Anatomie einer Jungfrau

Seite 2: Sex mit Höhepunkt

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Die Upper Peninsula (Obere Halbinsel) macht etwa ein Drittel der Landmasse des Bundesstaates Michigan aus, aber nur drei Prozent der Bevölkerung wohnen in der Gegend. Es gibt dort ausgedehnte Wälder und Seen, für Angler und Naturfreunde ist die UP ein Paradies. Die größte Stadt, ein am Lake Superior gelegener Ort mit weniger als 20.000 Einwohnern, heißt Marquette (benannt nach einem französischen Jesuiten und Entdecker, von dem man nicht genau weiß, ob er je da war) und ist der Verwaltungssitz von Marquette County. Einer von den Einheimischen, der unter dem Pseudonym "Robert Traver" schreibende John Donaldson Voelker (Traver war der Mädchenname seiner Mutter), ist der Verfasser von zwei Büchern, von denen man sagt, dass jeder Angler sie lieben wird, ein Nicht-Angler vielleicht eher nicht: Trout Madness (1960) und Anatomy of a Fisherman (1964).

Das Angeln war die eine von Voelkers großen Leidenschaften. Die andere waren Gesetz und Juristerei. Er hatte sieben Amtszeiten als Staatsanwalt von Marquette County absolviert, als er 1950 nicht wiedergewählt wurde und eine private Anwaltspraxis aufbauen musste. 1952 verteidigte er Lieutenant Coleman A. Peterson, der angeklagt war, Mike Chenoweth ermordet zu haben, den Besitzer der Lumberjack Tavern im Touristenort Big Bay und den mutmaßlichen Vergewaltiger von Petersons Frau. Die Geschworenen sprachen den Lieutenant wegen vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit frei. 1957 wurde Voelker Mitglied des Obersten Gerichtshofs von Michigan. Im Jahr darauf erschien sein auf dem Peterson-Fall basierender Roman Anatomy of a Murder (mit dem Verteidiger Paul Biegler als Ich-Erzähler), der sich 66 Wochen lang auf der Bestsellerliste der New York Times hielt. Ein besonders faszinierter Leser war Otto Preminger, dessen Vater im Habsburgerreich als Staatsanwalt tätig gewesen war und nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst als Anwalt gearbeitet hatte. Auch Otto hatte - eher informell, aber mit Abschluss - Jura studiert, den Beruf allerdings nie ausgeübt, weil ihn schon als Schüler in Wien das von Max Reinhardt betriebene Theater in der Josefstadt gelockt und er sich für die Bühne anstelle des Gerichtssaals entschieden hatte. Anatomy of a Murder führt vor, warum da womöglich kein allzu großer Unterschied besteht.

Saul Bass-Plakat zu "Anatomy of a Murder"

Preminger kaufte im April 1958 die Filmrechte und gewann Voelker als juristischen Berater. Auf Empfehlung von Billy Wilder (nebenbei: Some Like It Hot kam im Mai 1959 ohne PCA-Freigabe in den Verleih, weil Männer in Frauenkleidern, verbunden mit fragil gewordener Heterosexualität, nicht Code-kompatibel waren) engagierte er Wendell Mayes, mit dem zusammen er die Drehbücher für drei Filme schrieb, in denen er gesellschaftliche Institutionen seziert: die Justiz in Anatomy of a Murder, das politische System in Advise & Consent (1962), das Militär nach Pearl Harbor in In Harm’s Way (1965). Ende des Jahres war ein sich eng an den Handlungsverlauf des Romans haltendes Skript fertig, das zu Zeiten Joe Breens völlig inakzeptabel gewesen wäre, weil es da ein striktes Verbot von Vergewaltigungen und versuchten Vergewaltigungen gegeben hatte. Das bedeutet nicht, dass von 1934 bis in die 1950er nie eine Frau in einem amerikanischen Film vergewaltigt wurde. Regisseure waren jedoch gezwungen, auf interpretationsbedürftige Bilder auszuweichen. Das ist problematisch, weil es latent beschönigend wirkt. Eine geknickte Blume oder eine traurig auf dem Bett liegende Frau mit aus der Fasson geratener Frisur ist nicht dasselbe wie ein Opfer, dem der Täter die Kleider vom Leib reißt, um in einen anderen Körper einzudringen. Man kann viele Beispiele dafür finden, wie im Auge des Betrachters - vom Filmkritiker bis zum Filmhistoriker mit wissenschaftlichem Anspruch - aus einer Vergewaltigten eine Frau mit Depressionen wird und aus einer Vergewaltigung eine liebevolle Umarmung. Man fragt sich, wer da mehr geschützt wird: die Opfer, die Täter oder die in patriarchalisch dominierten Bilderwelten steckende Misogynie?

