Anatomie einer Jungfrau

Seite 3: Dekadenz

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Doch zurück zum ersten Abend. Der Säufer aus der Bar hat inzwischen das Haus betreten und entdeckt eine von Biegler abgestellte Flasche in einer braunen Papiertüte, mit der er sich der Küche nähert, in der Polly die Forellen wäscht. Das ist ein gutes Beispiel für die visuelle Ironie in Anatomy of a Murder. Der Mann mit der Whiskyflasche ist einer von der Sorte, für die Wasser etwas für Fische ist und nicht für Menschen (was sich bald ändern wird). Am Türrahmen zur Küche ist die Farbe abgeblättert, und man sieht einen schwarzen Fleck. Dieser Fleck erzählt eine Geschichte, für die andere Filme zwei Dialogseiten brauchen. Genau an dieser Stelle drückt der Mann jetzt seine Zigarette aus. Das macht er offenbar immer so (daher der schwarze Fleck), und Biegler hat offensichtlich nichts dagegen. Preminger braucht nicht einen gesprochenen Satz, um seinen Helden und dessen besten Freund zu charakterisieren. Wir begegnen da zwei reichlich abgefackten Herren vom Rande einer sich nicht zuletzt über die schöne Fassade definierenden Gesellschaft.

Anatomy of a Murder

Von der Küche gehen die beiden zu Bieglers Wohnzimmer. Es entspinnt sich nun einer der wunderbaren Dialoge, die es in dieser Qualität nur im Film gibt und nicht im Roman, obwohl sich Voelker alias Traver durchaus bemüht hat. Der Säufer fängt an, mit Blick auf die angebrochene Flasche: "You fought this soldier by yourself. You’ve been drinkin’ alone, Polly. I don’t like that." - "Drop the stone, counselor. You live in a glass house." - "My windows have been busted a long time ago, so I can say as I please." Wenn schon Dialoge, scheint Preminger zu sagen, dann bitte solche, die witzig und vieldeutig sind und auch ein bisschen gewagt, die neue Informationen transportieren, das bisher Gesehene rekapitulieren und bereits auf das verweisen, was noch kommen wird. Beide Anwälte wohnen, metaphorisch verstanden, in desolaten Häusern, als Bild für ihre Existenz, wobei das Haus des Säufers sogar kaputte Scheiben hat, weil sein Alkoholproblem noch größer ist als das von Biegler, der den "Soldaten" (die Bourbonflasche) auch gern "bekämpft" (aus der Flasche trinkt), wenn er allein beim Angeln ist. Außerdem wird er bald einen Berufssoldaten als Mandanten haben, von dem er nicht genau weiß, ob er ihn verteidigen oder bekämpfen soll, denn Lieutenant Manion ist nicht sonderlich sympathisch und vielleicht ein gewissenloser Mörder. Damit werden auch, quasi durch die Hintertür, Krieg und Militär eingeführt, was den gesamten Film über mitschwingen und die Perspektive auf Zusammenhänge öffnen wird, die weit über einen Mordprozess im amerikanischen Hinterland hinausreichen.

Anatomy of a Murder

Es hat etwas von der Klage eines betrogenen Liebhabers, wenn der Säufer sich beschwert, dass Polly ohne ihn getrunken hat. Damit soll nicht angedeutet werden, dass die beiden Anwälte eine homosexuelle Beziehung unterhalten. Aber es etabliert eine sexuell aufgeladene Atmosphäre, die selbst in Szenen zu finden ist, wo man gar nicht damit rechnen würde. Wie zur Bestätigung bietet Polly dem Freund eine seiner "italienischen Zigarren" an (nach Meinung von mir konsultierter Raucherforen fehlt es dem Zigarillo gegenüber der dickeren Zigarre an "maskuliner Ausdrucksstärke"). "Nein danke", antwortet dieser. "Dieses Stinkkraut ist auch wieder so ein Zeichen deiner Dekadenz." Polly steckt sich darauf selbst einen Zigarillo in den Mund und reckt ihn wie einen erigierten Penis in die Kamera, damit der alte Freund das Sinnbild der Dekadenz für ihn entzünden kann. Das ist so herrlich unverschämt, dass Joe Breen bestimmt einen Tobsuchtsanfall gekriegt hätte, wenn er noch der Oberzensor gewesen wäre - dies allein schon aus dem Grund, dass er nichts dagegen hätte tun können. Vor dem Zeitalter von Gesundheitsfanatismus und Rauchverboten konnte kein Zensor verhindern, dass ein Mann dem anderen Feuer gibt.

