Arena Libanon: Wer sticht wen?

Terror, Transaktionen und ein merkwürdiges Tribunal

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Die Bildung des internationalen Tribunals steht bevor. Frankreich, bislang einer seiner stärksten Antreiber, steuert jetzt möglicherweise dagegen. Unterdessen gesteht ein Mitglied der Hariri-Familie Geldzahlungen an eine Terrorgruppierung ein.

Die Frist zum 10. Juni ist abgelaufen. Libanons Parlament einigte sich, wie erwartet, nicht zum internationalen Tribunal, das die seit dem 1. Oktober 2004 im Land erfolgten Attentate auf libanesische Prominente – allen voran das Attentat auf ex-Premier Rafik al-Hariri vom 14. Februar 2005 (vgl. Wieder alles offen) – strafrechtlich verfolgen will. Somit treten die Ende Mai im UN-Sicherheitsrat angenommene Resolution 1757 und mit ihr das Kapitel 7 der UN-Charta in Kraft: Das internationale Tribunal wird ohne Parlamentsvotum, nur mit Unterstützung des libanesischen Rumpfkabinetts unter Ministerpräsident Fouad Siniora errichtet. Die UN-Botschafter Chinas und Russlands, Wang Guangya und Witali Tschurkin, hatten vor 1757 gewarnt: die Resolution stelle nicht nur eine Einmischung in innerlibanesische Angelegenheiten dar, sie vertiefe auch die Spaltung zwischen Regierung und Opposition. Doch ist nicht gerade das beabsichtigt? Und zwar nicht erst seit 1757?

Das Gespenst namens „Tribunal“ - eine Rekapitulation

Inwiefern das Tribunal seinen eigentlichen Zweck, eine „unabhängige“ Rechtssprechung, erfüllt, wird sich zeigen. Noch ehe es aber geschaffen wurde, suchte es den Libanon phantomartig heim und half, die ohnedies fragile Staatssouveränität aufzuweichen und die politische Polarisierung voranzutreiben. Die Etappen im Überblick:

  1. Am 7. April 2005 kommen der UN-Sicherheitsrat und die libanesische Regierung überein, eine unabhängige internationale Sonderermittlungskommission zu errichten. Wie die Resolution 1559 festhält, soll diese den lokalen Behörden bei der Aufklärung des Hariri-Attentas assistieren. Zugleich aber vermerkt der Text, dass gemäß des Berichts von UN-Beobachtern „das libanesische Untersuchungsverfahren schwere Mängel aufweist und weder über die Kapazität noch über das Engagement verfügt“, den Mord aufzuklären. Infolge sei eine internationale und unabhängige Untersuchung notwendig, deren Dauer zunächst auf drei Monate befristet ist.
  2. Am 3. Juli 2005 ist es vorbei mit der „strikten Achtung der Souveränität (…) und politischen Unabhängigkeit Libanons unter der alleinigen und ausschließlichen Hoheitsgewalt der Regierung Libanons“, die 1595 noch gefordert hatte (und die spätere Resolutionen floskelhaft wiederholen). De facto stimmen die UN und Beirut überein, dass die internationale Kommission das Ruder übernimmt. Die lokalen Behörden assistieren somit fortan ihr und nicht umgekehrt.
  3. Eine Steigerung erwirkt die Resolution 1636 vom Oktober 2005 : angesichts dessen, dass das Verbrechen – synchron zu George W. Bushs Terminologie – eine „terroristische Handlung“ darstelle, die den „Weltfrieden und die internationale Sicherheit“ bedrohe, wurde erstmals das Kapitel 7 der UN-Charta, das auch mögliche militärische Schritte vorsieht, ins Spiel gebracht. Statt einer zeitlichen Befristung beschließt der Sicherheitsrat, „mit der Angelegenheit befasst zu bleiben“.
  4. Resolution 1644 vom 15. Dezember 2005 setzt noch eins drauf: erstmals ist schwarz auf weiß vom „Gerichtshof mit internationalem Charakter“ zu lesen. Das, was Untersuchungskommission und Tribunal absichern sollten –die Unabhängigkeit und Souveränität des Libanon – sind somit in die Hände der „internationalen Gemeinschaft“ übergegangen. Demnach würde Souveränität nur Freiheit von syrischen Interventionen bedeuten, westliche oder prowestliche Eingriffe stünden auf einem anderen Blatt.
  5. Am 29. März 2006 wird die, von Beirut eingebrachte und vom Sicherheitsrat begrüßte Idee in der Resolution 1664 halb-konkretisiert: UN-Generalsekretär Kofi Annan soll mit der libanesischen Regierung ein Abkommen aushandeln, das zur Aufstellung eines internationalen Gerichts führen soll. Nur der Zeitpunkt bleibt ungenannt. Er hinge von den weiteren Ermittlungsergebnissen ab. Neun Monate später war Untersuchungsleiter Serge Brammertz offensichtlich noch nicht ausreichend vorangekommen – jedenfalls "hoffte" der Europäische Rat nach wie vor, „dass die noch verbleibenden Schritte zur Errichtung des Gerichtshofs rasch erfolgen.“ Immer offensichtlicher wurde: das Rechtssprechungsorgan dient als Damoklesschwert gegen Syrien und die libanesische Regierungsopposition, angeführt von der „Freien Patriotischen Bewegung“ General Michel Aouns und der Hizbollah.
  6. Deren Minister sowie ein Minister der gleichfalls schiitischen „Amal“-Bewegung treten Mitte November zurück, nachdem die Siniora-Regierung die Bildung eines internationalen Tribunals begrüßt hatte, ohne – wie von der Opposition unermüdlich gefordert - das Abkommen zuerst auf Unterwanderungsversuche äußerer Mächte überprüft zu haben. Das Kräftemessen ist offiziell eingeläutet.