Am 8. Dezember traf sich Preminger mit Breens Nachfolger Geoffrey Shurlock, um das Drehbuch zu besprechen. Shurlock hatte grundsätzlich nichts gegen die im Manuskript verhandelten Themen einzuwenden, bestimmte Formulierungen lehnte er jedoch ab. "Die Bezugnahmen auf ‚Sperma’, ‚sexueller Höhepunkt’, ‚Penetration’ etc.", schrieb er in einem Brief an Preminger, in dem er die Ergebnisse des Gesprächs zusammenfasste, "erscheinen uns als kaum geeignet in einem Film, der ohne Einschränkung vor einem gemischten Publikum gezeigt werden soll. Uns scheint auch eine zu große Betonung auf den Worten ‚Vergewaltigung’ und ‚Höschen’ zu liegen, und zwar bis zu einem Punkt, an dem dieses Element möglicherweise anstößig wird." In der Gewundenheit von Shurlocks Sprache spiegelt sich noch die Uneigentlichkeit, zu der die PCA den amerikanischen Film ein Vierteljahrhundert lang verpflichtet hatte.

Preminger hatte etwas dagegen, sich vorschreiben zu lassen, welche Worte er verwenden durfte und welche nicht. Er war jedoch ein Mann mit einer Mission, kein Prinzipienreiter. Nachdem er den Production Code mit The Moon is Blue und The Man with the Golden Arm von außen angegriffen hatte, kam es ihm inzwischen offenbar darauf an, das System der "freiwilligen Selbstzensur" von innen auszuhöhlen. Also machte er ein paar Zugeständnisse. Er und Mayes änderten die von Shurlock inkriminierten Dialogpassagen (aus dem "Sperma" wurde ein "Befund"), meistens aber nicht (die "Vergewaltigung" blieb eine Vergewaltigung). Dafür gab es am Ende das Prüfsiegel der PCA. Seismische Erschütterungen im moralischen Gefüge der USA wurden nicht registriert, obwohl auch die "Schlampe" (bitch) eine Schlampe geblieben war, was die Zensoren von der PCA genauso schlimm fanden wie die Vergewaltigung - nicht den Akt an sich, sondern das uneuphemistische, nicht beschönigende Wort dafür.

Psycho

Was Joseph Ignatius Breen von der neuen Nachgiebigkeit seiner Nachfolger Preminger gegenüber hielt ist nicht überliefert. Er ging 1954 in den Ruhestand und übersiedelte mit Gattin und Ehrenoscar (verliehen für seine "gewissenhafte, weltoffene und würdevolle Handhabung des Motion Picture Production Code") nach Phoenix, Arizona. Hitchcock (auch das nebenbei bemerkt), der Regisseur mit dem Faible für boshafte Insiderwitze, attackierte die Moralapostel von Hollywood, indem er sich über ihre Phobien lustig machte. Ein Klassiker ist die Kloschüssel in Psycho, mit der er sich für das Verbot revanchierte, in Mr. and Mrs. Smith im Bild oder in Gesprächsform anzuerkennen, dass es Toiletten gibt (weshalb jetzt in einer Szene die Wasserspülung die Dialoge übertönt). Psycho beginnt in Phoenix, weil es geographisch passt und es eine Geschichte über Vögel (und das Vögeln) ist. Das schließt nicht aus, dass Hitch sich ironisch vor dem Oberzensor verbeugte, als er ausgerechnet an dessen neuem Wohnort den Voyeursblick auf Marion Crane freigab, die gerade mit ihrem Geliebten aus dem Haushaltswarenladen geschlafen hat - am helllichten Tag und nicht zur Fortpflanzung! - und nun ihren Büstenhalter wieder anzieht. Der BH war ebenfalls eines dieser Kleidungsstücke, von deren Existenz der Kinozuschauer nie etwas erfahren hätte, wenn es nach Joe Breen gegangen wäre.