Preminger braucht nun noch ein paar Dialogsätze mehr, um uns darüber aufzuklären, dass Paul Biegler die letzte Wahl zum Staatsanwalt gegen einen gewissen Mitch Lodwick verloren hat und dadurch aus der Bahn geraten ist. Den Schmerz über die Niederlage (eine Art Liebesentzug durch die Bewohner des Bezirks, sagt der Freund) verbirgt Polly hinter Zynismus. Inzwischen vergeudet er sein Talent als Anwalt mit langweiligen Schriftsätzen und unbefriedigenden Allerweltsfällen wie einer, der sich selbst bestrafen will oder nehmen muss, was man ihm anbietet, weil er aus Scham am liebsten nicht mehr auf die Straße gehen würde. Die meiste Zeit verbringt er mit Angeln und Whiskytrinken. Abends diskutiert er mit seinem alkoholisierten Freund juristische Fachliteratur. Die große Leidenschaft der beiden Herren ist das Recht (Preminger wird den Beweis antreten, dass auch die Jurisprudenz sehr sexy sein kann). Damals hatte das eine explizit politische, sogar eine weltpolitische Dimension. Hier lohnt es sich, in das Jahr 1954 zurückzugehen, als Preminger Carmen Jones mit einer rein schwarzen Besetzung drehte (mit Dorothy Dandridge und Harry Belafonte in den Hauptrollen), was ihm Boykottaufrufe und mehrere Aufführungsverbote in den amerikanischen Südstaaten eintrug.

Rule of Law

1954 war auch das Jahr, in dem der U.S. Supreme Court urteilte, dass die in manchen Bundesstaaten praktizierte Rassentrennung an Schulen verfassungswidrig war (Brown vs. Board of Education). Nicht jeder Rassist war bereit, das Apartheidsystem so einfach aufzugeben. 1957 verhinderte die Nationalgarde in Little Rock, Arkansas auf Anweisung des Gouverneurs, dass neun Afroamerikaner die bis dahin nur für Weiße zugängliche High School betraten. Präsident Dwight D. Eisenhower schickte nach anfänglichem Zögern - und unter dem Eindruck der sehr unvorteilhaften Bilder von rassistischen Ausschreitungen, die nun weltweit über die Mattscheiben flimmerten - eigene Truppen los, um in Little Rock die Verfassung durchzusetzen. Am 24. September 1957 begründete er seine Entscheidung in einer Rundfunk- und Fernsehansprache. Darin erklärte er, dass Recht und Gesetz auch dann zu respektieren seien, wenn man persönlich mit bestimmten Regelungen und Entscheidungen der Gerichte nicht einverstanden sei. Andernfalls regiere der Mob, was in der Anarchie enden werde. Eine Schlüsselstelle der Ansprache ist diese hier:

"Ein Fundament unseres American Way of Life ist der Respekt unserer Nation dem Recht gegenüber. Im Süden, wie anderswo, sind sich die Bürger sehr bewusst, was für ein schlechter Dienst den Menschen in Arkansas in den Augen des ganzen Landes erwiesen wurde, und was für ein schlechter Dienst dem Land in den Augen der Welt erwiesen wurde. Zu einer Zeit, in der wir wegen des Hasses, den der Kommunismus gegen ein auf den Menschenrechten basierendes Regierungssystem hegt, im Ausland mit besorgniserregenden Situationen konfrontiert sind, zu so einer Zeit wäre es schwierig, den Schaden zu übertreiben, der dem Ansehen und dem Einfluss, und in der Tat auch der Sicherheit unserer Nation und der Welt zugefügt wird."

