Aufmerksamkeit ist Bedingung für die Beschäftigung mit ihr

Zum Autologieproblem der Aufmerksamkeitswissenschaftler

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Das Nachdenken über Aufmerksamkeit ist in dreierlei Hinsicht ziemlich frustrierend. Der Versuch, Aussagen über den Zusammenhang von Aufmerksamkeit in psychischen Systemen und beobachtbarem Verhalten zu formulieren kommt der Aufgabe gleich, Prognosen über das Wetter in drei Wochen zu treffen. Verantwortlich dafür zeichnen sich neben der Unmöglichkeit einer präzisen Zustandsbeschreibung psychischer Systeme besonders deren deterministisch-chaotische Organisationsprinzipien. Der Perspektivenwechsel auf soziale Systeme führt in ähnliche Sackgassen, aus ähnlichen Gründen und mit potenzierter Vehemenz.

Immerhin sind bei den Fragen nach intersystemischer Aufmerksamkeitskopplung gleich mehrere Systeme der erwähnten Art beteiligt. Teilschuld an den allseits beobachtbaren korrelativen Aporien hat sicherlich das Fehlen eines diskursunabhängigen Aufmerksamkeitskonzeptes. Zwar ist man sich mit William James allerorts einig, dass jeder weiß, was Aufmerksamkeit ist. Ob dieses Wissen aber kollektivfähig ist, wird selten explizit thematisiert und das aus gutem Grund: Schließlich erwartet den Aufmerksamkeitsforscher abseits der makroskopischen Relationsuniversalien Ökonomie, Währung und Medium die dritte und gravierendste Diskursfrustration. Der kleinste gemeinsame Nenner interdisziplinärer Aufmerksamkeitskonzepte scheint zu sein, dass Aufmerksamkeit Grundbedingung für Bewusstsein, Kommunikation und Interaktion ist, also eine Form prozessualer Selektivität, die erst etwas zu etwas und somit Differenzmanagement möglich macht. Aufmerksamkeit ist also auch Bedingung für die Beschäftigung mit ihr und frustriert uns durch das Autologieproblem.

Warum aber führt nun gerade die wissenschaftliche Aufmerksamkeit für die Aufmerksamkeit zum Autologieproblem und warum reden wir überhaupt noch von Aufmerksamkeit und nicht einfach von Selektivität oder Irritabilität? Immerhin scheint Selektivität die grundlegendste Eigenschaft von Aufmerksamkeitsprozessen zu sein und Irritabilität basalstes Merkmal operativ geschlossener Systeme.

Vielleicht beantwortet sich die erste Frage durch die Beschäftigung mit der zweiten. Prozessual gesehen unterscheidet sich die Aufmerksamkeit eines Systems nicht von seiner Eigenschaft, irritiert werden zu können und seine Umwelt selektiv zu beobachten. Es geht jeweils um die spezifische Generierung und Bearbeitung von Unsicherheiten bezüglich der Umwelt und der eigenen Zustände. Aber während Irritabilität die Bedingung von Möglichkeit und Selektivität die Bearbeitung von Möglichkeit von der prozessualen Seite her beschreiben, verweist Aufmerksamkeit immer auch auf die in einem System realisierten konkreten Entscheidungen. Das bedeutet, dass von Aufmerksamkeit immer nur nach bereits vollzogener Irritation und Selektion und zwar nur in Form ganz konkreter Zustandsbeschreibungen gesprochen werden kann. Aufmerksamkeitsfähig sind also wahrscheinlich ganze Systemtypen, aufmerksam aber immer nur konkrete Systeme.

Weiter lässt sich feststellen, dass (im Gegensatz zu Irritabilität und Selektivität) von Aufmerksamkeit nur bei bestimmten Systemtypen die Rede ist. Dazu gehören besonders kognitiv-emotionale und soziale Systeme. Auffällig ist nun, dass bei diesen Systemtypen Aufmerksamkeit nur im Rahmen reflexiver Strukturen (Selbst-Bewusstsein, Erwartungserwartungen, Unterstellungsunterstellungen) beobachtet werden kann. Aufmerksamkeiten als realisierte Unsicherheitsbewältigungen sind somit beschreibbar als Resultate stark schematisierter System-Umwelt-Kopplungen.

Zu Recht verweist Guido Zurstiege darauf, dass Aufmerksamkeiten immer semantisch aufgeladen sind, müssen sie doch als Resultat der jeweils prozessierten Systemsemantik verstanden werden (Aufmerksamkeit - die Unwahrscheinlichkeit des Unvermeidbaren). Ob jemand aufmerksam ist, kann immer nur mit Rücksicht auf die jeweiligen Erwartungsstrukturen entschieden werden, und die variieren eben je nach Bedeutungszusammenhang. Das Autologieproblem der Aufmerksamkeitswissenschaftler begründet sich also nicht zuletzt in einer Semantik des Problemlösens durch Beobachtungen zweiter Ordnung und einer dem wissenschaftlichen Problemlösen inhärenten Kommunikabilität. In der Wissenschaft gibt es eben nur wissenschaftliche Aufmerksamkeit für die Aufmerksamkeit und die realisiert sich in Kommunikation und kann nur über Kommunikation beobachtet werden. Auswegloser kann Selbstbezüglichkeit kaum sein.

