An sexueller Lust orientiertes "anything goes"

Sven Lewandowski über die "Pornographie der Gesellschaft"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In den letzten Jahrzehnten erfuhr die Pornographie beachtliche Massenverbreitung, ohne aber damit aus der Schmuddelecke herauszukommen. Für den Soziologen Sven Lewandowski, der ein Buch über die Pornographie der Gesellschaft schrieb, liegt dies aber weniger am Genre selber als an einem nicht unverkrampften Blick darauf.

Herr Lewandowski, welche Position nimmt die Pornographie heutzutage in unserer Gesellschaft ein?

Sven Lewandowski: Pornographie ist zu einem Teil der zeitgenössischen Populärkultur sowie zu einem mehr oder minder selbstverständlichen Teil der Lebenswelt vieler geworden. Vor diesem Hintergrund führt die moralische Frage, ob es Pornographie geben solle oder nicht, ob Pornographie gut oder schlecht ist, nicht weiter. Zumindest nicht, wenn es um eine Analyse des Pornographischen oder des Verhältnisses zwischen moderner Gesellschaft, zeitgenössischer Sexualität und Pornographie gehen soll. Mir scheint der Gedanke nicht unplausibel, dass sich in der Pornographie die Grundstrukturen der zeitgenössischen Sexualität reflektieren, insbesondere ihre primäre Orientierung am Lustprinzip.

Ist die Pornographisierung der Gesellschaft ein Regressionsphänomen oder können Sie dahinter auch progressive Tendenzen ausmachen?

Sven Lewandowski: Ich halte die Rede von einer "Pornographisierung der Gesellschaft" – gelinde gesagt – für Unsinn. Zunächst: Warum muss es immer gleich die Gesellschaft sein? Wollte man annehmen, dass die Gesellschaft "pornographisiert" werde oder wurde, so müsste man nicht nur angeben können, wie sich eine solche "Pornographisierung" äußert, sondern man müsste darüber hinaus zeigen können, dass sie wesentliche gesellschaftliche Teilbereiche und/oder Kernbereiche der heutigen Gesellschaft betrifft. Geht man im Geiste kurz die wesentlichen Funktionssysteme der modernen Gesellschaft durch – Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Politik, Religion und so weiter –, so sieht man sofort, wie unsinnig die Annahme ist, die Gesellschaft werde "pornographisiert" oder "Pornographisierung" sei eine wesentliche Dynamik der modernen Gesellschaft.

"Mangelhaftes soziologisches Reflexionsvermögen"

Wie wäre es mit dem Funktionssystem Kultur, beziehungsweise Alltagskultur?

Sven Lewandowski: Ich glaube nicht, dass man aus gesellschaftstheoretischer Perspektive von einem "Funktionssystem Kultur" sprechen kann. Kultur ergibt sich eher als ein Effekt von how things are done einerseits und andererseits als Effekt anderer Funktionssysteme, insbesondere des Systems der Massenmedien. Die Annahme, dass die Kultur beziehungsweise die Alltagskultur pornographisiert werde, scheint mir freilich fragwürdig. Weist sie denn beispielweise nicht vielmehr sportliche als pornographische Referenzen auf? Jedenfalls sollte man die Relationen im Auge behalten.

Die Rede von einer "Pornographisierung der Gesellschaft" oder auch der Kultur zeugt nach meiner Einschätzung in erster Linie von mangelhaftem soziologischen Reflexionsvermögen – oder von einer Anfälligkeit für moralisch induzierte Diskurse, wobei das eine das andere nicht ausschließt.

