische Staatsbürgerschaft und unterrichtet Politik und Soziologie an der amerikanischen Universität in Kairo. Am 30. Juni 2000 wurde er samt etlichen anderen Mitarbeitern seines Instituts, des Ibn Khaldun Centers, festgenommen. Am 21. Mai 2001 wurde er zu sieben Jahren Haft verurteilt, dieses Urteil wurde am 29. Juli 2002 bestätigt.

Welches Verbrechen hat dieser international renommierte und geachtete Mann begangen, das ihm sieben Jahr beschert hat? Ibrahim beschäftigte sich mit der Schulung von Wählern und der Organisation von Wahlkontrollen, einem Programm, das die Europäische Union unterstützt hat.

Verurteilt wurde Ibrahim wegen Annahme von Spenden aus dem Ausland (d. h. von der Europäischen Union) ohne vorherige Genehmigung, der Rufschädigung Ägyptens im Ausland und wegen des Betrugs an der Europäischen Union.

Vorwurf Nummer 3, dass Ibrahim Quittungen gefälscht habe, ist völliger Unsinn. Die Europäische Union hat mehrfach schriftlich bestätigt, dass die vorgelegten Abrechnungen völlig in Ordnung seien, und zudem gegen die Inhaftierung protestiert. Vorwurf Nummer 1 verstößt gegen ein Militärdekret, das dazu dienen soll, extremistischen Gruppierungen die Auslandsfinanzierung zu entziehen. Auch dieser Vorwurf ist völlig unhaltbar. Das Ibn-Chaldun-Center firmiert als Firma, die Europäische Union ist gemäß Vertrag Auftraggeber. Damit fällt das Center definitiv nicht unter das Militärdekret. Zudem läuft die Zusammenarbeit bereits seit 12 Jahren in dieser Weise ab.

Allein Vorwurf Nummer 2 bleibt unentkräftbar. Ibrahim schrieb dazu:

Wenn man Probleme in unserer Gesellschaft dokumentiert, dann "verleumdet man ihr Ansehen", wenn man einen Entwicklungshilfe-Vertrag zur Steigerung der Wahlbeteiligung annimmt, dann "arbeitet man als fremder Agent".

Die Gründe, aus denen Ibrahim verhaftet und verurteilt wurde, sind fingiert und nicht einmal auch nur halbwegs gut fingiert. Amnesty International wie Human Rights Watch sprechen von einem politisch motivierten Prozess. Viele Beobachter glauben, dass es bei alledem nur um Rache von höchster Stelle geht.

Wenige Tage vor seiner Verhaftung war Ibrahim sehr präsent in den Medien gewesen, mit einem Zeitschriftenartikel und einem Fernsehinterview. Dabei rekurrierte er immer wieder auf das, was er den "Beitrag der arabischen Welt zur Politikwissenschaft" nannte, die Staatsform der Gomlokiya (frei übersetzt: Republikomonarchie, wörtlich gebildet aus Gom-, dem Anfang des arabischen Worts für Republik, und -lok, dem Ende des arabischen Worts für Monarchie). Die Gomlokiya ist eine Pseudorepublik, die republikanische Fassaden wahrt und dabei doch im inneren Erbmonarchisch ist1.

Ibrahim verwies darauf, wie reibungslos der Sohn des syrischen Präsidenten seinem Vater im Amt nachfolgte, obwohl Syrien in den letzten paar hundert Jahren keine Erbmonarchie war. Als der Fernsehmoderator nachfragte, ob man sich so etwas auch in Ägypten vorstellen könne, wo Mubarak immerhin seit 20 Jahren regiert, war Ibrahim unvorsichtig genug, dies in Erwägung zu ziehen. Siebzehn Tage später wurde er verhaftet.

Am 4. August erschien in der New York Times (die bekanntlich eine Registrierung verlangt - deshalb dieser alternative Link ein Artikel zum Fall Ibrahim. Um diese Zeit lief auch in Deutschland eine Pressemitteilung um, "Menschenrechtler in Ägypten zu sieben Jahren Haft verurteilt". Viel Echo scheint sie in den deutschen Zeitungen nicht gefunden zu haben, und das, obwohl Ibrahim wegen seiner Verbindungen zur Europäischen Union einsitzt.

Anders, wie gesagt, Tom Friedman in der New York Times. Es wird mir nicht möglich sein, bessere Formulierungen als er zu diesem Fall zu finden. Daher seien einfach ein paar Sätze aus seinem Artikel übersetzt:

Das Außenministerium erklärte mit großer Tapferkeit, dass es aufgrund der Verurteilung von Herrn Ibrahim, der einen amerikanischen Pass besitzt, "tief enttäuscht" sei. "Enttäuscht"? Ich bin enttäuscht, wenn mein Basketballverein ein Spiel verliert. Wenn ein ägyptischer Präsident, dem wir jährlich zwei Milliarden Dollar zahlen, einen pro-amerikanischen Verteidiger der Demokratie einsperrt, dann bin ich "wütend" und erwarte von Amerika, dass es etwas tut.

Ich habe auch Angst, denn wenn es in Ägypten keinen Raum für demokratische Stimmen für einen Wechsel gibt, dann bleibt den Ägyptern nur die Moschee. Wenn es keinen Raum in Ägypten für Saad Ibrahims gibt, dann werden wir nur mehr Mohammed Attas bekommen - die dann wieder zu uns kommen.

Wie wäre es, dass wir, bevor wir versuchen, ein ganzes Land - den Irak - zu befreien, erst einen einzigen Mann befreien, einen guten Mann, der gerade in einem ägyptischen Gefängnis sitzt, weil er eben jenen demokratischen Idealen gefolgt ist, für die wir angeblich stehen?