Angst und Politik

Seite 3: Unlust, Zerstreutheit und Glückspillen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Rassismus und Ethnozentrismus haben ihren Zündpunkt in der Mitte der Gesellschaft. Es wäre eine fadenscheinige Entlastung des Mittelstandes, diese Symptome allein auf dem Pegida-Mob abzuladen. Die Symptombildung ist auch weitgehend unabhängig von der Frage des Arbeitsverhältnisses. Und der Intellektuelle hat die gleichen Vorurteile wie das bildungsferne Volk. Vielleicht kennt er seine Vorurteile besser, aber dadurch sind sie allenfalls verfeinert, nicht abgeschafft.

Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich fragte 1965, ob die Gestaltung unserer Städte Wirkmomente von Neurosen enthalte oder ob "Stadt" ein Heilmittel gegen die Neurose der Dörfer und Kleinstädte sei. Der Zusammenhang von Gesellschaft und Krankheit lässt sich im Besonderen aufklären, wenn er auf den räumlichen Kontext bezogen wird. Nach Mitscherlich ist es das Dogma von der Unverletzlichkeit des Privateigentums, das eine neurotische Angstabwehr auslösen kann.

(Vor-)Stadt(un)behaglichkeit. Aus dem Band "Over" von Alex MacLean. Bild: Alex MacLean / mit freundlicher Genehmigung von Schirmer/Mosel

Die Unverletzlichkeit ist psychologisch als Tabu zu deuten. Wenn diese Tabus ins Innere der Individuen gewandert sind, haben sie sich die Verbote, die äußerlich durch Grenzen markiert sind, selbst auferlegt. Die Angst dient hier zur vorauseilenden Anpassung. Die den unsichtbaren Schranken entgegen wirkenden Triebkräfte sind bereits beschrieben, und der innere Kampf löst Unlust, Zerstreutheit und Zerstörungswut aus. Es ist ein Wechselspiel aus Frustration und Aggression. Diese Prozesse dürften sich sowohl in der Stadt als auch auf dem Land abspielen. Sie sind allgemein-gesellschaftlich. Mitscherlichs Thema steht heute wieder unter dem Namen Neuro-Urbanismus auf der Agenda.

Die von Mitscherlich konstatierte Zerstreutheit lässt auf noch tiefer, unterhalb der Neurose sitzende Krankheitssymptome schließen wie Depression, Depression durch Erschöpfung. Der Zwang zur Selbstoptimierung und Selbstverwirklichung durch ein neues Identitätsdesign löst im Gegenzug einen Ich-Schwund aus, wie Neumann sagen würde. Die Frage ist heute nicht mehr: Habe ich das Recht, es zu tun, sondern: Bin ich in der Lage, es zu tun? Ständig über sich selbst hinauswachsen zu müssen, führt irgendwann zur Frage: Wozu das alles? Führt dazu, überhaupt nicht mehr handeln zu können.3

Gegen die nervliche Erschöpfung, gegen die große Müdigkeit werden großflächig Psychopharmaka zur Konditionierung der Leistungsfähigkeit eingesetzt. "Glückspillen" heißen sie bei Aldous Huxley. Sie führen den Idealzustand des Ichs herbei, der zum Normalzustand werden soll. Entsprechend wird die Medikamentengabe zum Dauerzustand. Alain Ehrenberg: "Wenn eine Person zugleich gesund ist, dank des Medikaments, und krank, nämlich ohne das Medikament, wer ist dann die wahre Person?" Die Medikamente dienen der Krankheilung, und das Ergebnis ist der "gesunde Kranke".

Der Kreis schließt sich, denn schon Freud hatte den Begriff der Krankheilung in Zusammenhang mit Neurosen gebraucht. Neurosen können den Ausbruch jener tiefer sitzenden, lebensbedrohlichen psychischen Krankheiten verhindern. Sie sind so etwas wie ein selbst gezimmerter Abwehrzauber der Patienten. Sie sollten nicht unbedingt therapiert werden. Das ist noch einmal ein Beleg für ihre Gesellschaftlichkeit.

Auch in der Demokratie wird das Unheimliche, Unbestimmte visualisiert und personifiziert. Freud: "Die Dämonen sind uns böse, verworfene Wünsche, Abkömmlinge abgewiesener, verdrängter Triebregungen." Es sind Vampire, Werwölfe, mordend herumziehende Körperteile, schwarze Männer ("und wenn er kommt, dann laufen wir") und schwarze, weil verhüllte und blicklos beobachtende Frauen. Welche Art von Realität kommt diesen Wesen zu?

Woher kommen die Monstren? Aus den Träumen der Vernunft? Aus den Kellern der Narrentürme? Oder aus den Pflegeheimen für die Unheilbaren und Schwerbehinderten? Sind es Ungeheuer, die sich sehen lassen, obwohl sie nicht existieren, oder solche, die wir nur ausnahmsweise sehen, obwohl sie existieren?

Thomas Macho

Es kommt nichts Gutes dabei heraus, wenn die Menschen sich von der Politik ihre Ängste abnehmen lassen, bevor sie sie kennengelernt haben.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.