Balanceakt im hohen Norden

Nach der Landtagswahl in Schleswig-Holstein könnte Rot-Grün mit dem SSW einen Regierungswechsel einleiten. Das Dreierbündnis hätte allerdings nur einen Sitz mehr als die Opposition

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Schwarz-Gelb ist auch zwischen Nord- und Ostsee Geschichte, doch die selbsternannten Erben kommen nicht recht zum Zug. Rot-Grün kann nach dem vorläufigen Endergebnis der Landtagswahl in Schleswig-Holstein keine eigene Mehrheit bilden. Für eine "Dänenampel" mit dem SSW, die SPD-Spitzenkandidat Torsten Albig favorisiert und zu der es unter bundespolitischen SPD-Gesichtspunkten kaum eine Alternative gibt, würde es allerdings reichen. Auch die klassische Ampel-, eine Jamaika- oder die Große Koalition hätten eine Mehrheit im Kieler Landtag.

Die Piratenpartei ist der eigentliche Wahlsieger im hohen Norden. Das Team um Spitzenkandidat Torge Schmidt legte im Vergleich zur Landtagswahl 2009 stolze 6,4 Prozent zu und zieht nun mit sechs Abgeordneten in den Kieler Landtag ein.

Der Erfolg ist umso erstaunlicher als die Piraten diesmal nicht als sympathische Außenseiter belächelt, sondern von SPD und Grünen als Gefahr für das Projekt Regierungswechsel über Wochen attackiert wurden. Ende April begann dann die Linke, ihr an sich lobenswertes Engagement gegen Rechtsextremismus auf dem Rücken der Piraten auszutragen.

Dazu gesellten sich auch in Schleswig-Holstein diverse Kommunikationsprobleme, Schwierigkeiten im Umgang mit Parteifreunden, die am erweiterten rechten Rand besser aufgehoben wären, und manches Missgeschick, das Politikprofis, die seit mehreren Legislaturperioden im Geschäft sind, möglicherweise nicht passiert wäre.

Mit schnellen, transparenten und diskussionsfreudigen Reaktionen konnten viele Stolpersteine aus dem Weg geräumt werden. Der Verdacht, dass die noch halbwegs unverbrauchten Politneulinge gar keine überzeugende Systemalternative darstellen, sondern die schnellstmögliche Anpassung an die normative Kraft des Faktischen suchen, schwelt allerdings weiter (Die Nenafizierung der Piraten).

Die Nord-Piraten ziehen nun mit einem gehörigen Vertrauensvorschuss in den Landtag, der durch überzeugende parlamentarische Arbeit gerechtfertigt werden muss. Wenn sich die Partei in manchen Punkten nicht auch selbst ändert, wird es kaum möglich sein, die aktuellen Ergebnisse dauerhaft zu bestätigen.

Auf der Suche nach Profil

"Die Partei braucht ein klareres konservatives und werteorientiertes Grundprofil", meinte der neue Hoffnungsträger der schleswig-holsteinischen CDU im Sommer 2010. Ein Jahr später stolperte Christian von Boetticher über seine nicht zwingend konservative Lolita-Affäre und machte den Weg für Jost de Jager frei, der eine Rückkehr zu den politischen Sachthemen einleitete.

Nach dem Abschied des amtsmüden Ministerpräsidenten Peter Harry Carstensen und dem imageschädigen Intermezzo des altadeligen Hobby-Jetsetters von Boetticher punktete de Jager mit erhöhter Solidität, auch wenn der Ton zwischen Regierung und Opposition in den letzten Tagen vor dem Urnengang merklich rauer wurde.

Trotzdem gelang es dem 47-Jährigen, der das schlechteste Wahlergebnis seit Jahrzehnten als Erfolg verkaufen musste, nur selten, überzeugende Akzente zu setzen und sich nachhaltig für das Amt des Ministerpräsidenten zu empfehlen. Sein Werbesport strahlte gepflegte Langeweile aus, und die Plakate der Union, auf denen "Bessere Bildung", "100% erneuerbare Energien", "Solide Finanzen", "Arbeitsplätze" oder "Verkehrswege ausbauen" – jeweils "Mit der CDU" - versprochen wurde, waren ebenfalls nicht dazu angetan, die Blicke potenzieller Wähler vom schleswig-holsteinischen Frühling abzulenken. Zahlreiche Wählerinnen und Wähler dürften sich beispielsweise gefragt haben, warum ausgerechnet die Protagonisten, die eines der undurchsichtigsten Schulsysteme in ganz Deutschland zusammenbastelten, noch einmal für einen Regierungsauftrag warben, um "Bessere Bildung" durchzusetzen.

Allerdings befand sich die CDU zwischen Nord- und Ostsee auch in einer vielfachen Zwickmühle. Sie musste nicht nur den möglichen Untergang ihres bisherigen Koalitionspartners antizipieren und sich auf eine eventuelle Zusammenarbeit mit der SPD einstellen, sondern überdies darauf achten, die schwarz-grüne Option nicht im Keim zu ersticken.