Psycho

Forellen-Jazz

Anatomy of a Murder beginnt mit einer ganz anderen Provokation als Psycho, mit einer Provokation, die nichts mit Sex zu tun hat - es sei denn, man denkt an die glitschigen Fischkörper, die in Filmen manchmal den männlichen Samen symbolisierten, was kein Zensor verbieten konnte. Ein Auto fährt durch ein verschlafenes Nest, das aussieht, als würde man jeden Abend um sechs die Bürgersteige hochklappen (es ist jetzt kurz nach acht und auch schon dunkel) und in dessen Zentrum eine abschreckende Trutzburg mit der Aufschrift "Peninsular Bank" steht. Dazu hören wir einen energiegeladenen Jazz Score mit einem den Film vorwärts treibenden Blues-Thema. Der Score stammt von Duke Ellington, einem der größten amerikanischen Komponisten aller Zeiten, der in Premingers Auftrag eine wunderbare Musik geschrieben hat, mit Leitmotiven für die wichtigsten Charaktere (die Autos inbegriffen) und die Dramatik intensivierenden Soli für die Virtuosen in seinem Orchester.

Anatomy of a Murder

Die Saxophonisten Paul Gonsalves (Tenor) und Harry Carney (Bariton) begleiten Paul Biegler, wenn er von A nach B geht und man ihm dabei zusieht, wie er seine Gedanken verfertigt. Shorty Bakers Trompete akzentuiert und hinterfragt Laura Manions Einsamkeit, von der man nicht genau weiß, ob sie echt ist oder eine Pose, um die Männer in ihren Wohnwagen zu locken. Und wenn Lee Remick ihre leicht präpotente, fast aus den (engen) Nähten platzende Sexualität zelebriert setzt der Altsaxophonist Johnny Hodges zum ultimativen, dieses Kunstmittel auf die Spitze treibenden und zugleich dekonstruierenden Glissando an, um sie mit einem Liebesruf in Iron City willkommen zu heißen. Gary Giddins, der Kritiker der Village Voice, hat nicht so unrecht wenn er meint, dass sich jeder Filmkomponist schämen müsste, der das Glissando nach Hodges’ Virtuosenstück noch einmal als Femme-fatale-Klischee einsetzt. Ellingtons Musik ist sinnlicher als Dutzende von verschwitzten Erotikstreifen. So gesehen fängt Anatomy of a Murder natürlich doch mit einer sexuellen Provokation an. Zu den Anfangstiteln hört man den Weckruf einer Trompete, der uns daran erinnert, dass Duke Ellington der Meister des "Jungle Style" war (kommen jetzt gleich die Elefanten?), gefolgt von einem sehr dynamischen, durch den Film hallenden Backbeat ("Echoes of the Jungle" heißt eine berühmte Ellington-Nummer aus der Zeit im Cotton Club, wo sie zu erotischen Tanzdarbietungen gespielt wurde).

Als sein eigener Produzent tat Preminger zwei Dinge, die im klassischen Studiosystem von Hollywood sehr unüblich waren: anstelle von Leuten mit Festanstellung und in das System integrierter Arbeitsweise holte er gern Außenseiter als Komponisten, und er legte Wert darauf, dass sie bei den Dreharbeiten anwesend waren, weil die Musik ein integraler Bestandteil des Films sein sollte, kein nachträglich angefügtes Element (Ellington war zunächst nicht abkömmlich und ließ sich in den ersten Wochen von der Jazzlegende Billy Strayhorn vertreten, einem engen Mitarbeiter). Preminger hatte es auch nicht nötig, den Film in eine Musiksoße zu tauchen und so Emotionen aus dem Zuschauer herauszuleiern, die allein die Bilder auf der Leinwand nicht hergeben würden. Er konnte es sich leisten, mit Ellingtons Kompositionen sparsam umzugehen und beherrschte die Kunst, die Musik an den richtigen Stellen auch mal wegzulassen.