Anders formuliert: Die USA können nicht glaubwürdig als Verteidiger von Demokratie und Menschenrechten auftreten, wenn sie sich selbst nicht an Recht und Gesetz halten - oder, wenn man an den jetzigen Amtsinhaber denkt: ein datensammelndes, die Bürgerrechte unterminierendes Monstrum namens NSA auf den Rest der Welt loslassen und einen Drohnenkrieg führen, in dem der Polizist auch der Richter und der Henker ist. Eisenhower hätte Obama sagen können, dass man einen solchen Krieg langfristig nicht gewinnen kann, was nicht heißt, dass er selbst regelmäßig befolgt hätte, was er in Sonntagsreden predigte. Immerhin ließ er zumindest theoretisch keinen Zweifel daran, dass niemand, auch nicht der Präsident, über der Verfassung steht. Bei Obama gewinnt man zunehmend den Eindruck, dass mit dem Konstrukt von der "nationalen Sicherheit" ein rechtsfreier Raum geschaffen wurde, in dem der Präsident über der Verfassung steht und kraft seiner Hybris darüber zu bestimmen hat, was erlaubt ist und was nicht. Für einen Präsidenten, der in einem früheren Leben ein auf Bürgerrechte spezialisierter Anwalt war, ist das ein deprimierender Befund.

Der Krieg gegen den Kommunismus war in Eisenhowers Amtsperiode, was heute der Krieg gegen den Terror ist. Rückblickend lässt sich sagen, dass seine Ansprache zu den rassistischen Umtrieben in Little Rock ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung des Konzepts von der Rule of Law war, das der Präsident nun verstärkt propagierte, publizistisch unterstützt vom Medienmagnaten Henry Luce (Life, Time, The March of Time). Die "Herrschaft des Gesetzes" war der demokratische Gegenentwurf zur "Herrschaft des Proletariats" hinter dem Eisernen Vorhang, und eine nicht unwesentliche Legitimationsgrundlage für das westliche Verteidigungsbündnis. Die NATO sollte nicht die Sicherheit sichern, sondern eine demokratische Gesellschaftsordnung schützen, der die bürgerlichen Freiheitsrechte heilig sind und die sich an die Normen des internationalen Rechts gebunden fühlt. Ende 1958 rief Eisenhower den 1. Mai 1959 zum Law Day aus. Die USA, steht in der Proklamation, wollen dazu beitragen, dass die Rule of Law auch bei der Lösung internationaler Konflikte gilt. Die Vorherrschaft des Gesetzes sei von existentieller Bedeutung für die amerikanische Nation, und das solle man gebührend feiern.

Das klingt gut. Im Vergleich zum rhetorischen Geschwurbel, mit dem uns Obama seit Jahren einlullt, war Eisenhower auch ein Vorbild an Präzision und Klarheit. Leider war er außerdem der Präsident, der den Kalten Krieger John Foster Dulles zum Außenminister und dessen Bruder Allen zum CIA-Direktor machte. Ausspähung, Drohnenkrieg, der Konflikt mit dem Iran und so weiter: Wer wissen möchte, wie das einmal angefangen hat, in welcher Tradition Bushs und Obamas Krieg gegen den Terror steht - das unheimliche Wirken der Gebrüder Dulles ist kein schlechter Ausgangspunkt. Es war auch kein Zufall, dass Eisenhower sich den 1. Mai aussuchte. Mit dem "Tag des Gesetzes" wollte er den - vermeintlich kommunistisch unterwanderten und "unamerikanischen" - Tag der Arbeit austrocknen. Das alles fand seinen Niederschlag in Anatomy of a Murder. Da das aber ein Film von Otto Preminger ist, und somit für nicht unter Vormundschaft gestellte Erwachsene, darf man keine Charaktere erwarten, die in langen Monologen Leitartikel aufsagen wie etwa bei Stanley Kramer, damit man weiß, was man zu denken hat. Einschlägige Standardwerke zur Filmgeschichte präsentieren uns Kramer (Judgment at Nuremberg, Inherit the Wind) bis heute ungeniert als das Paradebeispiel eines politisch engagierten Regisseurs, Preminger dagegen als den geschäftstüchtigen Impressario, der die Kontroverse sucht, weil öffentlich ausgetragene Schaukämpfe mehr Umsatz generieren. Über unsere Kultur der freiwilligen Selbstentmündigung verrät das eine ganze Menge.