Auf Abwegen

SPD-Spitzenkandidat Torsten Albig, der sich in einer Mitgliederbefragung gegen den Landes- und Fraktionsvorsitzenden Ralf Stegner durchgesetzt hatte, ließ de Jager schon Wochen vor dem Urnengang weit hinter sich. Bei einer Direktwahl hätte der CDU-Kandidat keine realistische Chance gehabt, doch Albig machte erstaunlich wenig aus diesem Vorteil. Sein Sofortprogramm benannte mit "Bildung", "Kommunen", "Wirtschaft und Finanzen" und "Solidarität" zwar zentrale Aufgaben der Landespolitik, doch außer der Erhöhung des Landesblindengeldes auf 300 € war der Agenda wenig Konkretes zu entnehmen.

Kein Wunder also, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht genau wussten, warum sie Rot-Grün unbedingt auf die Regierungsbank schicken sollten. Statt dieses Informationsdefizit zu beheben, konzentrierte sich der "Kuschler von der Küste" von Woche zu Woche mehr auf die unliebsame Konkurrenz.

Wenn die Piraten zweistellig in den Landtag einziehen sollten, dann gefährdet das Rot-Grün. (…) Rot-Grün bekommen die Bürger nur, wenn sie nicht Piraten wählen. Wer es allerdings für einen Moment schick findet, orange zu wählen, der nimmt in Kauf, dass Schleswig-Holstein dann fünf Jahre von einer großen Koalition regiert wird.

Torsten Albig

Sein größtes Problem im Wahlkampf seien "die Werte der Piraten", gab Albig zu Protokoll: "Das ist ein Konkurrent, von dem man gar nicht weiß, wer er ist und warum er gerade solch einen Erfolg hat."

40 Prozent wollte die SPD im Rahmen der parteieigenen Realitätsverkennung. Am Ende bekam sie gerade einmal 30,4 und war damit noch gut bedient. Viele vermeintlich innovative Ideen wären besser in der Schublade geblieben – wie etwa das pseudophilosophische Mini-Traktat "Wir haben den Mut zu Visionen", die volkstümelnde Wahlinitiative "Mein Lieblingsland" oder die nagelneue Online-Plakatkampagne.

Ob manche dieser Entwürfe als Anregung zur Selbstkritik gedacht waren, ist allerdings nicht überliefert.

Auf Kurs

Der kleine, aber einflussreiche Südschleswigsche Wählerverband, der 1948 als Partei der dänischen Minderheit gegründet wurde, verhilft Rot-Grün nun voraussichtlich trotzdem zum Regierungswechsel. Wenn es nach dem SSW gegangen wäre, hätte man sich den ganzen Aufwand ohnehin sparen können. Der Wählerverband stellte sich bereits 2005 als tolerierender Teil einer "Dänenampel" zur Verfügung und wollte Ministerpräsidentin Heide Simonis damit die Wiederwahl sichern.

Doch der bis heute unentdeckte "Heide-Mörder" war bekanntlich dagegen. Ob er unter anderem Namen eine spontane Wiederauferstehung feiert, bleibt vorerst abzuwarten. Das Programm des Wählerverbandes, das detaillierter formuliert wurde als die Vorhaben mancher Mehrheitsaspiranten, lässt keine ernsthafte Annäherung an die auch in der abgelaufenen Legislaturperiode scharf kritisierte Union erwarten.

Auf der Werbelinie

Die gesamte Werbelinie ist auf Spitzenkandidat Wolfgang Kubicki abgestimmt.

www.fpd-sh.de

Während die CDU aus naheliegenden Gründen kein Interesse daran zeigte, öffentlich über das Privatleben eines Spitzenkandidaten zu diskutieren, ging FDP-Chef Wolfgang Kubicki in die Vollen. Kaum ein Mikrophon war sicher vor dem beispiellos erfolgreichen Juristen, der als (vor)letzter Hoffnungsträger seiner Partei die komplette Palette menschlicher Empfindlichkeiten bediente.

Wenn es nicht um Wachstum, Wachstum oder Wachstum ging, plauderte Kubicki über einen höheren Spitzensteuersatz, sein abgebrochenes Tête-à-tête mit Silvana Koch-Mehrin, die Distanz zur Bundespartei oder über Selbstmordgedanken, die ihn 1993 für zehn Minuten bewegten.

Und was kam sonst noch von der FDP? Ein einsames Plädoyer für das G9-Angebot an Gymnasien, eine bahnbrechende Initiative zur Abschaffung der Sommerzeit, ein eigentümlicher Vorstoß der Jungen Liberalen zur Legalisierung weicher Drogen und ein mysteriöses Zitat von Christopher Vogt, dem Leiter der liberalen Programmkommission.

Realitätsferne Diskussionen über den Wohlfühlindex für die satten Postmaterialisten in unserer Gesellschaft sichern nicht den Wohlstand unserer älterwerdenden Gesellschaft in einer zunehmend globalisierten Welt.

Christopher Vogt

Auf dem Wohlfühlindex?