Bei den Zeitgenossen trug ihm das einiges an Unmut ein. Manch ein Kritiker hatte ironischerweise zu bemängeln, dass Ellingtons Musik, die den Bildern neue Räume öffnet, statt sie abzudichten, vom Film losgelöst sei, dass sie keinen Bezug zu ihm habe und darum eher störend wirke. In der sich an Konventionen orientierenden Filmkritik hat das eine lange Tradition: Normabweichungen werden mit Unvermögen oder handwerklichen Fehlern verwechselt. Dahinter steckte eine ganz andere Irritation. Nicht zu wenig Jazz war das Problem, oder der falsche Jazz zum Bild, sondern der Jazz an sich. Jazz als Filmmusik (nicht als Musik im Film, die einer auflegt, der nicht in die bürgerliche Gesellschaft integriert ist oder mit der sich einer in Ekstase spielt wie Elisha Cook in Phantom Lady), Jazz als durchgängige Filmmusik vielmehr kannte man seit Elmer Bernsteins Scores für The Man with the Golden Arm und Sweet Smell of Success (1957), doch da ist sie strikt mit dem Dschungel der Großstadt assoziiert, mit finsteren Kaschemmen und zwielichtigen Charakteren. Das ist auch in der flott zur Sache kommenden TV-Serie M Squad so (Verbrecher begehen Morde und müssen dafür büßen), in der Lee Marvin zur Musik von Stanley Wilson und Count Basie die Unterwelt von Chicago dezimiert (1957-1960), und John Cassavetes ermittelte als "Jazz-Detektiv" Johnny Staccato (1959/60) in den Nachtclubs von New York. In Michigan, bei den Forellenanglern der Oberen Halbinsel, hatte der Jazz nach damaligem Verständnis nichts zu suchen, zumindest nicht in einem Film und nicht mit Jimmy Stewart, der als Anwalt Paul "Polly" Biegler zu großer Form aufläuft.

M Squad

In den Nachkriegswestern von Anthony Mann (Winchester '73, The Naked Spur) und für Hitchcock (Rope, Vertigo) hatte James Stewart zerrissene Charaktere gespielt, die wenig mit seinem Image der Vorkriegszeit zu tun hatten. Dessen ungeachtet blieb er für viele Amerikaner zeitlebens der Jimmy Stewart, der durch Rollen wie die des Provinzlers in Frank Capras Mr. Smith Goes to Washington ein ländlich geprägtes, im Stand der Unschuld befindliches und nicht durch die schädlichen Einflüsse der Großstadt verdorbenes Amerika verkörperte. Es ist deshalb als politisches Statement zu werten, als eine Absage an die Illusion von der agrarisch geprägten, auf ewig vorindustriellen Provinz, die den USA die immerwährende Regeneration verspricht, wenn Stewart als Paul Biegler plötzlich neben Pie-Eye (alias Duke Ellington) sitzt und vierhändig mit ihm Klavier spielt, was in einigen, auf Rassentrennung bestehenden Regionen der Südstaaten 1959 noch zu Boykottaufrufen führen konnte (eigentlich spielt Ellington mit sich selbst, weil er bei der Musikeinspielung auch Stewarts Part übernahm). Premingers Assistentin Rita Moriarty hat Foster Hirsch (Otto Preminger: The Man Who Would Be King) erzählt, dass Preminger sie aufforderte, bei den Dreharbeiten in Michigan ein wachsames Auge auf Ellington zu haben, weil er der einzige Schwarze weit und breit war. Glücklicherweise habe es keine rassistischen Vorfälle gegeben. Vieles, was wir heute beiläufig registrieren, ohne groß darüber nachzudenken, war 1959 alles andere als selbstverständlich.