Oscar zieht in den Kalten Krieg

Einer der schlimmsten Schandflecke in der Geschichte Hollywoods ist die schwarze Liste. Echte oder als solche denunzierte Kommunisten, Antifaschisten, Anhänger von Roosevelts New-Deal-Politik, andere "Linke", auch Opfer einer Verwechslung wurden im Kalten Krieg ausgespäht, demütigenden Reinigungsritualen unterworfen, selbst zur Denunziation gezwungen oder mit einem inoffiziellen Berufsverbot belegt, weil die Filmmogule und ihre Geldgeber in den Finanzzentren der Ostküste von der allgemeinen Kommunismushysterie erfasst wurden, zu feige waren, sich den Hexenjägern in Washington zu widersetzen oder schlicht eine günstige Gelegenheit nutzten, missliebige Personen loszuwerden, die sich gewerkschaftlich organisiert hatten, um ihren Forderungen nach gerechterer Entlohnung und größerer künstlerischer Freiheit mehr Nachdruck zu verleihen.

Natürlich, möchte man sagen, war der ebenso kampferprobte wie unbeugsame Otto Preminger wieder in vorderster Linie zu finden, als es darum ging, die schwarze Liste endlich auszuhebeln, indem man offen gegen sie rebellierte, statt hinter den Kulissen nach Wegen zu suchen, sie zu unterlaufen. Die Drehbuchautoren Hollywoods, weil besser organisiert, artikulierter und konfliktfreudiger als manch andere Gruppe, galten als besonders "links" und waren überdurchschnittlich von den Berufsverboten betroffen. Einige schrieben nie wieder ein Drehbuch, andere konnten weiter arbeiten, dies aber unter entwürdigenden Umständen. Es war ein offenes Geheimnis, dass Produzenten auf der schwarzen Liste stehende Autoren beschäftigten, die sich nun hinter Strohmännern oder falschen Namen verstecken mussten. Mitunter war das der honorige Versuch der Auftraggeber, in Not geratenen Kollegen zu helfen, aber es zeugt doch auch von der Scheinheiligkeit Hollywoods sowie jener Politiker und rechten Lobbyisten, die von dieser Praxis wussten und nichts dagegen einzuwenden hatten, solange die Filmindustrie brav ihre Lippenbekenntnisse zur Abwehr einer kommunistischen Unterwanderung abgab, die wohl doch nicht ganz so gefährlich war wie von den Hexenjägern behauptet.

The Friendly Persuasion

Immer wieder interessant ist die Verleihung der Oscars. Alljährlich werden uns lustige Anekdoten aus der glorreichen Vergangenheit dieses Filmpreises erzählt. Über das, was nicht so lustig ist, schweigt man geflissentlich, denn schließlich dient die Veranstaltung der Selbstbeweihräucherung der Unterhaltungsindustrie. Nehmen wir die vermeintlich besten Leistungen des Jahres 1956. Nominiert war der Drehbuchautor, der The Friendly Persuasion, eine Sammlung mit Geschichten von Jessamyn West über friedliebende Quäker zur Zeit des Bürgerkriegs, für die Leinwand adaptiert hatte. Das Problem dabei: Im Vorspann der damals verliehenen Filmkopien gab es gar keinen Drehbuchautor. Inzwischen hat man es geändert. Einerseits ist das nur recht und billig. Andererseits schreibt man mit solchen Wiedergutmachungsaktionen die Geschichte um, weil der Zuschauer in der Regel nicht informiert wird. Der damals offiziell nicht existierende Autor hieß Michael Wilson und war 1951 auf der schwarzen Liste gelandet, weil er sich geweigert hatte, das Spiel des Ausschusses für unamerikanische Aktivitäten mitzumachen, also seine Mitgliedschaft in der KP zu beichten (Wilson war 1938 eingetreten, Mitte der 1950er trat er wieder aus), seinen früheren oder jetzigen Überzeugungen abzuschwören und zum Beweis tätiger Reue Kollegen zu denunzieren.

