Arbeitskult ade: Work-Life-Balance für alle!
Generation Anspruch: Junge Menschen wollen Lebensqualität statt Burnout. Arbeit muss für sie Sinn ergeben. Was sonst noch in der Streitschrift eines 30-Jährigen steht.
Das laufende Experiment zur Vier-Tage-Woche in Deutschland kann nur gutgehen, wo die Arbeitsverdichtung noch nicht den äußersten Rand des Erträglichen erreicht hat: 45 Unternehmen und Organisationen testen ein halbes Jahr lang die Variante "100-80-100": Die Beschäftigten sollen 100 Prozent der bisherigen Leistung in 80 Prozent der bisher vorgesehenen Zeit erbringen und dafür 100 Prozent ihres bisherigen Lohns erhalten.
Initiiert hat das Experiment bezeichnenderweise keine Gewerkschaft, sondern eine Unternehmensberatung namens Intraprenör.
Aber immerhin: Acht von zehn Beschäftigten im Alter zwischen 18 und 42 Jahren in Deutschland sind sicher, an vier Tagen dieselbe Arbeit wie an fünf Tagen schaffen zu können. Auf eine entsprechende Untersuchung des Karriereportals Jobteaser von 2023 verweist auch David Gutensohn, 30 Jahre alt und Befürworter der Vier-Tage-Woche, in seinem Buch "Generation Anspruch: Arbeit ist nicht alles – und das ist auch gut so".
Arbeitsverdichtung: Fast ein Fünftel ackert ohne echte Pausen
Allerdings beschreibt der hauptberufliche Zeit-Online-Redakteur auch die Arbeitssituation derjenigen, die das nicht schaffen dürften: Fast ein Fünftel aller Beschäftigten in Deutschland, nämlich 18 Prozent, geben demnach in Umfragen an, im Job keine richtigen Pausen einlegen zu können. Das führe auf die Dauer zu Fehlern, Unfällen und Burnouts, betont er.
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Was er ablehnt, ist eine Vier-Tage-Woche ohne tatsächliche Arbeitszeitverkürzung, also mit mehr Arbeitsstunden pro Tag. Grundsätzlich geht er davon aus, dass vor allem bei Jüngeren mit der Vier-Tage-Woche eine deutlich höhere Arbeitsproduktivität pro Stunde erreicht werden kann – es kommt eben auch darauf an, wie unverbraucht oder ausgeruht die Beteiligten zu Beginn der Umstellung sind.
Arbeitskräfte dringend gesucht: Eine gute Verhandlungsposition
Aber die Jüngeren sind gar nicht so viele – was sie in eine gute Verhandlungsposition bringt, wenn die "Babyboomer"-Generation in Rente geht. David Gutensohn ist sich dessen bewusst:
"Ich bin 30 Jahre alt und Teil der Generation Anspruch, die Arbeit radikal hinterfragt. Wir können uns das leisten", schreibt er. "Wenn die geburtenstarken Jahrgänge in den nächsten Jahren in Rente gehen, fehlen Deutschland mehr als sieben Millionen Arbeitskräfte."
Arbeitsfetisch in Ost und West – und der Stinkefinger der Jüngeren
Es ist seiner Meinung nach Zeit, mit dem "Arbeitsfetisch" aufzuräumen, den er im Kapitalismus genauso kritisiert wie im nominell kommunistisch regierten China, wo sich der "passive Widerstand" dagegen "Tangping" nenne.
Nach drei Jahren Pandemie, mitten in der Klimakrise, blicken wir anders in die Zukunft. Wir wollen nicht, dass die Arbeit bestimmt, wer wir sind. Wir wollen eine gesetzliche Viertagewoche, Sabbaticals, Elternzeiten und echte Feierabende. Und Arbeit, die Sinn ergibt.
David Gutensohn
Leidensfähige Arbeitnehmer: Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl?
Einige werden jetzt empört sein: Wie kann er es wagen? Hat nicht vor wenigen Monaten eine TikTokerin mit ähnlicher Einstellung und weniger geschliffenen Worten für Empörung unter den Fleißigen und Leidensfähigen gesorgt?
Ja: Manche Online-Kommentatoren waren da bemerkenswert stolz auf ihre Leidensfähigkeit und die Nichtwahrnehmung gewerkschaftlich erkämpfter Rechte. Ein Kommentator gab sogar an, an Sonntagen "gratis" zu arbeiten, ohne zu "jammern".
Ausgebrannt und verbittert durch Agenda-2010-Mentalität
Die Reaktionen von Menschen, die schon länger im Erwerbsleben stehen, waren aber nicht durch die Bank negativ: Manche verstehen sehr gut, warum es für Berufsanfängerinnen keinen Vorbildcharakter hat, wenn Menschen in den Vierzigern, die bis zur regulären Rente noch 20 Jahre oder mehr arbeiten sollen, sich ständig am Rand des Burnouts verausgaben.