Mr. Smith Goes to Washington

Überall und nirgends

Wenigstens das mit dem Jazz als Begleitmusik für zwielichtige Charaktere stimmt, aber auch das ist wieder eine Provokation, weil zu ihnen die Hauptfigur gehört und das Zwielichtige eben traditionell in der Großstadt angesiedelt ist, damit der Rest von Amerika, Leute in ländlichen Gegenden wie der Upper Peninsula, ruhig schlafen kann. Der Held des Films also, Polly Biegler (er sitzt in dem Auto, einem Pontiac Chieftain), fährt an der Bank und dann an einer Bar vorbei, wo ein etwas derangiert aussehender Säufer sich einen vermeintlich letzten Drink genehmigen kann, weil man dort für ihn anschreibt. Preminger etabliert so, mit äußerster Ökonomie der Mittel, einen Konflikt zwischen denen, die Geld haben (die Bank) und denen, die keines haben (der Säufer in der Bar), zwischen dem Establishment und den Figuren am Rande der Gesellschaft. Dieser Konflikt ist in Anatomy of a Murder immer da, obwohl er nie ausführlich thematisiert wird.

Während der Säufer seinen Whisky kippt fährt Polly zu dem Haus, in dem er lebt und seine Anwaltspraxis eingerichtet hat. Das ist die Fortsetzung des soeben etablierten Konflikts. Kein Banker würde in seinem Wohnhaus am Rande der Stadt ein Geldinstitut betreiben, und ein gut situierter Anwalt hätte Büroräume in der Hauptstraße, bei den Läden und der Peninsula Bank. Dieser Anwalt mit seiner Angelausrüstung sieht auch nicht wie einer aus. Beim Aufsperren der Haustür könnte man noch glauben, dass der Mann von einem Wochenendausflug zurückkehrt, wenn beim Eingang, an einem zur Garderobe umfunktionierten Geweih, nicht ein Zettel hängen würde. Gleich werden wir erfahren, dass das eine Nachricht von Bieglers Sekretärin ist, die den Anruf von Mrs. Manion entgegengenommen hat, einer möglichen Mandantin - in der Bürozeit, als der Chef beim Angeln war. Kleine Details wie diese tragen zur dichten Textur bei, die sicher mit ein Grund dafür ist, dass sich kaum jemand, der Anatomy of a Murder kennt, über Langeweile beklagen wird. Preminger hat so viele dieser sich stimmig in die übergeordneten Themen einfügenden Details eingestreut, dass man bei jedem Sehen des 161 Minuten langen Films (bei 4%-iger PAL-Beschleunigung auf Region-2-DVDs entsprechend weniger) neue Facetten entdeckt, wodurch er immer spannend bleibt.

Anatomy of a Murder

Wer Biegler in aller Ruhe dabei zusieht, wie er nach Hause kommt, wie er das Licht anmacht, seine Sachen auspackt, Tasche und Anglerweste aufhängt und in die Küche geht, beginnt vielleicht zu ahnen, dass sich der ganze Film, durch die Montage genauso wie durch die Bewegung und Interaktion der Figuren im Raum, an Jazz-Rhythmen orientieren wird und deshalb auch in den Passagen sehr musikalisch ist, wo keine Musik zu hören ist. Bei seinen Verrichtungen in der Küche begleitet Ellington den Helden mit dissonanten Klaviertönen, als wäre das der Schauplatz des Verbrechens. Tatsächlich tritt Polly nicht ans Spülbecken, um Leichenteile zu zerkleinern oder sich die blutigen Mörderhände zu waschen, sondern um seinen Fang zu säubern und, in Folie verpackt, im Kühlschrank aufzuschichten. Das scheint er regelmäßig so zu machen. Wenn der Kühlschrank noch mehr Forellen aufnehmen muss, wird Sekretärin Maida am nächsten Morgen sagen, kann er zum Laichen flussaufwärts schwimmen.