Nach zwei Jahren in Lüneburg zogen Andrea und Robert 2001 in einen kleinen Ort auf der Schleswig-Holsteinischen Geest an der dänischen Grenze bei Flensburg. Nachdem ihr Haus halbwegs renoviert war und Sohn Nummer vier geboren war, besuchte Robert 2002 eine Kreismitgliederversammlung der Grünen Schleswig-Flensburg und kam als Kreisvorstandssprecher nach Hause.

Das soll wohl bedeuten: Auch bei Bündnis 90/Die Grünen geschehen noch Zeichen und Wunder. Oder: Auch bei Bündnis 90/Die Grünen kann es manchmal schnell gehen. Oder: Auch bei Bündnis 90/Die Grünen bekommen Toptalente umgehend ihre Chance. Oder was auch immer.

Der grüne Spitzenkandidat Robert Habeck war mit renovierungsbedürftigem Haus und vier Kindern offensichtlich kein Fall für den Wohlfühlindex der satten Postmaterialisten, hatte im Wahlkampf aber eine Reihe anderer Probleme.

Trotz des umfangreichen, 80 Seiten starken Programms und ambitionierter Ziele ("300 % erneuerbaren Strom bis 2020") konnten die Bündnisgrünen nicht an die erfolgreichen Wahlkämpfe des Jahres 2011 anknüpfen. Die baden-württembergische Variante Grün-Rot kam von vorneherein nicht in Betracht, Schwarz-Grün wurde von Habeck erst angedacht und dann wieder verworfen, das Thema "erneuerbare Energien" besetzte die Konkurrenz so hartnäckig wie selten, und für die jungen, unverbrauchten Politikangebote gab es diesmal die Piraten.

Dabei wollte Habeck eigentlich selbst frischen Wind in die schleswig-holsteinische Politik bringen. Bis zu jenem "Scheißtag" Mitte April, als die Umfragen in Richtung der vermeintlichen Polit-Amateure kippten. Die Grünen ließen sich trotzdem nicht entmutigen, präsentierten eine "Kieler Erklärung für einen starken ökologischen Landbau" und einen "offenen Brief an die Kirchen und Religionsgemeinschaften". Alles politisch korrekt, versteht sich, aber wenig dynamisch und kein Fall für die große, streitbare Berichterstattung. Die grüne Dauerempörung über den Erfolg der Piraten trieb die Sympathiewerte ebenfalls nicht nach oben. Am Ende konnte man mit dem schleswig-holsteinischen Rekordergebnis von 13,2 Prozent mehr als zufrieden sein.

Auf dem Abstellgleis

Auch die Linkspartei unternahm in der Endphase des Wahlkampfs einen Versuch, das eigene Profil durch Abgrenzung zur Piratenpartei zu schärfen. Doch die akribische Aufarbeitung des tatsächlich zwielichtigen Falles Manfred Vandersee war erkennbar politisch motiviert.

Als die Linke ausgerechnet den bayerischen Verfassungsschutz zum Kronzeugen aufrief und davor warnte, dass "Nationalisten, Judenhasser und krude Verschwörungstheoretiker" in unbekannter Zahl "unter der Flagge der Piraten" ins Parlament einziehen könnten, geriet sie zunehmend selbst in Schieflage.

Dabei fehlte es gerade im hohen Norden nicht an Themen, mit denen die Genossen hätten punkten können. Die schleswig-holsteinische Bundestagsabgeordnete Cornelia Möhring hatte beizeiten darauf hingewiesen.

Schleswig-Holstein, das Land der weiten Horizonte, hat mehr als gute Werbung verdient. Im Moment ist es das Land der niedrigen Löhne. 24 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten arbeiten im Niedriglohnbereich, unter Frauen sind es sogar 41 Prozent. Schleswig-Holstein führt damit die westdeutsche Rangliste der Dumpinglohnländer an. 10.000 Vollzeitbeschäftigte stocken ihren Lohn mit Leistungen nach Hartz IV auf. Das ist unerträglich und unwürdig. Schon heute gelten 15,2 Prozent der Bevölkerung als arm - davon 46,4 Prozent, die Alleinerziehende sind.

Cornelia Möhring

Der Linken gelingt es allerdings immer seltener, die Wähler davon zu überzeugen, dass sie die richtigen Lösungen für Probleme dieser Art hat. Das gilt bekanntlich nicht nur für Schleswig-Holstein, hat aber möglicherweise mit der mangelnden Überzeugungskraft der immer gleichen Parolen zu tun.

Gute Bildung, gute Arbeit, Kommunen ohne Schuldenlast und ein Alter ohne Sorge. Soziale Gerechtigkeit ist unser Ziel.

Die LINKE Schleswig-Holstein

Mit diesen grobmaschig formulierten Zielen konnten sich wohl alle Schleswig-Holsteiner identifizieren. Aber vermutlich glaubten nicht einmal die 2,2 Prozent der eigenen Wähler, dass ein Kreuz bei der Linkspartei automatisch das Ticket für die Insel der Seligen löst.