Jeder Mensch, stand in dem vorbereiteten Statement, das Wilson vor dem Ausschuss nicht verlesen durfte, habe das Recht, "seinem eigenen Gewissen zu folgen sowie ohne Polizeiüberwachung zu denken und zu sprechen und zu kommunizieren". Weil es sich um eine grundsätzliche Frage handele, werde vor dem Ausschuss über alle Amerikaner verhandelt, nicht nur über ein paar politisch Andersdenkende. Wenige Tage nach seiner Einstufung als "unfreundlicher Zeuge" wurde Wilson gefeuert. Die nächsten 14 Jahre stand er auf der schwarzen Liste, und Alec Guinness (The Bridge on the River Kwai, 1957) oder Peter O’Toole (Lawrence of Arabia, 1962) sprachen seine Dialoge, ohne dass das Kinopublikum davon erfahren hätte. In den 1970ern erzählte Wilson im Rahmen eines Oral-History-Projekts, was für ein einfaches System sich Hollywood ausdachte, um Leute wie ihn weiter beschäftigen - und ihre Lage ausbeuten - zu können. Ein Autor steckte die fertigen Drehbuchseiten in eine braune Papiertüte und übergab sie einem Mittelsmann, im Austausch gegen Bargeld (zu deutlich verringerten Bezügen).

The Friendly Persuasion

Die Interessen der Drehbuchautoren wurden von der Screen Writers Guild vertreten. Die SWG entschied in letzter Instanz darüber, wer als Drehbuchautor genannt werden musste bzw. durfte und wer nicht. 1953 änderte sie ihr Regelwerk. Eine Klausel im Standardvertrag sprach den Produzenten nun das Recht zu, einem Autor von der schwarzen Liste die Nennung zu verweigern. William Wyler, Produzent und Regisseur von Friendly Persuasion, schlug vor, nur seinen Bruder Robert und Jessamyn West als Autoren zu nennen, die Wilsons Drehbuch überarbeitet (und verwässert) hatten. Wilson wandte sich an die Schiedsstelle der SWG (seit 1954: Writers Guild of America). Nach einer heftigen Kontroverse wurde entschieden, dass ihm die alleinige Nennung als Autor des Drehbuchs zustand. Diese wiederum konnten Wyler und die Friendly Persuasion finanzierende und verleihende Allied Artists verweigern, wegen der neuen Regel von 1953. Darum lief ein autorenloser Film im Kino.

Die Nominierung des anonymen Autors für den Oscar brachte die Academy of Motion Picture Arts and Sciences in eine peinliche Lage. Diese ehrwürdige Institution musste nun zugeben, dass sie kürzlich - in heimlicher Sitzung - ebenfalls ihr Regelwerk geändert hatte, wovon bisher nur wenige Eingeweihte etwas wussten: Niemand, der sich geweigert hatte, mit dem Kongressausschuss zu kooperieren, konnte für einen Oscar nominiert werden. Friendly Persuasion wurde durch einen anderen Film ersetzt, weil sonst nur vier statt der üblichen fünf Kandidaten auf der Liste mit den Nominierten gestanden hätten (eine Viererliste wäre wenigstens ehrlich gewesen). Im Januar 1959 nahmen die Verantwortlichen der den Oscar vergebenden Academy die neue Regel zurück. Heimlich, still und leise. So eben, wie man es macht, wenn man sich etwas Beschämendes geleistet und nicht die Courage hat, das offen einzugestehen.