Wenn Sie so wollen, ist der "Pornographisierungs"-Diskurs beziehungsweise die Tatsache, dass er gesellschaftlich so überaus anschlussfähig zu sein scheint, eher ein Indiz dafür, dass im Kontext von Sexualität, Moral und Pornographie der kritische wie soziologische Verstand bei vielen auszusetzen scheint. Und was an dem Diskurs "Pornographisierung der Gesellschaft" ja – neben seinem moralischen Impetus – als erstes ins Auge springt, ist seine Maßlosigkeit. Wie schon gesagt: Warum muss es gleich eine "Pornographisierung der Gesellschaft" sein? Reicht es nicht, wenn man unbedingt will, von einer Pornographisierung der Sexualkultur oder meinethalben der Jugendsexualität zu sprechen? Wobei – aber das nur nebenbei bemerkt – das eine wie das andere empirisch unzutreffend ist.

"Sexualisierung massenmedialer Darstellungen"

Was sind Ihrer Einschätzung nach die gravierendsten Schwächen des gegenwärtigen Diskurses über Pornographie?

Sven Lewandowski: Der Pornographisierungs-Diskurs leidet an mindestens dreierlei: Maßlosigkeit aufgrund mangelnder soziologischer Analyse, dem Fehlen präziser Begrifflichkeiten und mangelhaftem empirischen Bezug. Insofern erübrigt sich auch die Frage nach regressiven beziehungsweise progressiven Tendenzen. Höchstens vielleicht in Bezug auf den Diskurs selbst, der insofern als regressiv bezeichnet werden könnte, als er hinter die für die Sozialwissenschaften konstitutive Differenz von Analyse und moralischer Wertung zu Ungunsten ersterer zurückfällt.

Wenn man hingegen davon sprechen will, dass sich in den Massenmedien sexuelle Bezüge häufiger finden und nackte Haut öfters zu sehen ist, so könnte man durchaus von einer Erotisierung oder meinethalben auch Sexualisierung massenmedialer Darstellungen sprechen. Aber dann fehlten natürlich Skandalisierung und Moralisierung. Also spricht man lieber von "Pornographisierung" und erheischt Aufmerksamkeit seitens jenes massenmedialen Zirkus, den man zugleich wohlfeil kritisiert. Man sollte allerdings nicht aus den Augen verlieren, dass – nach einer glücklichen Formulierung Niklas Luhmanns – die Realität der Massenmedien eben ein Produkt der Realität der Massenmedien ist.

"Pornographie ist ein massenmediales Produkt"

Nun heißt allerdings Ihr Buch "Die Pornographie der Gesellschaft". Haben Sie womöglich ein Buch über etwas geschrieben, was es gar nicht gibt?

Sven Lewandowski: Ein eher seltener Vorwurf! [lacht] Normalerweise bestreitet niemand die Existenz von Pornographie. Ganz im Gegenteil behaupten die Leute eher, es gäbe zu viel Pornographie. Und wenn es Pornographie nicht geben sollte, so gibt es ganz offensichtlich etwas, was als Pornographie beobachtet (und beklagt) wird.

Aber im Ernst: Dass Pornographie ein massenmediales Produkt ist, heißt ja nicht, dass es sie nicht gäbe. Auch konstruierte Realitäten sind ja nichtsdestotrotz Realitäten. Und auch die Realität der Massenmedien ist eine im klassischen Sinne soziale Tatsache, insofern sie nämlich Widerstand gegen andere Weltdeutungen oder beispielsweise wissenschaftlichen Analysen leistet. Nur muss man eben im Auge behalten, dass es sich um eine massenmedial produzierte und massenmedial reproduzierte Realität handelt. Und zur Logik der Massenmedien gehört eben (unter anderem) eine spezifische Präferenz für Neues, Spektakuläres und Abweichendes. Man muss also bedenken, dass die Realität der Massenmedien eine nach den Logiken der Massenmedien geschaffene Realität ist.

Und „Die Pornographie der Gesellschaft“ heißt das Buch unter anderem deshalb, um zu markieren, dass Pornographie nicht in einem Jenseits der Gesellschaft zu verorten ist, sondern ein Produkt der Gesellschaft ist, in dem sich die Gesellschaft selbst und ihre Vorstellungen vom Sexuellen widerspiegeln. Und die Massenmedien sind selbstverständlich ebenfalls ein Teil der Gesellschaft.