Welche Vorteile bringt es aber, Aufmerksamkeiten an konkrete Bedeutungszusammenhänge rückzubinden? Es lässt sich z. B. erklären, warum auf Särgen nicht geworben wird, und warum, wenn dann doch mit dem Tod geworben wird (siehe Toscani), die Ethikdiskurse Hochkonjunktur haben (Wie viele Schocks verkraftet die Welt?). Es geht eben nicht darum, vergegenständlichte Aufmerksamkeitsquanten zu tauschen, sondern Semantiken zu koppeln. Und das ist mit all den daraus folgenden Verwirrungen nur möglich, weil für semantische Operationen sogenannte empirische Prozessorte sensu S. J. Schmidt notwendig sind.

Auch wenn es dem Makroperspektivist eher unangenehm ist, über Situationen, Individuen, Personen oder Körper zu sprechen: Kein soziales System kommt ohne die handelnden Aktanten aus, die seine Semantik kommunikativ generieren und stabilisieren. Mit dem Re-entry von Menschen in soziale Systeme geht sicherlich ein Stück analytische Reinheit verloren, weil wir uns alle tagtäglich in einer Vielzahl von Bedeutungszusammenhängen befinden, die alle auf der gleichen Plattform laufen, makroskopisch aber diskret sind. Kognitiv-emotionale Systeme als empirische Prozessorte sind also Systemkonglomerate, soziale Systeme temporalisierte Kollektivfiktionen.

Der Richter kauft nach der Stadtratssitzung Brötchen und betet mit seiner Familie vor dem Essen. Damit hat die Aufmerksamkeit ein Metaproblem: Wir müssen uns nicht nur ständig dafür entscheiden, schematisierte Aufmerksamkeiten innerhalb der aktuellen Semantik zu produzieren, bisweilen müssen wir zwischen ganzen Semantiken entscheiden. Der neuropsychologische Begriff kompetitiver Aufmerksamkeitssysteme lässt sich also durchaus in das Konzept einer Meta-Aufmerksamkeit integrieren, mit der das reflexive Bewusstsein die hausgemachte Unsicherheit bezüglich der Bedeutungszusammenhänge bearbeitet. Und wahrscheinlich hätten wir erst dann ein Ressourcenproblem, wenn wir uns nicht auf die sozialisatorisch erworbenen Schemata verlassen könnten, die solche Entscheidungen orientieren.

Wir können erwarten und unterstellen, dass unsere Semantikpartner mit der Trennung zwischen Programm und Werbung, Nachricht und Kommentar, Kirche und Staat, Exekutive, Legislative und Judikative, Privatem und Öffentlichem, beerdigen und verkaufen etc. operieren - ob nun grenzziehend oder grenzüberschreitend. Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps. An dieser Stelle sollte deutlich geworden sein, dass als Kandidat für die Bereitstellung, Kopplung und Transformation von Unterscheidungsgefügen nur Kultur in Frage kommt.

Eine so gewählte kulturelle Perspektive auf Aufmerksamkeiten leistet dreifache Systematisierungshilfe. Zum einen lassen sich kulturelle Semantiken danach befragen, welche Formen von Aufmerksamkeiten (räumlich, zeitlich, medial, exklusiv, usw.) in ihnen möglich sind. Zum anderen kann beobachtet werden, welche Kopplungen die prozessierten Unterscheidungsgefüge zulassen, also welche ethischen und rechtlichen Normierungen eine Gesellschaft für einen bestimmten Semantikbereich bereithält. Schließlich lässt sich beobachten, inwiefern eine Semantik Metaaufmerksamkeit zulässt, also die Thematisierung seiner eigenen Aufmerksamkeitsschematisierungen.

Meistens passiert das in Fällen der Systemkorruption: Wenn Polizisten und Schiedsrichter sich doch kaufen lassen, katholische Priester doch heiraten, Ehepartner fremdgehen, Kartelle auffliegen und die eigenen Kinder stehlen. Je nach dem, wie konservativ die jeweilige Teilkultur ist, hat das für die beteiligten Semantikpartner entsprechende Folgen, bis hin zu Scheidung und Ex-Kommunizierung. Am Progressivsten aber ist es, wenn die eigene Semantik quasi autoimmun auf Meta-Aufmerksamkeit basiert. Wer sich also für das Thematisieren des Thematisierens entscheidet, hat die Wahl zwischen Prominenz und Autologie.