Höschen ohne Jungfrau

Vor diesem Hintergrund bekommt Premingers Kampf gegen den Production Code eine andere Wertigkeit. Barney Quill, sagt Laura Manion, habe ihr bei der Vergewaltigung die Kleider zerrissen. Anwalt Biegler muss das erst mal sacken lassen, um dann zu fragen: "Mehrere Dinge sind mir inzwischen eingefallen. Die … äh … die - Unterwäsche, die Barney Quill Ihnen vom Leib gerissen hat. Wer hat die jetzt? Die Polizei?" Die junge Frau ist sichtlich amüsiert darüber, wie schwer sich der ältere Mann damit tut, verpönte Worte in den Mund zu nehmen. Spöttisch und mit hochmütig erhobenem Kinn erwidert sie: "Mein Höschen meinen Sie?" "Na gut", antwortet Biegler, "Ihr Höschen." Das Höschen, antwortet Laura, habe sie seitdem nicht mehr gesehen. Das Sehen ist wichtig in dieser Szene. Um die Peinlichkeit der Situation zu betonen, lässt Preminger das Gespräch über Lauras Unterwäsche in Bieglers Pontiac stattfinden, der so geparkt ist, dass ihr Mann das Auto von seiner Zelle aus sehen kann. Biegler weiß das (es wirkt wie seine Inszenierung) und macht Laura nun darauf aufmerksam, worauf ihre zur Schau gestellte Selbstsicherheit in sich zusammenfällt.

Anatomy of a Murder

Preminger macht aus dieser ersten Höschenszene eine kleine Studie über die Verklemmtheit einer männlich dominierten Gesellschaft und auch darüber, wie die Männer die Frau als sexuelles Wesen in die Schranken weisen. Als der Anwalt Laura sagt, dass ihr Mann sie durch das Zellenfenster beobachtet, nimmt sie scheinbar unwillkürlich (tatsächlich ist das eine Regieanweisung) die Sonnenbrille ab, unter der sie ihr blaues Auge verbirgt. Dieses Veilchen hat ihr entweder Barney Quill bei der Vergewaltigung beigebracht oder aber Lieutenant Manion, weil Laura ihn mit Quill betrogen hat oder vielleicht auch nur, weil sie sich von ihm nach Hause fahren ließ. In keiner der denkbaren Versionen ändert sich etwas an der männlichen Gewalt der Frau gegenüber.

Später, in der Verhandlung, sagt der Polizeioffizier Durgo aus, dass er und seine Leute am Ort der mutmaßlichen Vergewaltigung vergeblich nach einem "gewissen Wäschestück" von Mrs. Manion gesucht haben. Der Richter ist nun doch der Meinung, dass die Geschworenen erfahren sollten, um welches Kleidungsstück es sich da handelt, findet aber, das das Wort "Höschen" einen "leichten Beiklang" habe. Also bittet er die Herren Juristen in gedämpftem Ton um Vorschläge, wie man das schlüpfrige Objekt sonst noch nennen könnte. Preminger macht daraus eine der denkwürdigsten Einstellungen des Films. Dem Richter gegenüber, und aufgereiht wie die drei Musketiere, stehen der Verteidiger und die Staatsanwälte Lodwick und Dancer. Im Hintergrund ist der Kopf von Sergeant Durgo zu sehen, als selbstreflexives Element gewissermaßen, denn damals, 1959, war es nicht ganz auszuschließen, dass in besonders konservativen Gegenden der USA die Polizei ins Kino kam und einen Film konfiszierte, in dem solche "unanständigen" Worte gesprochen wurden (1953 beschlagnahmte die Polizei in Jersey City eine Kopie von The Moon is Blue und nahm auch den Kinobesitzer mit, und der Polizeichef von Birmingham, Alabama ließ die Taxiszene herausschneiden, weil da das böse Wort "Jungfrau" fällt).

Biegler redet sich heraus und verweist auf seinen Status als Junggeselle. Lodwick sagt, dass seine Frau ihre Höschen immer nur Höschen nenne. Und Staatsanwalt Dancer erläutert, dass er im Krieg in Übersee gekämpft und in Frankreich ein Wort gelernt habe, das allerdings ein bisschen "frivol" sei. Die meisten französischen Worte seien frivol, meint der Richter resigniert und teilt den Anwesenden im Gerichtssaal in einem schön mehrdeutigen Satz Folgendes mit: "Zum besseren Verständnis für die Geschworenen, besonders aber für die Zuschauer - die in der Zeugenaussage erwähnte Unterwäsche war, um genau zu sein, Mrs. Manions Höschen." Mit den Zuschauern ist natürlich in erster Linie das Kinopublikum gemeint, weil Preminger keine Gelegenheit auslässt, Parallelen zwischen dem Gerichtssaal und dem Vorführraum im Lichtspieltheater zu ziehen.