"Wenig aussagekräftiges Datenmaterial"

Inwiefern werden menschliche Verhaltensweisen durch Pornographie beeinflusst?

Sven Lewandowski: Der Einfluss von Pornographie auf das Sexualverhalten wird nach meiner Einschätzung maßlos überschätzt, während merkwürdigerweise zugleich – ungeprüft – angenommen wird, dass ein solcher Einfluss, wenn es denn einen solchen geben sollte, ausschließlich negativer Art sein kann.

Ein zentrales Problem besteht freilich darin, dass sich ein Einfluss von Pornographie auf sexuelles Verhalten schlecht untersuchen lässt, da ein solcher Einfluss nur schwer wissenschaftlich sinnvoll operationalisierbar ist. Folglich verfügt die Forschung auch über wenig aussagekräftiges Datenmaterial. Mit den typischen verhaltenspsychologischen Laborforschungen wird man jedenfalls nicht weiterkommen, denn wer schaut sich schon in normalen Leben Pornographie unter Laborbedingungen an? Wollte man mögliche Einflüsse ernsthaft untersuchen, so müsste man einerseits Langzeituntersuchungen anstreben und andererseits den Rezeptionskontext berücksichtigen.

Allerdings gibt es Indizien dafür, dass die Auswirkungen von Pornographie auf das realweltliche Sexualverhalten eher gering sind. Jenen, die glauben, dass Pornographie das Sexualverhalten in negativer Weise beeinflusst, sollte jedenfalls zu denken geben, dass gerade das Sexualverhalten Jugendlicher – trotz überaus leichter Zugänglichkeit zu Pornographie und besonders unter männlichen Jugendlichen verbreiteter Nutzung von Pornographie – keinerlei Anlass zur Sorge bietet. Ganz im Gegensatz zur massenmedial verbreiteten Rede von einer angeblichen "sexuellen Verwahrlosung" der Jugend sind Jugendliche nicht nur sexualmoralisch vergleichsweise konservativ, sondern ihr Sexualverhalten ist in erster Linie durch romantische Beziehungsideale geprägt, egalitär organisiert und überaus verantwortungsvoll (wie sich etwa am überaus guten Verhütungsverhalten ablesen lässt).

Der Glaube, dass Pornographie dazu führe, dass Jugendliche zu immer früherem, immer riskanterem und immer gewalttätigerem Sex neigten, stellt sich aus Sicht der seriösen Sexualwissenschaften als ein massenmedial verbreitetes Phantasma dar – oder schärfer ausgedrückt: Als (unzutreffende) Phantasie der Alten über die Sexualität der Jungen.

Kurz gesagt: Die Annahme, Pornographie beeinflusse das Sexuelle in negativer Weise, steht auf ziemlich wackligen Füßen. Zumindest gibt es eine Reihe Anzeichen dafür, dass diese Annahme unzutreffend ist. Ohnehin wird man sich daran gewöhnen müssen, mit der Tatsache zu leben, dass es Pornographie gibt. Wie neuere Untersuchungen über den Umgang Jugendlicher mit Pornographie zeigen, ist zumindest Jugendlichen diese Gewöhnung auch gelungen.1.

Können Sie hier längerfristige Entwicklungstendenzen erkennen?

Sven Lewandowski: Als langfristigen Effekt der Pornographie, der sich aber nicht zwangsläufig in Verhalten niederschlagen muss, kann man von einer Aufladung des Sexuellen mit Kontingenzbewusstsein und wohl auch einer normativen Aufwertung und Durchsetzung des Lustprinzips ausgehen. Aber weder das eine noch das andere lässt sich monokausal auf Pornographie zurückführen. Überhaupt wäre ich mit Kausalannahmen sehr vorsichtig. So hat ja beispielsweise die jahrzehntelange Forschung zum Einfluss von Gewalt im Fernsehen auf reales Verhalten keine eindeutigen Effekte nachweisen können.

