Wieder alles offen

Der Anschlag auf den Politiker und Multimilliardär Hariri wurde zunächst Syrien zugeschrieben, sorgte für den Rückzug der syrischen Truppen aus dem Libanon und leitete die "Zedernrevolution" ein

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Nach dem Waffenstillstand im Libanon geht die Arbeit der UN-Kommission weiter, die über den Anschlag auf Rafik Hariri vom Februar 2005 ermittelt (Syrien wieder im Visier der USA). Am vergangenen Montag übergab der belgische Staatsanwalt Serge Brammertz seinen neuen Untersuchungsbericht UN-Generalsekretär Kofi Annan in New York. Es wurde bestätigt, dass der libanesische Ex-Premierminister einem Selbstmordattentat zum Opfer fiel. Zudem gäbe neue Spuren, denen nachgegangen werde müsse. Als Täter kämen sowohl einzelne Gruppen als auch Individuen in Frage, „mit regionalen und internationalen Interessen, die an politische, ökonomische, finanzielle und geschäftliche Faktoren gekoppelt sind“.

Offensichtlich ist nun die Akte „Hariri“ wieder in alle Richtungen offen. Der vorherige deutsche Ermittler Detlev Mehlis hatte sich auf die Alleintäterschaft Syriens festgelegt. Sein Urteil stützte sich mehr auf Vermutungen denn auf Fakten und Beweisen, die vor einem ordentlichen Gericht Bestand gehabt hätten ("High-Noon" auf später vertagt).

Im neuen Bericht von Serge Brammertz wird Syrien diesmal eine „generelle Kooperation“ bescheinigt. Das alles dürfte den beiden Galionsfiguren der libanesischen Regierungskoalition, Drusenführer Walid Jumblatt und Milliardär Saad Hariri, dem Chef der Zukunftsbewegung, wenig gefallen. Seit dem Anschlag am 14. Februar 2005 haben sie keine Gelegenheit ausgelassen, Syrien für die Ermordung Rafik Hariris und auch für die Attentatsserie auf anti-syrische Journalisten und Politiker verantwortlich zu machen, die in den Monaten danach folgte. Die anti-syrische Haltung ist für Jumblatt und Hariri zu einem entscheidenden Bestandteil ihres politischen Programms geworden. Vor wenigen Tagen forderte Jumblatt den Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah auf, Syrien nicht weiter zu unterstützen. Erst dann sei man bereit, mit dem „militanten Widerstand“ zu verhandeln. Bis dahin sei die Position klar und deutlich: Hisbollah müsse aufhören, als Staat im Staate zu agieren und seine Waffen abgeben.

Nach dem von Hisbollah erklärten „göttlichen Sieg“ über Israel hat die anti-syrische Allianz etwas von ihrer Popularität eingebüßt. Hisbollah arbeitet am Wiederaufbau, zahlt Gelder an Flüchtlinge aus, die ihr Wohnung oder ihr Haus verloren haben und stellt medizinische Versorgung bereit. Wie üblich hinken Staat und Regierung hinterher.

Der UN-Report hätte das angekratzte Image des anti-syrischen Bündnis etwas aufpäppeln können, falls er tatsächlich so ausgefallen wäre, wie es die saudi-arabische Zeitung Okaz vor wenigen Tagen prophezeite. Es hätte Details eines Tonbandes mit einem Statement des ehemaligen syrischen Innenminister über die Planung des Hariri-Mords geben sollen; die Namen von Tatbeteiligten, darunter der Schwager vom syrischen Präsident Bashar Assad und dem ehemaligen syrischen Sicherheitschef, sowie von einem Iraker, der die Bombe im Mitsubishi Kleinlaster gezündet habe.

Nun kam jedoch wenig Konkretes und vor allen Dingen keine Namen und keine Verdächtigen. Stattdessen wurde bestätigt, dass es ein Selbstmordattentat war. Das hatte die anti-syrischen Allianz von Beginn an als propagandistische Ablenkungskampagne pro-syrischer Kräfte abgetan. Man bevorzugte die Version einer Bombe im Tunnel. Denn der hätte nur mit dem Wissen der damals noch amtierenden pro-syrischen Behörden gegraben werden können - somit ein Beweis für eine Beteiligung Syriens. Obendrein ermittelt Serge Brammertz auf der Suche nach Tätern nun in alle Richtungen, die nicht ausschließlich nach Damaskus in den Präsidentenpalast führen. Für die anti-syrische Front enttäuschend, die nun auf den Abschlussbericht wartet.

Bis soweit ist, scheint der belgische Staatsanwalt fest entschlossen, den vergessenen Spuren seines deutschen Vorgängers Detlev Mehlis nachzugehen. Darunter Telefongespräche in und aus 17 Ländern. Und das, obwohl Detlev Mehlis bereits die Telefonregister der beiden libanesischen Kommunikationsfirmen durchgeforstet hatte und dabei auf verfängliche Gespräche zwischen syrischen und libanesischen Geheimdienstlern gestoßen war. Hat der deutsche Staatsanwalt nicht gründlich genug gearbeitet, könnte man fragen. Aber die Zahl von rund 5 Millionen Telefonverbindungen spricht Bände. Trotzdem, Serge Brammertz scheint in diesem schier unübersehbaren Nummerrwust offensichtlich noch etwas Aufschlussreiches gefunden zu haben. Selbst am Tatort des Verbrechens und in der unmittelbaren Umgebung sollen neue Hinweise gefunden worden sein. Obwohl für die bisherigen Ermittlungen mehrere internationale, forensische Spezialisten eingeflogen waren.