Manche von ihnen werden denken: Warum sollen es Jüngere besser haben als ich bisher? Aber die Frage ist falsch gestellt. Sie müsste lauten: Warum soll es uns heute nicht allen besser gehen als in den Nuller-Jahren, als uns die aggressive PR der Agenda 2010 im Nacken saß und wir Angst hatten, bald zu den "Überflüssigen" zu gehören und als "faul" stigmatisiert zu werden, wenn wir nicht spurten?
Generation Praktikum: Dankbarkeit bis zum Burnout?
Wer damals ins Arbeitsleben eintrat, wurde oft mit unbezahlten Praktika und vagen Hoffnungen abgespeist. Manche waren dann für die erste bezahlte Festanstellung nicht selten so dankbar, dass es erst in der Corona-Krise wieder aus der Mode kam, mit schweren Erkältungssymptomen zur Arbeit zu erscheinen.
Aber im Homeoffice entfiel dann auch das Argument der Ansteckungsgefahr. Die Möglichkeit, von zu Hause oder wo auch immer aus zu arbeiten, kann große Vorteile haben, birgt aber auch Risiken und Nebenwirkungen. Die Trennlinie zwischen Arbeit und Freizeit kann hier schnell verschwimmen. Viele von uns wollen trotzdem nicht mehr darauf verzichten, gerade die Jüngeren nicht.
Dieses Wirtschaftssystem ist schlecht für Mensch und Umwelt
Auf den Einwand, deren Forderungen seien egoistisch und würden der deutschen Wirtschaft schaden, geht David Gutensohn mehrfach ein – unter anderem in einem Kapitel mit der Überschrift: "Keiner sollte für den Kapitalismus arbeiten".
Als einen der wesentlichen Gründe nennt er darin die ökologische Krise – denn der kapitalistische Wachstumszwang zerstöre "den Planten, der in seiner Endlichkeit die Ressourcen für unendliches Wachstum nicht zur Verfügung stellen kann". Zum Kapitalismus gehöre der Wille, die Produktivität und den Profit über alles andere zu stellen – und dadurch werde auch die Klimakrise in vieler Hinsicht verschärft.
Angebot und Nachfrage: Ein Eigentor des Kapitalismus?
Das Prinzip von Angebot und Nachfrage könnte aber nach Meinung des Autors ausnahmsweise einmal genutzt werden, wenn es darum geht, in Zeiten des Arbeitskräftemangels bessere Bedingungen für die Beschäftigten auszuhandeln.
Dieser Effekt wird aber wohl angesichts der Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz nicht ewig andauern – in Zukunft wird eher weniger menschliche Arbeitskraft benötigt. Wer grundsätzlich bereit ist, den Kapitalismus in Frage zu stellen, kann das aber auch positiv sehen: "Ich denke, wir sollten diese Entwicklung eher herbeisehnen, schreibt David Gutensohn im Kapitel "Kein Mensch braucht Bullshit-Jobs".
Eine klare Vortellung, wie der hier als sinnvoll und letztlich auch ökologisch notwendig beschriebene Systemwechsel vonstatten gehen soll, vermittelt das Buch allerdings nicht.
Wohlstand neu denken: Lebenszeit statt Frust-Shoppen
Es werden verschiedene Modelle eines bedingungslosen Grundeinkommens vorgestellt, über die Gewerkschaftslinke nächtelang diskutieren könnten. Die Frage, wie die Macht der Banken und Konzerne tatsächlich gebrochen werden könnte, bleibt aber unbeantwortet. Worte wie Vergesellschaftung oder Enteignung kommen nicht vor.
Die Stärke des Buches ist eine andere: Letztendlich geht es darum, Wohlstand und Lebensqualität neu zu definieren. Mehr Zeitwohlstand, weniger überflüssige Produkte, die ohne entsprechende Werbung kein Mensch vermissen würde, die aber beim Online-Shopping für kurzfristige Ersatzbefriedigung sorgen, wenn für Sozialkontakte zu wenig Zeit übrig ist.
Diese Botschaft ist wichtig, um überhaupt Mehrheiten davon zu überzeugen, dass ein ökologisch nachhaltiges Leben nicht vor allem Verzicht bedeutet, sondern durchaus ein besseres Leben sein kann.
David Gutensohn: Generation Anspruch: Arbeit ist nicht alles – und das ist auch gut so
Oekom-Verlag, 6. Februar 2024
ISBN: 978-3-98726-066-7
Softcover, 192 Seiten