Anatomy of a Murder

Also doch: Fisch als Samen. Preminger treibt hier sein Spiel mit den Herren von der Filmzensur. Zuerst führt er vor, wie man die im Production Code formulierten Verbote umgeht. Dann ignoriert er sie und lässt seine Darsteller bis dahin tabuisierte Worte sprechen. Trotz der Kürze der Aussage von Dr. Dompierre im Mordprozess bringen es der Arzt, der Verteidiger und der Staatsanwalt mit vereinten Kräften auf fünfmal "Vergewaltigung" (rape) und zweimal "Sperma" (semen), nebst anderen sehr konkreten Einlassungen zum einvernehmlichen oder erzwungenen Geschlechtsverkehr. Shurlock von der PCA müssen die Ohren geklingelt haben, als er das hörte.

Anatomy of a Murder

Nach dem Verpacken der Fische in Alufolie geht Biegler in sein Büro, um die von Maida hinterlassene Nummer anzurufen. Er bittet um Rückruf, weil Mrs. Manion gerade nicht zu erreichen ist. Das beobachtet der Säufer aus der Bar von draußen durch ein Fenster. Auf der Tonspur hören wir einen vorbeifahrenden Zug, als der Mann da ankommt. Obwohl alles sehr gemächlich wirkt ist Anatomy of a Murder ein Film über die Bewegung als Lebensgefühl. Die Nummer, die Laura Manion angegeben hat, ist die von einem Road House in Thunder Bay, einem an die Hauptstraße gebauten Diner mit Vergnügungsangebot. Von dort aus ruft sie Biegler zurück, dort sehen wir sie das erste Mal. Laura ist die Tochter eines umherziehenden Bauarbeiters und wird von sich sagen, dass sie aus keinem bestimmten Ort stammt und immer auf Achse war, als sie aufwuchs. Jetzt, als Frau von Lieutenant Manion, reist sie in einem Wohnwagen durchs Land, von Armeestützpunkt zu Armeestützpunkt. "Manny ist gern unterwegs", sagt sie. "Wir sind immer unterwegs; immer, wenn wir die Chance dazu kriegen. Wir waren schon überall." Darum hat sie Manion geheiratet und für ihn ihren ersten Mann verlassen, der sich nicht versetzen lassen wollte.

Anatomy of a Murder

In der amerikanischen Geistesgeschichte ist die Bewegung, traditionell symbolisiert durch den Marsch nach Westen, die Garantie für eine ständige Erneuerung. In Anatomy of a Murder ist das anders. Überall ist nirgends. Lauras Reiselust ist der Ausdruck von Orientierungslosigkeit und Entwurzelung. Die am positivsten besetzten Charaktere sind mehr in einer Idee zuhause als an einem bestimmten Ort, weil das Amerika des Films solche Orte kaum mehr zur Verfügung stellt. Die Manions leben in einem Wohnwagen und sind nur auf der Durchreise. Der Tote hat in seinem Hotel gewohnt. Die Orte der Handlung sind mehr Durchgangsstation als Stabilität verheißendes Heim. Man trifft sich in Büros, Kneipen, einem zur Straße hin offenen Schnellrestaurant oder im Gerichtssaal. Einer der beiden Staatsanwälte kommt genauso von außerhalb wie der Richter. In der einzigen privaten Behausung, die wir je von innen sehen, der von Paul Biegler, weiß man nicht, wo die Anwaltskanzlei aufhört und wo der private Bereich beginnt.

Postkarte mit kleinen Schönheitsfehlern

Das Haus, in dem Polly Biegler wohnt, steht in einem Ort namens Ishpeming und ist das Haus von John D. Voelker, dem Autor der Romanvorlage und Verteidiger im Peterson-Fall - nicht ein originalgetreuer Nachbau im Studio, sondern das echte Haus (es steht da heute noch). Preminger drehte gern an Originalschauplätzen, weil er überzeugt war, dass die Darsteller dort anders agierten als in künstlichen Kulissen und weil er die Herausforderung mochte, mit der Kamera in Räumen unterwegs zu sein, deren Wände man nicht entfernen konnte. Auch das gab einem Film das gewisse Etwas, weil es kreative Lösungen für Probleme erforderte, die man bei der Arbeit im Atelier nicht kannte. Anatomy of a Murder entstand zur Gänze in Marquette County (im Film: Iron Cliffs County - neben der Forstindustrie war die Eisenerzförderung lange Zeit der wichtigste Wirtschaftsfaktor im nördlichsten Teil von Michigan). Im März 1959 setzten sich zwei Reisegruppen dorthin in Bewegung, eine aus New York und eine aus Hollywood kommend. Preminger sorgte dafür, dass die Wochenschau dabei war, als er seine Stars begrüßte. Mit am Bahnhof von Ishpeming stand die halbe Bevölkerung des Ortes. Viele der Einheimischen wirkten dann als Statisten mit. Preminger fand das Auftreten der Hollywood-Komparsen zu routiniert, was er in seinem Film nicht haben wollte. Im Gerichtssaal sitzen Leute, die beim echten Prozess gegen Peterson dabei gewesen sein könnten. Billiger war es natürlich auch, vor Ort Kleindarsteller und Statisten zu rekrutieren.