32 Körperteile des 20-25-jährigen Attentäters sind identifiziert worden. Er hatte entweder im oder vor dem Auto die 1.800 Kilogramm schwere Bombe gezündet. Detlev Mehlis berichtete nur, dass man keine DNA von Abu Adass gefunden habe, einem jungen Palästinenser, der sich unmittelbar nach dem Anschlag in einem Bekennervideo einer bis dato unbekannten islamistischen Gruppe als Täter präsentierte. Der 24-Jährige lebte in Tarik Jadida, einem armen Viertel von Beirut und ist seit dem 15. Januar 2005 spurlos verschwunden.

Serge Brammertz will nun die Ermittlungen nach Abu Adass fortsetzen und seine mögliche Tatbeteiligung klären. „Obwohl sein Täterprofil“, so Brammertz, „nicht bezeichnend ist. Er hat mehr akademische, intellektuelle Interessen und weniger technische Vorlieben, die Terroristen gewöhnlich aufweisen.“ Ein Grund für die Neuaufnahme des Falles „Abu Adass“ dürften die Erkenntnisse sein, die die Entdeckung eines israelischen Spionagerings Mitte Juni dieses Jahres ans Tageslicht brachte. Das Spionagenetzwerk war nach der Ermordung Mahmoud Majzoubs, einem Mitglied des Islamischen Dschihad, und seinem Bruder Nidal aufgeflogen. Der Ring existierte bereits seit 1994, auf sein Konto gingen auch Attentate auf zwei Hisbollah-Funktionäre im Jahr 1999 und 2003, sowie auf den Führungskader der palästinensischen PFLP-GC 2002. Bei einem der sechs Verhafteten, Mahmoud Rafeh, einem pensionierten Polizeibeamten, wurden Sprengstoff, Zünder, israelische Munition, Computer und gefälschte Ausweise gefunden. Rafeh gab zu, 2005 mehrfach Bomben innerhalb des Libanons transportiert zu haben. Unbekannt ist noch, wohin er sie brachte, was mit ihnen geschah und wo sie verlieben sind.

Der Chef der zweiten enttarnten Mossad-Spionagezelle, Hussein Khattab, ist immer noch flüchtig. Eigentlich war er ein Mitglied der PFLP-CG, die Israel radikal bekämpft. Über Hussein Khattab lässt sich eine Verbindung der Mossad-Gruppe mit Abu Adass, dem vermeintlichen Hariri-Attentäter, und mit Al-Qaida herstellen. Husseins Bruder ist nämlich Sheik Jamal Khattab, der in der Al Nour Moschee des palästinensischen Flüchtlingslagers Ain Helweh im Südlibanon residiert. Jamal Khattab ist seit Jahren bekannt als geistiger Führer von verschiedenen militanten islamistischen Organisationen. Sein befreundeter Kollege ist Sheik Abu Obeida, eine Führungsfigur der Terroristengruppen „Jund al Sham“ und „Asbat al Ansar“. Abu Adass soll diesen Sheik mehrfach in Ain Helweh besucht haben, wie auch der erste UN-Ermittler, Detlev Mehlis, in einem seiner Berichte festhielt. Mehlis wies dem jedoch wenig Bedeutung zu, folgte aber einem anderen Sachverhalt ebenso wenig.

„Die libanesischen Behörden fanden heraus“, so schrieb Mehlis damals in seinem Bericht, „dass Herr Abu Adass im Sommer 2004 in einem Computergeschäft angestellt war, das zum Teil Sheik Ahmed Al-Sani gehörte, der ein Mitglied des Netzwerks von Ahmed Mikati und Ismail Al Katib war.“ Ahmend Mikati war Mitglied in der radikalen Dinniyeh-Gruppe, die 2004 ein Attentat auf die italienische Botschaft in Beirut plante. Mikati sitzt deswegen im Gefängnis. Führer der Gruppe war Bassam Ahmad al-Kani, der in Afghanistan persönlich an der Seite Bin Ladens gekämpft hatte und religiöser Lehrer von Sheik Abu Obeida in Ain Helweh-Camp war.

Detlev Mehlis ermittelte in dieser Richtung nicht weiter. Man kann kaum glauben, dass sich der Staatsanwalt von der Todesdrohung der Terrorgruppe „Jund al-Sham“ beeindrucken ließ. Anfang Oktober 2005 hatte sie angekündigt, den damaligen UN-Chefermittler sowie Mitglieder der libanesischen Regierung zu ermorden. „Jund al-Sham“ hatte sich zu drei Bombenattentate bekannt, bei denen im christlichen Viertel Beiruts drei Menschen getötet und drei verletzt wurden. Die Anschläge gehörten zur Serie von insgesamt 14 Bomben, die in den Monaten nach der Ermordung von Rafik Hariri gelegt worden waren. Serge Brammertz will nun auch diese Attentatreihe unter die Lupe nehmen.