Verdammte Fleischbeschau

Der 1959 noch weitgehend unbekannte George C. Scott ist als Staatsanwalt Dancer so brillant wie eigentlich fast immer und ein ebenbürtiger Gegner für James Stewart. Als bester Nebendarsteller wurde er für einen Oscar nominiert, was er als eher unangenehm empfand. Die Nominierung für The Hustler (1961) lehnte er ab, und später ging er als erster Hauptdarsteller in die Annalen der Academy Awards ein, der den ihm zugesprochen Oscar nicht annahm (für Patton, 1970). Die "verdammte Fleischbeschau", ließ er in diesem Zusammenhang wissen, sei nicht sein Ding. Damit wollte er wohl ausdrücken, dass es bei diesem Preis nicht primär um schauspielerische Leistungen gehe und man solche ohnehin nicht miteinander vergleichen könne. Weil "Fleischbeschau" aber als Kritik an der neuen Freizügigkeit im Hollywoodfilm missverstanden wurde, musste er sich dann vorhalten lassen, dass er der Nacktheit auf der Leinwand selbst Vorschub geleistet und in einem Film mitgewirkt habe, in dem dauernd über eine Damenunterhose gesprochen und diese sogar in die Kamera gehalten wird (Preminger sorgt mit sardonischem Humor dafür, dass das Corpus Delicti wenigstens frisch gewaschen ist). Auch das ist ein Missverständnis.

Der Produzent und Showman Preminger hatte sicher nichts gegen Spätpubertierende und Fetischisten einzuwenden, die wegen dieses Höschens eine Kinokarte kauften und als angenehmen Nebeneffekt Geld in die Kasse brachten. Das ändert nichts daran, dass die Unterhose nicht etwa ein Werbegag ist sondern vielmehr Premingers Angriff auf eine durch den Production Code beförderte Kultur der Euphemismen und des Darumherumredens. Die Zuschauer im Gerichtssaal reagieren auf das Wort "Höschen" (panties) mit pubertärem Gelächter. "Es gibt nichts Komisches an einem Höschen", ermahnt der Richter, "das beim gewaltsamen Tod eines Menschen eine Rolle spielt und bei der möglichen lebenslangen Freiheitsstrafe für einen anderen." Zur Ordnung gerufen werden da auch kichernde Zuschauer im Kino und jene Zensoren, denen zur Unterwäsche junger Frauen nur Schlüpfrigkeiten einfallen. Anatomy of a Murder plädiert für Transparenz und Genauigkeit im Detail. Die Benennung und exakte Beschreibung von Laura Manions Höschen werden ganz wesentlich zum Ausgang des Prozesses beitragen. Das aufzuzeigen, nicht das Provozieren eines Skandals mittels einer Unterhose, ist Ziel des Films.

Der Production Code ist - wie alle Auflistungen dieser Art - ein teils kurioses, teils deprimierendes Sammelsurium von Tabus und Ungereimtheiten. Preminger schlägt die Zensoren mit ihren eigenen Waffen, wendet ihre Methodik gegen sie. Wer Anatomy of a Murder sieht sollte darauf gefasst sein, dass er auf eine höchst ingeniöse Weise das Profane mit dem Ideellen vermengt, das Anständige mit dem Unanständigen, das Private mit dem Politischen, um herauszufiltern, was das Wesentliche ist und wofür es sich einzutreten lohnt. Ein Höschen kann über Tod oder Leben entscheiden, über Freiheit oder Unfreiheit. Zur Freiheit gehört für Preminger die des künstlerischen Ausdrucks, sie ist geradezu einer ihrer Voraussetzungen. Mit der Freiheit der Kunst verhielt es sich für Preminger wie mit der Jungfräulichkeit: Ganz oder gar nicht (im Rahmen der auf demokratischem Wege zustande gekommenen Gesetze). Darum wehrte er sich so beständig dagegen, sich von Zensoren mit dubioser Legitimation einen Keuschheitsgürtel verordnen zu lassen. Eine Jungfrau musste eine Jungfrau bleiben, und wenn sie keine mehr war musste das auch gesagt werden.

im zweiten und letzten Teil: Unterhosen und unwiderstehliche Impulse

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