"Sexuelles orientiert sich zunehmend selbstreferentiell"

Welche gesellschaftliche Entwicklung spiegelt sich im Werdegang des Pornofilms der letzten 40 Jahre?

Sven Lewandowski: In erster Linie die Ausdifferenzierung des Sexuellen und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen eine Ausdifferenzierung des Sexuellen als einer eigenständigen sozialer "Wertsphäre". Sexuelles orientiert sich zunehmend selbstreferentiell, also am sexuellem Begehren und sexueller Lust und weniger als in früheren Zeiten an externen Kriterien und/oder sozialstrukturellen Einbindung wie etwa (ehelichen) Paarbeziehungen, biologischer Reproduktion und so weiter. Sexualität hat sich von anderen Bezügen abgekoppelt. So lassen sich beispielsweise aus den Beziehungsformen der Beteiligten keine sexuellen Handlungsanleitungen oder Interaktionsmuster ableiten.

Oder umgekehrt formuliert: Sexuelle Interaktionen orientieren sich heutzutage an eigenen Kriterien wie der Erlangung sexueller Lust und dem Orgasmusparadigma.

Zugleich ist alles legitim geworden, was für alle Beteiligten sexuelle Lust erzeugt. Insofern kann man sagen, dass sexuelle Lust der zentrale Orientierungspunkt der zeitgenössischen Sexualität ist. Und genau diese Lustorientierung spiegelt sich in der Pornographie wider, da ein Kernelement der Pornographie ein an sexueller Lust orientiertes "anything goes" ist.

In der zeitgenössischen Pornographie spiegelt sich aber auch eine Binnendifferenzierung der Sexualität der Gesellschaft wider. Das Sexuelle hat sich in vielerlei Hinsicht pluralisiert. Begehrensformen und sexuelle Praktiken, die vor ein oder zwei Generationen noch undenkbar waren oder als pervers galten, werden heutzutage als Geschmackssache angesehen und – die Einvernehmlichkeit der Beteiligten vorausgesetzt – weitgehend toleriert. In diesem Sinne spiegelt sich in der Pornographie auch die "Entpervertierung" der (ehemaligen) Perversionen wider. Man denke etwa an die S/M-Kultur.

Die Ausdifferenzierung der einst als mehr oder weniger einheitlich vorgestellten Sexualität in eine Vielzahl von sexuellen Praktiken, sexuellen Begehrensformen, sexuellen Identitäten und sexuellen Subkulturen beziehungsweise sexualmoralischen Milieus findet ihren Niederschlag nicht zuletzt auch in der Vielfältigkeit unterschiedlicher Pornographien, die wiederum sexuellen Subkulturen als Reflexionsmedien dienen. Insbesondere in Pornographien jenseits des heterosexuellen Mainstreams werden ja implizit (und mitunter auch explizit) einzelne Begehrensformen und/oder sexueller Lebensstile ausgehandelt: Was gilt etwa als begehrenswert, was als aufregend oder abturnend, was als sexy oder reizlos und so weiter. Auf diese Weise trägt die Ausdifferenzierung unterschiedlicher sexuelle Begehrenskulturen zugleich zur Ausdifferenzierung der Pornographie bei.

Die Frage nach einer einfachen Widerspiegelung der zeitgenössischen Sexualität in der Pornographie greift folglich zu kurz und müsste durch Fragen in die umgekehrte Richtung ergänzt werden: In der Pornographie wird – ähnlich wie beispielsweise auch im klassischen Liebesroman – reflektiert, wie Sexualitäten (respektive Liebesbeziehungen) aussehen könnten.

In Teil 2 des Interviews äußert sich Sven Lewandowski über cum shots, analen Sex und die Utopie des Pornofilms.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.