„Menschheitsverbrechen“: Eine Definitionsfrage

Wie Géraud de Geouffre de La Pradelle, Antoine Korkmaz und Rafaëlle Maison in ihrem überaus interessanten Artikel „Wahrheitsfindung im Libanon“ bemerken , konzentrierten sich bisherige UN-Tribunale auf Verbrechen gegen die Menschheit, etwa der ethnischen Säuberung in ex-Yugoslawien oder dem Genozid in Ruanda. Das Libanon-Tribunal sei somit ein Präzedenzfall: einzig aufgrund einer Entscheidung des Sicherheitsrates gewänne der Tod von Einzelpersonen plötzlich „internationales“ Gewicht. „Mit dem Tribunal machen die Vereinten Nationen deutlich, wie sehr ihnen daran gelegen ist, dass die Attentate auf libanesische Persönlichkeiten aufgeklärt werden“, schreiben die Autoren und fragen:

Aber wie steht es um die mehr als 1000 libanesischen und etwa 40 israelischen Zivilisten, die während des Libanonkrieges vom vergangenen Sommer ums Leben kamen? Die Toten und Verletzten, die Vertreibungen und Zerstörungen waren gleichfalls Folge schwerer Verstöße gegen die Genfer Konvention von 1949 und das Zusatzprotokoll von 1977 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte. Doch diese Verstöße wurden - im Gegensatz zum Mordfall Hariri - niemals in einer Resolution des Sicherheitsrats erwähnt oder als Kriegsverbrechen verurteilt.

Eine andere Überlegung, die die Autoren in der ursprünglichen französischen Version des Artikels anstellen , bleibt in der deutschen Übersetzung außen vor: „Auf politischer Ebene gibt es zu denken, dass bestimmte Todesfälle in den Augen der ‚internationalen Gemeinschaft’ wichtiger als andere“ seien.

Festzuhalten bleibt, dass ausgerechnet das Tribunal half, den Libanon im Zustand der Rechtlosigkeit zu halten: während das Regierungslager der Opposition den Kollektivrücktritt vom November 2006 als gezieltes Störmanöver anlastet und Präsident Emile Lahoud, dessen Amtszeit auf syrischen Druck hin verlängert wurde, die Legitimität abspricht, fordert die Opposition den Rücktritt der Regierung, da diese die schiitische Bevölkerung nicht ausreichend repräsentiere und nur als unglaubwürdiger Handlanger des Westens agiere. Das Resultat: die juristische wie politische Totallähmung.

Hariri-Schwester tanzt Ringelreihen um Al-Qaida

Eine innerlibanesische Bewegung darf angesichts solcher Verhärtung ausgeschlossen werden. Bewegung, welcher Art auch immer, scheinen nur mehr auswärtige Akteure zu bewirken. Seit neuestem sind es die vorwiegend nichtlibanesischen Mitglieder der „Fatah al-Islam“ im Flüchtlingslager „Nahr el-Bared“. Zwar ist unklar, wie weit nach außen ihre Verknüpfungen reichen, bis in das nahe der südlibanesischen Stadt Sidon gelegene Flüchtlingslager „Ain el-Helweh“ tun sie es anscheinend allemal.

Dort lieferte sich die Terrorgruppierung „Jund al-Scham“ Anfang des Monats einen Schusswechsel mit der libanesischen Armee. Auslöser soll laut "Le Monde" der „Verdacht“ von „Jund al-Scham“ gewesen sein, dass einige ihrer Mitglieder in den Gefechten von „Nahr el-Bared“ umgekommen seien.

Dies würde für eine Verflechtung zwischen den beiden Gruppierungen sprechen. Ausgeweitet wird das Gestrüpp nun durch die Offenbarungen der Parlamentsabgeordneten Bahia al-Hariri, die zugleich die Schwester des ermordeten Rafik al-Hariri ist: Gegenüber „Al-Jazeera“ und „Al-Arabiyya“ erklärte sie Anfang Juni, „vor einigen Monaten einmal“ „Jund-al-Scham“ Geld gezahlt zu haben. Es habe sich jedoch lediglich um eine „Entschädigung“ gehandelt, damit die Gruppierung Sidon, ihren Wahlkreis und eine Hochburg von Libanons Sunniten, verlasse.