Wochenschau

In der Werbekampagne für Anatomy of a Murder wurden die Dreharbeiten in der ländlichen Abgeschiedenheit der Upper Peninsula ausführlich gewürdigt. Das weckte Erwartungen, die unbefriedigt blieben. Einige Kritiker waren irritiert darüber, dass der Film unter touristischen Gesichtspunkten so wenig hergibt. Die meisten Regisseure hätten sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, Polly beim Angeln zu zeigen. Preminger beginnt damit, dass der Held mit seinem Fang nach Hause kommt. Den Lake Superior, den größten der Great Lakes Nordamerikas und das zweitgrößte Binnengewässer der Welt, zeigt er nachts als schwarze Fläche, auf der sich die Lichter der angrenzenden Häuser spiegeln und tagsüber nur deshalb, weil der Campingplatz mit dem Wohnwagen der Manions am Ufer liegt. In Erinnerung bleiben die überquellenden Mülltonnen, nicht der See. Malerische Wälder und andere Postkartenbilder: alles Fehlanzeige.

Der Grad der Freiheit der Figuren in Anatomy of a Murder bemisst sich an ihren Möglichkeiten, sich ungehindert im Raum zu bewegen und Distanzen zurückzulegen, seien sie nun kurz oder lang. Darum werden wir in den folgenden zweieinhalb Stunden Autos beim Fahren zusehen und nicht Landschaftspanoramen betrachten, durch die ein Auto fährt wie bei John Ford die Postkutsche durch Monument Valley. Postkartenidyllen von den Naturschönheiten der Upper Peninsula gibt es nicht, weil das nicht das Thema ist. Die ungewöhnliche Lauflänge des Films hat nichts mit Langatmigkeit zu tun. Preminger beschränkt sich strikt auf das, was wichtig ist. Ich wüsste nicht, welche von den 161 Minuten man entfernen könnte, ohne den Erzählrhythmus zu beschädigen oder mit bestimmten Informationen auch einen der vielen Subtexte zu amputieren.

Anatomy of a Murder

Laura, die Frau mit dem Bewegungsdrang, wird beständig mit stationären Fahrzeugen assoziiert. Bei ihrem zweiten Auftritt wartet sie vor dem Justizgebäude auf Biegler. Die beiden steigen in das Cabrio des Anwalts, im Hintergrund sind Verkehrsgeräusche zu hören, Passanten gehen vorbei, aber Polly fährt nicht los. Das Gespräch findet in einem stehenden Auto statt, weil Laura - zumindest temporär - kaum weniger an einen bestimmten Ort gebunden ist als der Mann, den sie geheiratet hat, weil er immer unterwegs ist und der den geparkten Pontiac jetzt vom vergitterten Fenster seiner Zelle aus beobachtet. Laura gibt zu, dass Manny krankhaft eifersüchtig ist. Er mag es, wenn sie sich aufreizend kleidet und er mit ihr angeben kann, wird dann aber wütend, wenn sich andere Männer nach ihr umdrehen. Und Laura gelingt es nicht, sich von ihrem gewalttätigen Ehemann zu trennen. Auch Beziehungen und die eigene Psyche, heißt das, können ein Gefängnis sein. Darum nützt es letztlich nichts, einfach loszufahren wie früher die Pioniere, um im Westen ein neues Leben anzufangen. Das alte nimmt man immer mit.

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