Von „Fatah al-Islam“, so al-Hariris weitere Versicherungen – diesmal telefonisch gegenüber dem Druzenführer und Siniora-Verbündeten Walid Jumbladt – unterscheide sich „Jund al-Scham“ jedoch.

Bemerkenswert an all dem ist zunächst, dass (mindestens?) ein Mitglied der Hariri-Familie eine Terrorgruppierung finanziert, die

1)Al-Qaida-infiltriert scheint: der Name „Jund al-Scham“ tauchte erstmals 1999 auf, als sich in einem afghanischen Ausbildungslager der Al-Qaida Araber unterschiedlicher Herkunft unter der Führung von Abu Mousab Al-Zarqawi zusammenschlossen . Auch gilt „Jund al-Scham“ als Ableger von „Asbat al-Ansar“, einer Tochterzelle der Al-Qaida.

2)die Hizbollah – ebenso wie die Hamas - zu Ungläubigen erklärt und unter anderem mit der Ermordung der höchsten Hizbollah-Funktionäre, Generalsekretär Hassan Nasrallah und dessen Stellvertreter Naim Qassim, gedroht hat.

3)sich zu drei Bombenattentaten bekannt hat, wobei es sich mutmaßlich um jene Explosionen in von Christen bewohnten Gegenden im März 2005 handelt, bei denen niemand zu schaden kam, die aber offensichtlich dazu dienen sollten, die anti-syrische Stimmung im Libanon anzuheizen.

Drei Fakten, die den Enthüllungen in Seymour Hershs Artikel "The Redirection" nicht widersprechen. Darin wurde, im Kontext einer Unterstützung von Jihadisten im Libanon, zwecks Schaffung eines Instruments gegen die Hizbollah, zwar nicht die Hariri-Familie genannt, sondern das Trio Siniora-Regierung, USA und Saudi-Arabien – jedoch ist die enge Allianz zwischen den Hariris und Saudi-Arabien bekannt.

Eine völlig bizarre Note erhält Bahia al-Hariris Eingeständnis jedoch dadurch, dass „Jund al-Scham“ auch mit der Ermordung von Detlev Mehlis gedroht hat, dem ersten Leiter der UN-Sonderermittlungskommission. Er galt der Organisation als Agent des Mossad bzw. als israelisches Werkzeug . Somit finanziert die Schwester des Ermordeten (wenn auch angeblich „nur einmal“ und nur zu „Transport-„ bzw. „Entschädigungszwecken“) eine Gruppierung, die mit der Ermordung desjenigen droht, der die Mörder ihres Bruders aufspüren will?

Rumpelstilzchen Sarkozy?

Dem Schaukampf schließt sich nun noch ein anderer Auswärtiger an: der erzkonservative Nicolas Sarkozy scheint in jeder Hinsicht einen Schlussstrich unter die Ära seines Vorgängers (und intimen Hariri-Freundes) Jacques Chirac ziehen zu wollen. Der Aufbruch in die post-Chirac-Zeit impliziere auch den in die post-Tribunal-Zeit. Dies zumindest suggeriert Bassam Tayaras Artikel.

Der Pariser Auslandskorrespondent der libanesischen Tageszeitung „Al-Akhbar“ berichtet am 5. Juni von einem Schreiben Sarkozys an Syriens Präsident Baschar al-Assad nach dessen „Wiederwahl“ Ende Mai. Weder der Inhalt, noch der Umstand, dass ein solches Schreiben existiere, seien nach außen gedrungen, was der üblichen diplomatischen Etikette zuwider liefe. Hohe französische Diplomatenkreise hätten jedoch gegenüber dem Journalisten verlauten lassen, dass sich eine Wende in Frankreichs bzw. Jacques Chiracs letzthin aggressiver, mit der Bush-Administration konform laufender Politik gegenüber dem Nahen Osten anbahne.

Unter anderem solle, Tayara zufolge, Qatar, das stets um ein politisches Gegengewicht zur einflussreichen prowestlichen Regionalmacht Saudi-Arabien bemüht ist, als Mediator im Libanon fungieren. Der Umstand, dass Frankreichs neuer Außenminister Bernhard Kouchner Ende Mai in Paris General Michel Aoun empfangen habe, habe jedenfalls für Raunen gesorgt und könne als erster Schritt für eine neue Pariser Stoßrichtung gelten. Frankreich lud mittlerweile Repräsentanten aller libanesischen Parteien sowie Vertreter der Zivilgesellschaft zu einem „informellen“ Runden Tisch im Quai d’ Orsay in Paris ein. Er soll noch vor Ende dieses Monats statt finden.